Montag, 22. September 2014

Übungen zum bewussten Atmen

Das Wunder 
des bewussten Atmens – 
die sechzehn Übungen

Die Entfaltung unserer Konzentration und die Beobachtung all dessen, was existiert, lassen uns zur Befreiung gelangen, zur Freiheit von allem Gebundensein. An was aber sind wir gebunden, und was verhindert, dass wir frei sein können? 

Hier ist zunächst unsere Neigung zu nennen, immer wieder in Unachtsamkeit zurückzufallen und unser Gewahrsein für das, was geschieht, zu verlieren. 

Wir leben, als wären wir in einem Traum. Wir werden in die Vergangenheit zurückgeworfen und in die Zukunft hineingezerrt. Unser Kummer ist es, der uns fesselt; unser Festhalten an Wut, Angst und Unruhe macht uns unfrei. »Befreiung« bedeutet hier, dass wir darüber hinausgelangen, dass wir diese Bedingungen hinter uns lassen, um vollkommen wach, voller Freude und Lebendigkeit, entspannt und in Frieden zu leben. Gelingt es uns, so zu leben, haben wir die Chance zu erfahren, dass das Leben wirklich lebenswert ist; dann sind wir für unsere Familie und für alle Menschen, die mit uns verbunden sind, eine stete Quelle der Freude. Im Buddhismus wird oft über »Befreiung« gesprochen; darunter haben wir eine Befreiung zu verstehen, in der wir über alles hinausgehen und Leben und Tod hinter uns lassen. Zumeist fühlen wir uns doch durch den Tod bedroht. Wie viel Unruhe und Furcht rühren von der Angst vor dem Tod her! Meditation kann uns helfen, uns von den Fesseln dieser Angst zu befreien. 

Im Folgenden möchte ich die Übungen, durch die wir das Sutra des Bewussten Atmens in die Praxis umsetzen können, näher erläutern. In Übereinstimmung mit Geist und Stil des Sutra sind auch meine Darlegungen einfach und schlicht. Sucht euch bitte jeweils die Übungen aus, die euch in eurer gegenwärtigen Situation angemessen erscheinen, und übt sie als erste. Obgleich die sechzehn Übungen des bewussten Atmens sehr eng miteinander verbunden sind, entspricht ihre Reihenfolge im Sutra nicht einem Aufbau, der notwendigerweise von einfach zu schwer verläuft. 

Jede Übung ist genauso wunderbar, genauso leicht oder genauso schwer wie jede andere. Man kann jedoch sagen, dass die einführenden Anweisungen größeren Nachdruck legen auf die Entfaltung unserer Konzentration, auf die unzerstreute Gerichtetheit unseres Geistes, und in den darauf folgenden Übungen eher die Bedeutung des Tiefen Schauens betont wird, obwohl natürlich unzerstreute Gerichtetheit und Tiefes Schauen gar nicht voneinander getrennt werden können. Ist unser Geist unzerstreut auf ein Objekt gerichtet, so findet Tiefes Schauen mehr oder weniger bereits statt, und schauen wir tief, dann ist auch unser Geist bereits unzerstreut gerichtet. 

Die Objekte der Achtsamkeit, die im Folgenden vorgestellt werden, können in sieben Bereiche untergliedert werden: 

1. Dem Atem folgen im täglichen Leben – die Umwandlung von Unachtsamkeit und unnötigem Denken (Übungen 1-2)

2. Die achtsame Wahrnehmung des Körpers (Übung 3)

3. Die Erkenntnis der Einheit von Körper und Geist (Übung 4)

4. Uns selbst nähren mit der Freude der Meditation (Übungen 5-6)

5. Das Beobachten der Gefühle, um sie zu beleuchten (Übungen 7-8)

6. Fürsorge und Befreiung für den Geist (Übungen 9-12)

7. Das Beobachten aller Phänomene, um ihre wahre Natur zu erhellen (Übungen 13-16)

Für uns alle ist es wichtig zu wissen, wie man dem Atem im täglichen Leben folgen kann und wie man sich mit der Freude der Meditation nährt. Daher sollten wir bei jeder Sitzmeditation mit den Methoden beginnen, die diese Aspekte zu entfalten helfen (Bereich 1 und 4). 

Jedes Mal, wenn wir spüren, dass wir verärgert, zerstreut und unruhig sind, empfiehlt es sich, unsere Gefühle zu beobachten, um sie genauer zu beleuchten (5. Bereich). 

