Meditation lässt uns die Wirklichkeit schärfer wahrnehmen und befreit den Geist zum politischen Engagement. Ein Plädoyer für ein neues Bewusstsein, das zum Handeln führt
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Von Michael von Brück
Das Verhältnis von Meditation und politischer Verantwortung ist zwar seit dem benediktinischen
Ora et labora (Bete und arbeite) ein Thema des europäischen Geistes, doch ist bis heute unklar, wie beide konkret aufeinander bezogen und gelebt werden sollen. Der Verdacht, Meditation und Mystik entzögen sich den politischen Herausforderungen, prägt nach wie vor die Debatte. Dagegen beteuern Mystikerinnen und Mystiker, dass die geistige Erfahrung »auf dem Marktplatz« gelebt werden müsse. Sie kritisieren, dass die Intentionen vieler Sozialreformer an der institutionellen Oberfläche steckenbleiben, wo doch erst ein verändertes Bewusstsein den Umgang mit den Institutionen und ihr Leben darin verbessern könne.
Dabei gibt es vielfältige Herausforderungen für das politische Handeln. Doch die Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, sind so vielfältig und unüberschaubar geworden, dass wir einen Angelpunkt brauchen, um Prioritäten setzen zu können. Ein solcher möglicher Angelpunkt ist die Analyse und Übung der eigenen Bewusstseinsfunktionen.
Unsere Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken sind geprägt von früheren Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken sowie von gegenwärtigen Eindrücken. Wir nehmen nichts wahr. wie es ist, sondern alles ist eingefärbt durch unser Bewusstsein. Alles ist »gefiltert«. Diesen Filter genau zu kennen und zu »reinigen« ist eine zentrale Aufgabe, wenn wir in unserem Denken und Handeln klarer werden wollen.
Vier grundlegende Aspekte des Bewusstseins lassen sich unterscheiden. Dabei steht die
empfindende Wahrnehmung an erster Stelle. Denn von der Achtsamkeit des Bewusstseins auf den gegenwärtigen Augenblick hängt jede ungetrübte und klare Aktion und Reaktion ab. Wir können nicht »angemessen« handeln, wenn das Maß von vornherein nicht stimmt und alles nur verzerrt durch den Spiegel unserer maßlosen Wünsche oder Ängste erscheint. Ästhetik im weitesten Sinne, die staunende Wahrnehmung der Menschen, der Dinge, der Natur, der Kunst und der eigenen Bewusstseinsfunktionen öffnet Möglichkeiten zur Bildung des Menschen, die noch längst nicht ausgeschöpft sind.
Auch Gefühle und Affekte werden durch eine achtsame Wahrnehmung unmittelbar beeinflusst. Sie werden stabiler und kontrollierter. Das urteilende Denken wird durch Achtsamkeit ausgewogener. Es urteilt nicht vorschnell kann Vorurteile als ichzentrierte Projektionen erkennen und die Folgen einzelner Gedanken und Handlungen umfassender abschätzen als ein Denken, das durch einseitige Interessen irregeleitet wird. Entsprechend wird das Handeln
vernünftig sein, weil unterschiedliche Aspekte einbezogen werden. Es wird
besonnen sein, weil die Affekte kontrolliert werden, und es wird
realitätsbezogen sein, weil ichhafte Wunsch- und Angstmuster durchschaut werden.
Ich plädiere deshalb für eine gezielte
Bewusstseinsschulung, die das Handeln neu motiviert strukturiert und bewusst gestaltet. Dabei geht es um den Aufbruch aus starr gewordenen Mustern des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Handeins und das auf vier Ebenen: der individuellen, der gemeinschaftlichen, der staatlichen, der globalen.
Wesentlich auf der individuellen Ebene ist die Übung von Achtsamkeit, die nur möglich wird durch eine Entdeckung der Langsamkeit. Lebensqualität stellt sich ein, wenn die angemessene Zeit gefunden wird. Maße und Proportionen sind den Dingen und Abläufen selbst eigen, sie dürfen nicht in Generalisierungen anderen Dingen und Prozessen übergestülpt werden. So kann sich klares Denken im musischen Spiel entfalten, das nicht getrübt wird vom Druck zu schnellen Entscheidungen. Hier wird erkennbar, inwiefern Ästhetik zu einem der wichtigsten Instrumente der Heilung unserer Kultur werden kann: durch die Entdeckung des Schönen in der Langsamkeit.
Achtsamkeit entsteht durch den Rhythmus des Atems. Dieser gibt die Eigengeschwindigkeit oder Eigenzeit des Menschen vor – im Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln. Darum ist Achtsamkeitsübung zunächst nichts anderes als eine Meditation des Atems. Meditationsübungen kennen wir aus allen Kulturen, und sicherlich ist das Meditieren in einer Übungstradition sinnvolL die sich seit Jahrhunderten bewährt hat.
Aber nicht wenige Menschen haben dazu keinen Zugang. Für sie ist es sinnvoller, innezuhalten, die Natur oder ein Kunstwerk zu betrachten oder bei den alltäglichen Verrichtungen genau wahrzunehmen, was sie eigentlich tun. Dabei ist es wichtig, alle Sinne zu erproben und zu sammeln, also etwa den Klang eines rauschenden Baches in allen Details zu vernehmen, sodann sich das Bild des fließenden Wassers einzuprägen: die Augen zu schließen und das Bild im Innern wieder entstehen zu lassen. Meditation ist eine hervorragende Übung der Wahrnehmungsfähigkeit.
