Samstag, 19. Dezember 2015

Psychoanalyse und Politik: Das Unbehagen für kritische Aufklärung nutzen

Ein historischer Abriss über das ambivalente Verhältnis der Psychoanalytiker zu Gesellschaft und Politik 

Psychoanalyse hat, ob sie es will oder nicht, von vornherein mit Politik zu tun. Das weiß die Politik oft besser als die Psychoanalyse. So dulden Diktaturen nirgends auf der Welt Psychoanalyse, da sie ihr Verlangen nach gefügigen Untertanen gefährden könnte. Auch in Demokratien wirken sich politische Einflüsse restriktiv aus. Die Menschen sollen sich mit Sozialabbau, viele mit Arbeitslosigkeit, beschwerdenfrei zurechtfinden, die Umbrüche und Unverlässlichkeiten der modernen Ökonomie sollen sie mit robuster psychischer Flexibilität bewältigen. Wenn Jugendliche mit negativen Zukunftserwartungen nachweislich vermehrt psychosomatische Beschwerden äußern, so soll Psychotherapie helfen, diese Beschwerden wegzubringen. Diese selbst wird nach dem Druck des Kosten-Nutzen-Prinzips bewertet. Sie soll mit geringstem Zeitaufwand maximale Gesundheit produzieren, das heißt Unauffälligkeit und im arbeitsfähigen Alter hohe Leistungsfähigkeit. Der aus der Betriebswirtschaftslehre entlehnte Begriff der Effizienz ist das entscheidende Kriterium. Letztlich geht es um die Brauchbarkeit und die Handhabbarkeit des Menschen.
Psychoanalytiker können sich diesen Zwängen, wie sie es zum Teil auch tun, gefügig anpassen und die Bedeutung dieser Selbsteinschränkung verleugnen. Aber sie bezahlen solches Nachgeben insbesondere, wenn sie es nicht reflektieren, mit Einbußen an sozialer Potenz, an Kreativität sowie mit Rigidisierung ihrer eigenen Strukturen. Die Geschichte der Psychoanalyse stellt diese Problematik anschaulich dar: In der ersten Generation waren die Psychoanalytiker voller Entdeckungsfreude. Mit dem von Sigmund Freud revidierten Menschenbild drangen sie offensiv in viele gesellschaftliche Bereiche ein. Sie beeinflussten die Kindererziehung, die Schulpädagogik, die Heimpflege und die Kriminologie. In der Reformbewegung der Jugend setzte Siegfried Bernfeld entscheidende Akzente. Manche sahen in sozialistischen Projekten eine sinnvolle Ergänzung der individuellen Therapie.
mehr:
- Psychoanalyse und Politik: Das Unbehagen für kritische Aufklärung nutzen (Horst-Eberhard Richter, Ärzteblatt, Juni 2004, Hervorhebungen von mir)

siehe auch:
- Psychoanalyse als „Wissenschaft des Unbewussten“ im ersten Jahrhundert der IPA (Marianne Leuzinger-Bohleber, 2010, PDF)
- Ist Freud heute noch relevant? (Christine Dierks, scienceORF, 19.01.2006)
- Wie ich zur Psychoanalyse kam Von Bruno Bettelheim / Aus dem Essay-Band "Themen meines Lebens" (Bruno Bettelheim, SPON, 01.03.1990)
- Psychoanalyse, Marxismus, Sexualreform – Wilhelm Reichs Zeit in Berlin und der Weg zur Massenpsychologie des Faschismus (Andreas Peglau auf Bernd Senfs Seite, PDF)
- Die Angst vor George W. Bush und die Angst von George W. Bush (Thomas Auchter, Aachener Friedenspreismagazin, 2007, PDF, Hervorhebungen von mir)
Bush setzt sich an die Spitze der Bewegung gegen den Terror. Er erklärt sich zum Oberbefehlshaber der Kreuzritter gegen das Böse. Der erschreckte, verängstigte und verwundete Verlierer vom 11. September verwandelt sich kontraphobisch in einen scheinbar siegessicheren Kriegsherrn, der den Terrorismus der ganzen Welt bis in seine Wurzeln ausrotten will. Dabei ist dann im Laufe der Zeit immer weniger zu unterscheiden, gegen wen dieser Kampf eigentlich geführt wird, gegen den äußeren Schrecken (des Terrorismus, vor allem verkörpert in Osama bin Laden und später Saddam Hussein) oder gegen seine inneren Ängste? Der Hintergrund dieser, seiner persönlichen Ängste wird gleich aus meinen Ausführungen über Bushs Lebensgeschichte deutlicher werden. […]

In der Regierung Bush zählt nicht die Moral, „es zählt allein die Loyalität“, schreibt der französische Journalist Eric Laurent (2003, S. 204; Frank 2004, S. 69) - denn Solidarität und Loyalität reduzieren die Ängste des Präsidenten. „Faktisch die gesamte Regierungsmannschaft lebt anscheinend in einem geschlossenen und unantastbaren Universum“ (Laurent 2003, S. 204). „Es gibt keine Differenzierungen mehr, nur noch ‘pro’ oder ‘contra’“ (Laurent 2003, S. 205). „Ich glaube, daß wir uns in den USA in einer prätotalitären Situation befinden“, stellt der Schriftsteller Norman Mailer (2003, S. 100) fest. „Demokratie und Sicherheit sind nämlich Feinde“ (Mailer 2003, S. 101). Der französische Politikwissenschaftler Emmanuel Todd (2003, S. 32ff.) konstatiert einen „unaufhaltsamen und unglückverheißenden Weg: den der Oligarchie“ anstelle und unter dem Deckmäntelchen der Demokratie. Nämlich: „Daß das [amerikanische] Imperium von einer unanständig reichen Oberschicht abhängt“ (Mailer 2003, S. 65). Der amerikanische Politikwissenschaftler Chalmers Johnson (2003) spricht für den aktuellen Zustand vom „Selbstmord der amerikanischen Demokratie“, der Journalist Mark Hertsgaard (2002, 169ff.) von der „Tragödie der amerikanischen Demokratie“.

In West Point erklärt Präsident Bush am 1. Juni 2002, die USA hätten das Recht, jede Regierung zu stürzen, die eine Gefahr für ihre Sicherheit darstellen könnte. „Wir müssen... gegen die größten Bedrohungen bereits vorgehen, bevor sie entstehen“ (zit. n. Johnson 2003, S. 391; kursiv T.A.). Der „einzige Weg zu Frieden und Sicherheit ist der des aktiven Handelns“ (zit. n. Johnson 2003, S. 391), also Prävention. In der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom 20. September 2002 heißt es in der Präambel: „daß es nur ein einziges dauerhaftes Modell für den Erfolg einer Nation gäbe“, nämlich das amerikanische, das „für alle Menschen in allen Gesellschaften richtig und wahrhaftig ist (zit. n. Johnson 2003, S. 392; kursiv T.A.). 5

Der amerikanische Politikwissenschaftler Chalmers Johnson (2003, S. 392) folgert daraus: „Durch ihre Vorgehensweise werden die USA gerade jene Gefahren heraufbeschwören, die sie angeblich bannen wollen“ (3).

mein Kommentar:
Ich kann ohne jede Übertreibung sagen, daß ich einen Patienten, der eine solche Äußerung mit einer solch absoluten Heils-Gewißheit (siehe die Zitate aus der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten) tun würde, für zumindest präpsychotisch halten würde.


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