Das Beobachten aller Phänomene, um ihre wahre Natur zu durchleuchten (7. Bereich), ist das Tor, das zur Befreiung von Leben und Tod führt. Alle, die großes Verstehen erlangen wollen, müssen dieses Tor passieren. Dieser Bereich ist das größte Geschenk, das der Buddha uns gegeben hat. In den ersten sechs Bereichen geht es sowohl um die unzerstreute Gerichtetheit unseres Geistes als auch um die Beobachtung; im siebten Bereich liegt die Betonung auf der Beobachtung. Auf diesen Bereich sollten wir uns erst dann einlassen, wenn wir ein äußerst stabiles Konzentrationsvermögen entwickelt haben. 




Der erste Bereich der Achtsamkeit 

Dem Atem folgen im täglichen Leben die Umwandlung von Unachtsamkeit und unnötigem Denken (Übungen 1-2) 

Ich atme ein und weiß, dass ich einatme. Ich atme aus und weiß, dass ich ausatme. 
1. Bei langem Einatmen weiß ich: »Ich atme lang ein.« Bei langem Ausatmen weiß ich: »Ich atme lang aus.« 
2. Bei kurzem Einatmen weiß ich: »Ich atme kurz ein«. Bei kurzem Ausatmen weiß ich: »Ich atme kurz aus.« 

Die meisten Leserinnen und Leser dieses Buches werden nicht in einem Kloster leben oder als Einsiedler unter Bäumen mitten im Wald. In unserem Alltag fahren wir Auto, warten auf den Bus, arbeiten in einer Fabrik oder in einem Büro, telefonieren, putzen, kochen, waschen usw. Daher ist es von großer Wichtigkeit, dass wir lernen, das bewusste, achtsame Atmen in unserem ganz alltäglichen Leben zu üben und beizubehalten. Normalerweise wandern unsere Gedanken umher, wenn wir mit den zuvor genannten Dingen beschäftigt sind. Ihnen folgen dicht hinterher Gefühle von Freude, Kummer, Wut und Unruhe. Wir sind zwar lebendig, sind aber nicht in der Lage, mit unserem Geist im gegenwärtigen Moment zu bleiben, und so leben wir in Unachtsamkeit. 

Um wirklich im gegenwärtigen Moment zu leben, müssen wir Achtsamkeit entwickeln für das, was in uns und um uns geschieht. Wir beginnen damit, unseren Atem bewusst wahrzunehmen, indem wir ihm aufmerksam folgen. Wenn wir ein- und ausatmen, wissen wir, dass wir ein- und ausatmen; an unserem Lächeln zeigt sich, dass wir ganz gegenwärtig, ganz wir selbst sind und Kontrolle über uns haben. Durch die Achtsamkeit auf den Atem können wir im und zum gegenwärtigen Moment erwachen. Wenn wir atmen und dem Atem aufmerksam folgen, halten wir inne und sammeln den Geist. Das Atmen voller Achtsamkeit hilft unserem Geist, nicht mehr ständig in einer verworrenen Gedankenwelt, einem niemals endenden Gedankenfluss umherzuirren. 

Es fällt uns nicht schwer, die üblichen täglichen Aufgaben zu verrichten und dabei gleichzeitig unserem Atem zu folgen, wie es die Anweisungen in diesem Sutra vorsehen. Erfordert unsere Arbeit besondere Aufmerksamkeit, um Komplikationen oder Unfälle zu vermeiden, so können wir das achtsame, bewusste Atmen mit der Achtsamkeit auf das, was wir gerade tun, vereinen. Wenn wir zum Beispiel einen Topf kochendes Wasser transportieren oder Elektroarbeiten verrichten, können wir jede Bewegung unserer Hände bewusst wahrnehmen; diese Bewusstheit nähren und unterstützen wir durch achtsames Atmen: »Ich atme aus und nehme meine Hände wahr, die einen Topf kochendes Wasser tragen.« Oder: »Ich atme ein und nehme meine rechte Hand wahr, die ein elektrisches Kabel hält.« Oder auch: »Ich atme ein und nehme wahr, dass ich gerade ein anderes Auto überhole. Ich atme aus und weiß, dass ich die Situation unter Kontrolle habe.« Das sind Möglichkeiten der Übung. Es reicht jedoch nicht aus, die Achtsamkeit auf den Atem nur mit einer Tätigkeit zu verbinden, die sehr viel Aufmerksamkeit von uns fordert. Wir können die Achtsamkeit auf dem Atem damit verbinden, unsere Achtsamkeit auf alle Bewegungen des Körpers zu richten. »Ich atme ein und setze mich hin.« »Ich atme ein und wische den Tisch ab.« »Ich atme ein und lächle mir zu.« »Ich atme ein und heize den Ofen.« 

Wir haben in unserer Meditationsübung einen großen Schritt nach vorn gemacht, wenn wir in der Lage sind zu verhindern, dass unser Geist in den endlosen Strom assoziativer, wahlloser Gedankenfolgen eintaucht, dass er sich darin verliert; so leben wir unser Leben achtsam und wach. Diesen Schritt können wir verwirklichen, indem wir unserem Atem folgen und gleichzeitig die Achtsamkeit auf unsere alltäglichen Aktivitäten lenken. 

