Donnerstag, 28. Januar 2016

Arbeit mit dem inneren Kind: Das Schatten- und das Sonnenkind


Das „innere Kind“ steht als Metapher dafür, dass jede Psyche stark von der Kindheit geprägt ist. Alle Menschen haben Licht und Schatten, Stärken und Schwächen, tragen sowohl ein „Schattenkind“ als auch ein „Sonnenkind“ in sich. Um sich stark und lebendig zu fühlen, hilft die Arbeit mit dem inneren Kind. Beide Anteile müssen gut im „Erwachsenen-Ich“ integriert sein.

Wie kann man sich die menschliche Psyche vorstellen? Die menschliche Psyche ist eine Blackbox, ein Mysterium, ein schwarzes Loch. Niemand hat die Psyche, die Seele, das Selbst, das Ich oder wie immer man es nennen will, je gesehen. Man kann die Psyche nicht vermessen, nicht unter dem Mikroskop beobachten und auch nicht nach dem Tod sezieren. Man kann die Psyche nur in ihren Auswirkungen auf das menschliche Verhalten, auf die Art zu Denken und zu Fühlen beobachten und dann seine Schlüsse daraus ziehen. Deshalb ist die Psychologie auch keine exakte Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die ihre Hypothesen, Theorien und Modelle auf Erfahrungen aufbaut, die man aus Beobachtungen und dem inneren Erleben gewinnt.

Modelle unserer Persönlichkeit

Gerade weil die Psyche eine Blackbox ist und menschliche Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen oftmals rätselhaft und unverständlich erscheinen, gibt es seit Menschengedenken die Tendenz, Modelle der menschlichen Psyche zu entwickeln. Schon Hippokrates entwickelte um 400 v. Chr. die Viersäftelehre und der griechische Arzt Galenos von Perganon machte daraus um 200 n. Chr. eine Temperamentenlehre, indem er den vier Flüssigkeiten des Körpers – Blut, Schleim, schwarze und gelbe Gallenflüssigkeit – je ein Temperament zuordnete. Er war der Ansicht, dass sich je nach Vorherrschaft eines dieser vier Flüssigkeiten das damit verbundene Temperament besonders hervortrete. Er unterteilte die Menschen in heitere Sanguiniker, verdrängende Phlegmatiker, wütende Choleriker und traurige Melancholiker. Diese Unterteilung behielt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit und hat in der Anthroposophie Rudolf Steiners bis heute seine Bedeutung.

Der erste Mensch, der für sich in Anspruch nahm, ein nach Maßstäben der empirischen Wissenschaft gültiges Strukturmodell der menschlichen Psyche gefunden zu haben, war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse. Er unterteilte die Psyche am Anfang des 20. Jahrhunderts nach den Motiven seiner Handlungen in drei Teilbereiche: Im „Es“, „Über-Ich“ und „Ich“. Im „Es“ seien die Triebe, die Bedürfnisse und die Emotionen zu Hause. Im „Es“ siedelte Freud auch das Unbewusste an, das ja bekanntlich zu 90 Prozent unser menschliches Handeln bestimmt. Seitdem sind alle Psychotherapien darauf aus, soviel wie möglich aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu bringen, damit unsere unbewussten Muster uns nicht gänzlich bestimmen. Mit dem „Über-Ich“ bezeichnete Freud jene psychische Struktur, in der die aus der erzieherischen Umwelt verinnerlichten Handlungsnormen, Ich-Ideale, Rollen und Weltbilder gründen. „Ich“ bezeichnet jene psychische Strukturinstanz, die mittels des selbstkritischen Denkens vermittelt zwischen den Wert- und Normvorstellungen des Über-Ich und der sozialen Umwelt einerseits und den Bedürfnissen und Emotionen des nach dem Lustprinzip lebenden „Es“ andererseits, mit dem Ziel, psychische und soziale Konflikte konstruktiv aufzulösen.

Dieses dreigeteilte Modell hat sich mehr oder weniger bis heute gehalten und spielt bei der Arbeit mit dem inneren Kind eine wichtige Rolle. Die Diplom-Psychologin Stefanie Stahl kommt in ihrem sehr gelungenen Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ auch auf drei Instanzen. Sie arbeitet mit drei Persönlichkeitsanteilen: Dem fröhlichen „Sonnenkind“, dem verletzten, traumatisierten, neurotischen „Schattenkind“ und dem inneren rationalen „Erwachsenen“. Das „Sonnenkind“ und das „Schattenkind“ entsprechen dem Freudschen unbewussten „Es“, wobei das „Sonnenkind“ für eine geglückte Sozialisation steht und das „Schattenkind“ für eine missglückte Sozialisation. Der innere Erwachsene entspricht dem „Ich“ bei Sigmund Freud.

mehr:
siehe auch:
5 aus 9: Wenn die Diagnose krankmacht (Nina Frohn, Telepolis, 19.06.2020)
- "Unsere heutige Gesellschaftsform produziert sehr viele Störungen" (Post, 14.06.2020)
aktualisiert am 01.07.2020
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