Achtsamkeit und Meditation fördern die Intensität von Wahrnehmung und Genuss. Damit wird die Gier nach ständiger Reizstimulation vermindert, was wiederum den Verbrauch von immer neuen Ressourcen (Personen, Beziehungen, Dingen) minimiert. Statt Quantität lernen wir, Qualität zu erleben. Das hat zur Folge, dass wir uns selbst intensiver spüren, ganz dabei sind und das Gefühl bekommen, selbst zu leben und nicht von außen gesteuert zu werden.
Wir sind dann nicht ständig auf der Flucht vor dem ungelebten Leben, das wir in uns ahnen. Wenn wir nicht mehr vor dem Leben und uns selbst davonlaufen, können wir Angst und das Anhaften an Vergangenem, von dem wir Sicherheit erwarten, vertrauensvoll loslassen. Wenn Angst wirklich reduziert wird, folgt daraus eine Verminderung von destruktiven Gedanken und Gewalt. Wenn Gewalt in welcher Form auch immer, vermindert wird, können wir begründete Hoffnung haben.
Dieser Bildungsprozess vollzieht sich nicht im gewohnten Paradigma des technologisch Machbaren, sondern nur durch das geduldige Annehmen von kreativem Neuwerden – und zwar auf allen Ebenen menschlicher Beziehungen: zu sich selbst, im engeren zwischenmenschlichen Bereich, gesellschaftlich und global. Neuwerden bedeutet, verfestigte Seh- und Lebensgewohnheiten loszulassen. Und es bedeutet den
Mut zum Neu-Sehen des anderen, den Mut zum ersten Schritt auch den Mut zur Einmischung in unerträgliche Zustände aufzubringen, was gemeinhin unter dem Stichwort »Zivilcourage« angesprochen wird. Oft fällt das schwer, weil die Gewohnheit uns vom Aufbruch abhält – weil das Bedürfnis nach Sicherheit dazu führt, an Gewohntem anzuhaften. Denn das Bewährte verheißt Orientierung und Stabilität aber es verhindert notwendige Anpassungsleistungen. Ein wünschbares Maß wäre das Gleichgewicht zwischen der Tendenz zum Beharren und der Motivation zum kreativen Aufbruch. Und der tut not.
In modernen Gesellschaften droht alles zum Produkt zu werden, Produkte aber werden in Quantitäten gemessen. Davon sind Kultur und Wissenschaft, ja überhaupt alle menschlichen Beziehungen betroffen. Wo alles zum Markt wird, ist der Mensch auf messbare Funktionen reduziert, besonders auf seine Rolle als Verbraucher. Daraus folgt eine Verdinglichung des Menschen und all seiner Beziehungen. Wenn alles Material wird, wird auch der Mensch Material – »Menschenmaterial« ist nicht erst eine zynische Begriffsbildung im tatsächlichen Krieg, sondern in unserer ganzen Wirtschafts- und Wertestruktur!
[dazu siehe unten einen Spruch von Dietrich Bonhoeffer]
Was ist dagegen zu tun? Selbstorganisation von kulturellen Subsystemen auf Non-Profit-Basis könnte sich als durchaus sinnvoll erweisen, insofern dadurch das demokratische Kräftespiel unterstützt würde, das Kapital und Medien zur Farce werden zu lassen drohen. Der Staat könnte durch engagierte Zivilcourage, durch Bürgerengagement und Einmischung motiviert werden, seine Aufgabe wahrzunehmen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Wirtschaften zu setzen und durchzusetzen.
Erfindung und Ausübung eines solchen Bürgerengagements gehören in die Lehrpläne der Schulen! Inhalt der notwendigen Weiterentwicklung wären die Optimierung der politischen Wirkung ebenso wie die Qualität des Umgangs miteinander und die genaue Prüfung der Ziele im Sinne nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens.
Es wird dabei darauf ankommen, zu durchschauen, wie Wirtschaft und Politik die Muster unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit prägen. Das ist die Voraussetzung dafür, diese Muster durch kreatives Handeln aufzubrechen. Solange wir dies nicht leisten, werden wir mit unendlicher Gier und in immer größerer Geschwindigkeit die endlichen Ressourcen der Erde verbrauchen. Abgesehen davon, dass einige wenige den größten Teil dieser Ressourcen für sich in Anspruch nehmen, dieses Monopol gewaltsam verteidigen und damit die Ungerechtigkeit bei der Verteilung weltweit dramatisch zunimmt, kann dieser Prozess im endlichen System Erde nicht unendlich lange andauern.
Die Möglichkeit zur Lösung des Widerspruchs liegt in der Eindämmung der Gier und in einem intelligenteren Wirtschaften, das systemisch und nachhaltig arbeitet. Letzteres ist möglich, wenn es politisch gewollt wird; Ersteres ist erreichbar durch Bewusstseinsschulung. Wo eines auf das andere aufbaut, kann den Herausforderungen der Zeit kreativ begegnet werden.
Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Münchner Religionswissenschaftler kürzlich bei einem Symposion des Arbeitskreises Meditation in der Evangelischen Kirche im Rheinland in Wuppertal hielt.