Es gibt Menschen, die in ihrem ganzen Leben weder Frieden noch Freude kennen lernen, die sogar krank oder verrückt werden, nur weil sie unnützes Denken nicht abstellen können. Schließlich greifen sie zu Beruhigungsmitteln, um überhaupt schlafen zu können; damit, so hoffen sie, haben sie für eine Weile Ruhe. Aber selbst im Traum werden sie noch von ihren Ängsten, Beklemmungen und Sorgen verfolgt. Wenn wir zu viel denken, kann das zu Kopfschmerzen führen, und unser Geist leidet darunter. 

Dadurch, dass wir unserem Atem folgen und unser bewusstes Atmen mit der achtsamen Wahrnehmung unserer alltäglichen Aktivitäten verbinden, kommt der Strom störender Gedanken allmählich zur Ruhe, und wir können das Licht des Verstehens anzünden. Es ist wundervoll, jedes Einatmen, jedes Ausatmen bewusst wahrzunehmen, und jeder Mensch kann sich darin üben. 

Das achtsame Atmen mit der achtsamen Wahrnehmung der Bewegungen des Körpers im Alltag zu verbinden ob wir gehen, stehen, liegen, sitzen oder arbeiten, das ist eine grundlegende Meditationsübung, um Konzentration zu entwickeln und in einem Zustand des Erwachens zu leben. Auch in der Sitzmeditation können wir zunächst unserem Atem einige Minuten lang folgen, bis er ruhig, gleichmäßig und harmonisch geworden ist; dies können wir natürlich auch die gesamte Phase des Sitzens über tun, wenn es uns nötig erscheint. 

Bei langem Einatmen weiß ich: »Ich atme lang ein.« Bei langem Ausatmen weiß ich: »Ich atme lang aus.« 

Bei kurzem Einatmen weiß ich: »Ich atme kurz ein.« Bei kurzem Ausatmen weiß ich: »Ich atme kurz aus.« 

Zu Beginn ist unser Atem gewöhnlich erst einmal recht kurz, aber im Laufe unserer Übungen wird der Atem langsamer und tiefer. Bei diesen beiden Übungen geht es darum zu wissen, ob der Atem kurz oder lang ist. Nun ist es nicht so, dass wir absichtlich unseren Atem verlängern, also etwa sagen: »Jetzt atme ich lang ein.« Vielmehr sagen wir: »Ich atme ein und weiß, dass ich lang (oder kurz) einatme.« Wir stellen ganz einfach fest, wann wir ein- und wann wir ausatmen. Die längeren Sätze wie »Ich atme ein und weiß, dass ich einatme« und »Ich atme aus und weiß, dass ich ausatme« können wir auf die Kurzformel bringen: »Ein, Aus«. Während wir ein- und ausatmen, um unsere Konzentration zu stärken, sprechen wir leise jeweils diese beiden Worte. 

Während wir also fortfahren, unserem Atem zu folgen, stellen wir seine Eigenschaft fest wie folgt: »Ich weiß, dass ich einatme, und ich weiß, dass es ein kurzer Atemzug ist.« Wenn er kurz ist, ist das völlig in Ordnung; macht ihn keinesfalls länger. Dies nennen wir »reine Wahrnehmung«. Genauso verhält es sich mit einem schmerzvollen Gefühl. Zunächst stellen wir es einfach fest. Ist dein Atem schnell, so nimm einfach wahr: »Er ist schnell.« Ist er langsam, so nimm wahr: »Er ist langsam.« Nimm wahr, wenn er unregelmäßig ist oder wenn er regelmäßig verläuft. Zu Anfang ist unser Atem vielleicht noch unregelmäßig, was sich nach einigen Minuten der Übung ändern kann; dann wird er ganz sanft und gleichmäßig und verschafft uns ein Gefühl von Friedfertigkeit und Freude. Keinesfalls forcieren wir den Atem, weder in Richtung Tiefe noch Langsamkeit. Erst durch fortgesetzte Übung wird unser Atem allmählich tief und langsam, dies geschieht ganz natürlich. Stellen wir einen tiefen, langsamen Atemfluss fest, so können wir beim Einatmen sagen: »tief« und beim Ausatmen: »langsam.« So gewinnen wir bereits mit den beiden ersten Übungen Freude an der Meditation, und nun können wir sie auch mit anderen Menschen teilen, mit unserer Familie, mit Freundinnen und Freunden. Dazu müssen wir nicht erst Meditationslehrerin oder -lehrer werden. 
aus Thich Nhat Hanh, Das Wunder des bewussten Atmens, Theseus, S. 42ff.

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