Da verwandelt sich also, so berichten Homer und Ovid, der Göttervater Zeus in einen Stier, lässt die schöne Europa auf seinen Rücken steigen und schwimmt mit ihr davon. Eine naive Jungfrau, die zuerst ent- und dann verführt wird – das dürfte so ziemlich der einzige Mythos sein, den die Nationen Europas gemeinsam haben. Und es ist leider die Sorte Mythos, die sich nicht für Sonntagsreden eignet, und schon gar nicht dazu, bei Europäern patriotische Gefühle zu erwecken.
Das ist schade, denn ein gemeinsamer Mythos wird dringend benötigt, wenn die disparaten Staaten des Kontinents irgendwann einmal zu einer wie immer gearteten Einheit zusammenwachsen sollen. Ich meine damit nicht jene aus Verträgen zusammengebastelte Einheit, für die sich ausser den Politikern, die sie ausgehandelt haben, niemand begeistern kann, sondern eine Einheit, die auch im Bewusstsein ihrer Bürger ankommt, und zwar über die erleichterte Feststellung hinaus, dass man für eine Reise von Berlin nach Paris kein Passbüro und keine Wechselstube mehr braucht. Ein wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl kann nur dort entstehen, wo es auch eine gemeinsame Erzählung über die Ursprünge dieser Zusammengehörigkeit gibt – und genau daran mangelt es in Europa.
- Auf der Suche nach einer gemeinsamen Erzählung: Mythos Europa (Charles Lewinsky, Neure Zürcher Zeitung, 21.03.2016)
Wir bestärken unser nationales Selbstbild, indem wir ganz bestimmte Geschichten aussuchen und sie im Erzählen und Wiedererzählen so lang zurechtbiegen, bis sie dem Bild, das wir von uns selber haben, entsprechen. Das hat zur Folge, dass historische Wendepunkte je nach Nation völlig unterschiedlich erinnert werden. Mein Geschichtslehrer am Gymnasium zum Beispiel war der Meinung, das wichtigste Datum der europäischen Geschichte sei das Jahr 1519. Er sagte «fünfzehnneunzehn», seine nasale Aussprache wird sich für mich immer mit dieser Jahreszahl verbinden. Für ihn lag die Bedeutung dieses Datums darin, dass Karl V. zum Kaiser gekrönt wurde und damit ein Reich entstand, «in dem die Sonne nie unterging». […]Mein Kommentar:
Für diese Selbstverortung ist es völlig nebensächlich, ob die Ereignisse, an die wir uns mit einer gewissen Ehrfurcht erinnern, auch tatsächlich so stattgefunden haben, wie man sie weitererzählt. Es spielt letztlich keine Rolle, ob die Story der History entspricht oder ob sie in den Bereich der reinen Erfindung gehört. In der Schweiz haben wir im Jubiläumsjahr 2015 diese Debatte mehr als genügend geführt und mussten feststellen: Die Schlacht bei Morgarten bliebe auch dann noch ein wichtiges Datum der eidgenössischen Geschichte, wenn sie gar nicht stattgefunden hätte. Oder wie es der alte Schülerspruch besagt: Man weiss nicht, ob Wilhelm Tell jemals existiert hat, es steht nur fest, dass er den Landvogt Gessler erschoss. (aus obigem Artikel)
In Walt Disney’s »Ein toller Käfer« gibt es eine Szene, die mir nie mehr aus dem Sinn gehen wird:
Der Rennfahrer und die Tochter seines Mechanikers, in die er verliebt ist, halten in Herbie bei einem Drive-In. Der Rennfahrer versucht die junge Frau zu küssen, diese will aus dem Auto fliehen, aber Herbie hat die Beifahrertür verriegelt. Durchs offene Fenster ruft die junge Frau: »Hilfe, ich will hier raus!« Ein Pommes-fressender Hippie schaut sie aus dem Nachbarauto mit sehr distanzierte Mitgefühl und weit herunterhängenden Augenlidern lässig an und spricht die tiefgründigen Worte: »Hier kommt keiner raus, Baby!«
Ein toller Käfer - Trailer [2:31]
Veröffentlicht am 20.03.2014
Herbie ist ein niedlicher VW Käfer mit eigener Persönlichkeit. Doch der fiese Rennfahrer Peter Thorndyke (DAVID TOMLINSON - Mary Poppins) behandelt ihn nicht gerade zimperlich. Zum Glück wird der flotte Käfer von dem erfolglosen Rennfahrer Jim Douglas (DEAN JONES - That Darn Cat) "gerettet". Aus Dankbarkeit gibt Herbie sein Bestes und fährt gemeinsam mit Jim einen Sieg nach dem anderen ein. Peter Thorndyke will dies nicht hinnehmen und versucht, den Superkäfer mit allen Mitteln zurückzubekommen ... Rasanter Renn-Spass für die ganze Familie! (Originaltitel - THE LOVE BUG) - 1969 Walt Disney Productions
Wir können uns noch so sehr um journalistische Wahrheit bemühen, das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Narrativ ist so groß, daß die Menschenmassen lieber das Unwahrscheinliche glauben wollen als ihre geistige Wohlfühlzone zu verlassen. Und damit haben uns die Mächten im Sack!
