Freitag, 9. Mai 2008

Armut senkt IQ

Kinder in armen Familien sind durch streitende Eltern, ständige Geldsorgen der Familie, Misshandlungen oder Vernachlässigung einem dauerhaften Stress ausgesetzt, der ihre geistigen Fähigkeiten beschädigt. US-Forscher konnten jetzt in Studien nachweisen, dass solcher Stress den Aufbau von Nervenverbindungen stört und das Immunsystem schädigen kann. Folge: Lebenslange Lern-, Konzentrations- und Gesundheitsprobleme sowie Verhaltensauffälligkeiten und psychische Krankheiten. Bei einer vergleichenden Untersuchung von Kindergartenkindern unterschiedlicher sozialer Klassen stellten die Wissenschaftler fest, dass Kinder aus armen Familien im Vergleich zu Mittelklassekindern eine deutlich schlechtere Sprachfähigkeit und ein schlechteres Arbeitsgedächtnis haben und dass sie sich schlechter konzentrieren können. Auch Probleme mit Immun- und Herzkreislaufsystem und mit Hautkrankheiten sind bei Kindern aus armen Familien häufiger. Die Ergebnisse wurden auf der Jahrestagung 2008 des Wissenschaftsverbandes AAAS in Boston vorgestellt. www.aaas.org

aus Der Allgemeinarzt Nr 5, 2008

Donnerstag, 8. Mai 2008

Hungergeister

Angeregt durch konfusius’ lesenswerten Kommentar zum letzten Post »Geiz ist geil zum nächsten« und die Schwierigkeiten, die ein Freund mit seiner Freundin hat (und die auch mit ihm) einige Zitate aus Mark Epsteins Buch »Gedanken ohne den Denker«

Da es im Folgenden um Elemente aus dem Buddhistischen Lebensrad geht, ist es hilfreich (aber nicht notwendig), sich darüber zu informieren. Auf der Wikipedia-Seite gibt es ganz unten ein Link zur Seite des Dharmapala Thangka Zentrum in Bremen, die eine interaktive Seite zum Lebensrad anbieten.

Vorangestellt ein Zitat Zen-Meister Dogens


Den Buddhismus studieren, ist das Selbst studieren. Das Selbst studieren, ist das Selbst vergessen. Das Selbst vergessen, ist mit anderen eins sein.


Eines der überzeugendsten Momente der buddhistischen Sicht des Leidens ist die im Bild des Lebensrads enthaltene Vorstellung, daß die Ursachen des Leidens zugleich die Mittel zur Erlösung sind; das bedeutet, die Perspektive des Leidenden bestimmt, ob ein gegebener Bereich Medium des Erwachens oder der Gefangenschaft ist. Von den Kräften der Gier, des Ärgers und der Torheit bestimmt, verursacht unsere fehlerhafte Wahrnehmung der Bereiche – nicht die Bereiche selbst – das Leiden. Jeder Bereich enthält eine kleine Buddha–Gestalt (eigentlich handelt es sich um den Bodhisattva des Mitgefühls, dessen Streben darauf gerichtet ist, das Leiden anderer zu beseitigen), die uns auf symbolische Weise lehrt, wie wir die falschen Wahrnehmungen korrigieren können, die jede Dimension verzerren und damit das Leiden perpetuieren. Wir erfahren keinen Bereich in aller Klarheit, lehren die Buddhisten; statt dessen durchleben wir sie alle angsterfüllt; abgeschnitten von der Fülle der Erfahrung, unfähig, sie zu akzeptieren, fürchten wir uns vor dem, was wir zu sehen bekommen. So wie wir den »geschwätzigen Affen« in uns nicht zum Schweigen bringen können, so gleiten wir von einem Bereich in den nächsten, ohne wirklich zu wissen, wo wir uns befinden. Wir sind in unserem Geist befangen, kennen ihn aber nicht wirklich. Von dessen Wellenbewegung angetrieben, treiben wir dahin und mühen uns ab, weil wir nicht gelernt haben, loszulassen und frei zu schweben.
Dies ist die andere Möglichkeit, das Lebensrad zu verstehen, weniger wörtlich als psychologisch. Schließlich ist die Hauptfrage der buddhistischen Praxis die psychologische Frage: »Wer nin ich?« Ihre Beantwortung erfordert die Erkundung aller Daseinsbereiche. Diese verwandeln sich somit in Metaphern für verschiedene psychologische Zustände, wodurch das ganze Rad zur Darstellung des neurotischen Leidens wird.
Dem Buddhismus zufolge ist es unsere Furcht davor, uns unmittelbar selbst zu erfahren, die Leiden schafft. Dies schien mir immer sehr gut zu Freuds Ansichten zu passen. So behauptete Freud, der Patient

muß den Mut erwerben, seine Aufmerksamkeit mit den Erscheinungen der Krankheit zu beschäftigen. Die Krankheit selbst darf ihm nichts Verächtliches mehr sein, vielmehr ein würdiger Gegner werden, ein Stück seines Wesens, das sich auf gute Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein späteres Leben zu holen gilt. Die Versöhnung mit dem Verdrängten, welches sich in den Symptomen äußert, wird so von Anfang an vorbereitet, aber es wird auch eine gewisse Toleranz fürs Kranksein eingeräumt.

Der Glaube, daß Versöhnung zur Erlösung führen kann, ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Bereichen. Wir können nicht zur Erleuchtung gelangen, solange wir unserem neurotischen Geist entfremdet bleiben. Wie Freud so weitblickend bemerkte: »Auf diesem Felde muß der Sieg gewonnen werden, dessen Ausdruck die dauernde Genesung von der Neurose ist, ... denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.« In jedem Bereich unserer Erfahrung, lehren die Buddhisten, müssen wir klar sehen lernen. Nur dann läßt sich das Leiden umwandeln, das der Buddha als universell erkannte. Die Erlösung vom Lebensrad, von den Sechs Daseinsbereichen wird traditionell als Nirvana beschrieben und mit dem Pfad symbolisiert, der aus dem Bereich der Menschen hinausführt. Es ist jedoch mittlerweile ein grundlegendes Axiom des buddhistischen Denkens, daß Nirvana Samsara ist – daß es keinen getrennten Bereich des Buddha neben der weltlichen Existenz gibt, daß die Erlösung vom Leiden durch eine veränderte Wahrnehmung gewonnen wird, nicht durch das Überwechseln in ein himmlisches Reich.
Die westliche Psychologie hat viel zur Erhellung der Sechs Bereiche beigetragen. Freud und seine Anhänger deckten die animalische Natur der Leidenschaften auf, die höllische Natur von paranoiden, aggressiven und Angstzuständen sowie die unstillbare Sehnsucht, das orale Verlangen (im Lebensrad sind es die Hungergeister). Spätere Entwicklungen in der Psychotherapie rückten sogar die höheren Bereiche in den Mittelpunkt. Die humanistische Psychotherapie legte den Schwerpunkt auf die »Gipfelerlebnisse« (Maslow) im Bereich der Götter; die Ich–Psychologie, der Behaviorismus und die kognitive Therapie forderten das wettbewerbsfähige und effiziente Ich, das im Buddhismus im Bereich der Neidischen Götter angesiedelt ist; und die Psychologie des Narzißmus behandelte ausdrücklich die für den Bereich der Menschen so wichtigen Fragen der Identität. Jede dieser Richtungen befaßte sich mit der Rückgabe eines fehlenden Stücks menschlicher Erfahrung, eines Moments des neurotischen Geistes, von dem wir uns entfremdet haben.
Das Interesse an der Integration aller Aspekte des Selbst ist grundlegend für die buddhistische Vorstellung von den Sechs Daseinsbereichen. Wir sind nicht nur von diesen Aspekten unseres Charakters entfremdet, behauptet die buddhistische Lehre, sondern auch von unserer eigenen Buddha–Natur, von unserem eigenen erleuchteten Geist. In der Meditation kann man lernen, das ganze Material der Sechs Bereiche zu erschließen und damit alle Punkte, an denen unser Geist haftet.