An das «Goldene Zeitalter» einer gerechten Verteilung von Gütern, einer Aufhebung von Zwang und Triebunterdrückung mag Freud nicht glauben wenngleich er versichert, daß es ihm fernliegt, «das große Kulturexperiment zu beurteilen, das gegenwärtig in dem weiten Land zwischen Europa und Asien angestellt wird». Nein, dazu fehle ihm die Sachkenntnis und die Fähigkeit, über dessen Ausführbarkeit zu entscheiden, «die Zweckmäßigkeit der angewandten Methoden zu überprüfen oder die Weite der unvermeidlichen Kluft zwischen Absicht und Durchführung zu messen». Der «unpolitische» Freud war der Ansicht, daß der Zwang zur Kulturarbeit die «Beherrschung der Masse durch eine Minderheit» erforderte, «denn die Massen sind träge und uneinsichtig, sie lieben den Triebverzicht nicht». (Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, zitiert in Annette Meyhöfer, Eine Wissenschaft des Träumens)
siehe auch:
- Angewandte Psychoanalyse: Masse und Mob – Wie sich Emotionen in der Menge entladen, und wie sie gesteuert werden können (Post, 14.03.2016)
- Wie gehen wir mit gemachter Realität um? (15.06.2014, beachte auch die Links)
- Wie gehen wir mit gemachter Realität um? (15.06.2014, beachte auch die Links)
»Die wichtigste Lektion der jüngsten Geschichte ist meiner Meinung nach – ich wiederhole es und werde es wiederholen, solange ich lebe – ganz einfach, obwohl sie schwer zu befolgen ist. Die Lektion heißt: Wahrheit und Toleranz. Heute sind Wahrheit und Toleranz keine idealistischen Träume mehr, sie sind lebensnotwendig und unentbehrlich, eine condition sine qua non. Ohne sie wird alles Leben auf Erden zugrunde gehen. Vorbehaltlose Wahrheit und bereitwilligste Toeranz, Menschenliebe, die alle Arten von Haß und Feindseligkeit überwindet: Sie sind unerläßlich, wenn die Menschheit am Leben bleiben will.« (Lew Kopelew, Autor von »Aufbewahren für alle Zeit«)
»Die Menscheit ist an sich immer vollständig, niemand fehlt ihr, und sie wartet auch auf keinen. Sie wird weiter nichts zustande bringen, dieselben Menschen werden sich dieselben Fragen vorlegen und dasselbe Leben verpfuschen.« (Jean-Paul Sartre, Der Aufschub)
Enttäuschung wird allgemein und spontan als etwas Negatives empfunden, als eine Ungerechtigkeit, die uns widerfahren ist, als ein Wermutstropfen im ohnehin schon bitteren Leben. Die Sprache ist anderer Meinung. Denn »ent-« ist ein Privativ, wie man das nennt – wer seine Kleider ablegt, ent-kleidet sich, wer den Mut verliert, ist ent- mutigt, und Kirschen ent-kernen wird, bevor wir Marmelade daraus machen – , und gerade dies sollte uns im Falle der »Enttäuschung« doch eher trösten. Was hat der Enttäuschte denn zu beklagen? Daß er einer holden Täuschung erlegen war und nun die Dinge etwas klarer und wahrheitsnäher sieht? Genau da scheint jedoch die Schwierigkeit zu liegen...: »Es ist manchmal schwer, jemanden zu enttäuschen, weil er Illusionen braucht.« Man täuscht sich eben nur allzu gern über Tatsachen hinweg, will also dann folgerichtig nicht ent-täuscht werden, ist es aber gerade deshalb immer wieder ... und klagt. Der Enttäuschte, sagt die Sprache, ist um eine Täuschung ärmer, um eine Wahrheit reicher. Wer wollte da klagen?
[aus Legros, Was die Wörter erzählen]
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