Der Bereich der Hungrigen Geister


Die Hungergeister sind wahrscheinlich die eindrucksvollsten Gestalten im ganzen Lebensrad. Mit ihren verkrüppelten Gliedmaßen, dick aufgedunsenen Bäuchen und langen, dünnen Hälsen stellen diese phantomartigen Kreaturen auf vielerlei Weise die Verschmelzung von Zorn und Begierde dar. Von unerfüllten Sehnsüchten gepeinigt, verlangen die Hungrigen Geister unablässig nach unmöglichen Befriedigungen, und suchen so, alte, unerfüllte Bedürfnisse zu stillen. Es sind Wesen, die in sich eine schreckliche Leere entdeckt haben, die nicht einsehen, daß es unmöglich ist, im nachhinein etwas zu ändern. Ihr gespenstischer Zustand symbolisiert ihre Bindung an die Vergangenheit.
Außerdem können die Hungergeister, obwohl sie unheimlich hungrig und durstig sind, weder trinken noch essen, ohne daß es ihnen furchtbare Schmerzen bereitet. Ihre langen, dünnen Hälse sind so schmal und wund, daß sie beim Schlucken unerträglich gereizt werden und brennen. Ihre aufgeblasenen Bäuche können keine Nahrung verdauen; alle Versuche, den Hunger zu stillen, verstärken nur noch die Hungergefühle und das Verlangen. Die Hungrigen Geister sind unfähig, sich eine angemessene, wenn auch kurzlebige Befriedigung zu verschaffen. Sie bleiben ständig in der Wahnvorstellung befangen, sie könnten von vergangenem Schmerz vollkommen erlöst werden, und wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß ihr Wunsch unerfüllbar ist. Diese Menschen sind vom Wissen um die Unstillbarkeit ihres Verlangens entfremdet, sie müssen sich ihre Phantasievorstellung erst als eine solche klarmachen. Die Hungergeister müssen mit der gespenstischen Natur ihrer eigenen Sehnsüchte in Berührung kommen.
Dies ist jedoch, selbst mit der Hilfe eines Psychotherapeuten, keine leichte Aufgabe für einen Hungrigen Geist. Problemfälle aus dem Bereich der Hungergeister kommen zunehmend in die Praxis des Psychotherapeuten. Erst kürzlich war Tara, eine Professorin für französische Literaturgeschichte, meine Patientin; ihr Leben war das personifizierte Schicksal der Hungrigen Geister. Sie schilderte eine lange Reihe von Beziehungen mit anderen erfolgreichen Akademikern. Tara fing immer wieder eine leidenschaftliche Liaison zu einem Mann an, während sie noch eine Beziehung zu einem anderen hatte. Dabei hielt sie den Mann, mit dem sie gerade zusammenlebte, immer auf Distanz. Plötzlich entdeckte sie all seine Fehler und Schwächen, sie begann, das sexuelle Interesse an ihm zu verlieren und vor allem ihn daran zu hindern, sie körperlich und emotional zu berühren. Zur gleichen Zeit träumte sie schon von dem anderen, der in ihr Leben treten würde. Sexuell war sie zwar sehr erfahren, doch hatte sie nur selten einen Orgasmus und gestand ein gewisses vages Unbehagen bei Intimitäten. Sie erinnerte sich an eine unglückliche und sehr kritische Mutter, die sie als Kind selten berührt hatte und einmal sogar, als sie wegen Taras Sturheit beleidigt war, deren Teddybär zerrissen hatte. Tara kam in die Therapie, nachdem sie es zuerst mit der Zen-Meditation (Zazen) versucht hatte, vor der sie aus unerfindlichen Gründen große Angst hatte, und zwar so sehr, daß sie aus der Meditations–Halle (Zendo) flüchtete, statt still sitzen zu bleiben.
Tara bemühte sich unentwegt um die Art von Nahrung, die sie früher einmal gebraucht hatte, die jetzt für sie als erwachsene Frau aber unangemessen war. (Selbst wenn sie jemanden gefunden hätte, der sie so »gehalten« hätte, wie ihre Mutter es nie getan hat, wäre es doch unwahrscheinlich, daß sie dies sehr lange befriedigt hätte. Statt dessen hätte sie solche Verhaltensweisen als erdrückend empfunden, da sie für ihre tatsächlichen Bedürfnisse als Erwachsene irrelevant waren.) Sie fürchtete sich vor dem, was sie sich am meisten wünschte, und war unfähig, die kurzzeitigen Befriedigungen zu genießen, die ihr geboten wurden. Die Möglichkeit einer Beziehung zu einem Mann regte Tara nur dazu an, die Phantasie von einer befreienden Beziehung zu einem anderen Mann wieder aufleben zu lassen. Sie begriff nicht, daß sie ein unerreichbares Ideal konstruierte, und widersetzte sich sogar jeder Diskussion über diese Phantasien. Sie war von ihnen getrieben, zugleich aber unfähig, sich ihre Realität, geschweige denn ihre Irrealität einzugestehen. Erst als sie allmählich lernte, ihre Sehnsüchte zu artikulieren, war sie in der Lage, die schmerzlichen Kindheitserlebnisse wiederzubeleben. Von diesem Moment an schwand ihre Angst vor dem Zazen, und ihr wurde ihr zwanghaftes Bedürfnis bewußt, aus dem heraus sie diejenigen schlechtmachte, die mit ihr intim werden wollten.
In der traditionellen Darstellung des Lebensrads erscheint der Bodhisattva des Mitgefühls im Bereich der Hungergeister mit dem Gefäß der himmlischen Speise, einer Schale mit den Symbolen für spirituelle Nahrung. Die Botschaft ist klar: Essen und Trinken vermögen die ungestillten Bedürfnisse dieses Bereichs nicht zu stillen. Nur das nicht urteilende Gewahrsein, das der Buddha vervollkommnet hat, bietet Erlösung.
Diese verzweifelte Sehnsucht nach unerschöpflicher Fülle ist im Abendland weit verbreitet und firmiert in der Psychologie als »geringes Selbstwertgefühl«. Diesen Geisteszustand zu verstehen erwies sich für viele Lehrer des Buddhismus aus dem Osten als besondere Schwierigkeit im Umgang mit ihren westlichen Schülern. Das Ausmaß, in dem die westliche Psyche unter innerer Leere und Minderwertigkeitsgefühlen leidet, erschien den im Osten aufgewachsenen Lehrern überwältigend; auch werden die zwanghaften Kompensationsphantasien, die die Schüler häufig mit eben jenen Lehrern verbinden, nur selten gründlich psychoanalytisch behandelt. Genauso wie man die Leere der Hungrigen Geister erlebt haben muß, um die Stillung alter Bedürfnisse nicht mehr von ungeeigneten Quellen zu erwarten, so muß der von solchen Gefühlen geplagte westliche Schüler die Leere zum Gegenstand seiner Meditation machen. Erst dann läßt sich die Abscheu vor sich selbst in Gelassenheit überführen, eine Aufgabe, bei der Psychotherapie und Meditation einander gut ergänzen.

aus: aus: Mark Epstein, Gedanken ohne den Denker, Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychotherapie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1998
1. Kapitel »Das Lebensrad – ein buddhistisches Modell des neurotischen Geistes«


Dazu zwei Absätze aus der Einleitung zum Kapitel »Die seelische Entwicklung des Kleinkindes aus psychoanalytischer Sicht« von Jochen Stork:

Der Leser wird besser verstehen, welche besondere Bedeutung die frühe Kindheit für die Psychoanalyse hat, wenn wir auf den Grundpfeiler der psychoanalytischen Lehre, auf das Unbewußte und seine spezifische Dynamik verweisen; denn ein Hauptcharakter des Unbewußten ist die Beziehung zum Infantilen – das Unbewußte ist das Infantile (Freud, VII, 401). Mit der Entdeckung des Unbewußten hat Freud die Vorstellung, die sich die Philosophie und klassische Psychologie vom psychischen Geschehen machten, grundlegend revolutioniert. Die große Bedeutung dieser Entdeckung – die nicht ein Postulat, sondern das Ergebnis von systematischen Beobachtungen darstellt – wird erst verständlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß bis zu seiner Zeit »bewußt« und »psychisch« identisch waren (Freud, XIV, 57), man das Bewußtsein für das wesentliche Regulationssystem hielt, welches, in der Kindheit nur unvollständig ausgebildet, im Laufe der Jugendjahre seine Reife erlangt und die Grundlage für alles seelische Erleben darstellt. Neben dieser formalen Organisation existiert ein Gefühlsleben, welches seine eigenen Gesetze hat und von den Prinzipien der Bedürfnisse und Leidenschaften beherrscht ist.
Mit der Freudschen Erkenntnis kam es zu einer Umkehrung der herkömmlichen Denkkategorien und dadurch zu einer tief gehenden Verunsicherung des Menschen. Freud konnte zeigen, daß das Unbewußte die Basis allen seelischen Erlebens ist. Das grundsätzliche Infragestellen der Macht des Verstandes und des Bewußtseins und die Existenz des Unbewußten bedeutet für den Menschen eine schwer erträgliche Verunsicherung, nämlich nicht Herr im eigenen Hause zu sein, seine Gefühle und Phantasien letztlich nicht mit der Kraft des Verstandes beherrschen zu können.

[aus Dieter Eicke (Hrsg.), Tiefenpsychologie, Bd. 2, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1982, S. 131ff. – Hervorhebungen von mir]

Mittwoch, 7. Mai 2008

Die Quelle der Courage

Meditation lässt uns die Wirklichkeit schärfer wahrnehmen und befreit den Geist zum politischen Engagement. Ein Plädoyer für ein neues Bewusstsein, das zum Handeln führt

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Von Michael von Brück

Das Verhältnis von Meditation und politischer Verantwortung ist zwar seit dem benediktinischen Ora et labora (Bete und arbeite) ein Thema des europäischen Geistes, doch ist bis heute unklar, wie beide konkret aufeinander bezogen und gelebt werden sollen. Der Verdacht, Meditation und Mystik entzögen sich den politischen Herausforderungen, prägt nach wie vor die Debatte. Dagegen beteuern Mystikerinnen und Mystiker, dass die geistige Erfahrung »auf dem Marktplatz« gelebt werden müsse. Sie kritisieren, dass die Intentionen vieler Sozialreformer an der institutionellen Oberfläche steckenbleiben, wo doch erst ein verändertes Bewusstsein den Umgang mit den Institutionen und ihr Leben darin verbessern könne.

Dabei gibt es vielfältige Herausforderungen für das politische Handeln. Doch die Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, sind so vielfältig und unüberschaubar geworden, dass wir einen Angelpunkt brauchen, um Prioritäten setzen zu können. Ein solcher möglicher Angelpunkt ist die Analyse und Übung der eigenen Bewusstseinsfunktionen.

Unsere Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken sind geprägt von früheren Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken sowie von gegenwärtigen Eindrücken. Wir nehmen nichts wahr. wie es ist, sondern alles ist eingefärbt durch unser Bewusstsein. Alles ist »gefiltert«. Diesen Filter genau zu kennen und zu »reinigen« ist eine zentrale Aufgabe, wenn wir in unserem Denken und Handeln klarer werden wollen.

Vier grundlegende Aspekte des Bewusstseins lassen sich unterscheiden. Dabei steht die empfindende Wahrnehmung an erster Stelle. Denn von der Achtsamkeit des Bewusstseins auf den gegenwärtigen Augenblick hängt jede ungetrübte und klare Aktion und Reaktion ab. Wir können nicht »angemessen« handeln, wenn das Maß von vornherein nicht stimmt und alles nur verzerrt durch den Spiegel unserer maßlosen Wünsche oder Ängste erscheint. Ästhetik im weitesten Sinne, die staunende Wahrnehmung der Menschen, der Dinge, der Natur, der Kunst und der eigenen Bewusstseinsfunktionen öffnet Möglichkeiten zur Bildung des Menschen, die noch längst nicht ausgeschöpft sind.

Auch Gefühle und Affekte werden durch eine achtsame Wahrnehmung unmittelbar beeinflusst. Sie werden stabiler und kontrollierter. Das urteilende Denken wird durch Achtsamkeit ausgewogener. Es urteilt nicht vorschnell kann Vorurteile als ichzentrierte Projektionen erkennen und die Folgen einzelner Gedanken und Handlungen umfassender abschätzen als ein Denken, das durch einseitige Interessen irregeleitet wird. Entsprechend wird das Handeln vernünftig sein, weil unterschiedliche Aspekte einbezogen werden. Es wird besonnen sein, weil die Affekte kontrolliert werden, und es wird realitätsbezogen sein, weil ichhafte Wunsch- und Angstmuster durchschaut werden.

Ich plädiere deshalb für eine gezielte Bewusstseinsschulung, die das Handeln neu motiviert strukturiert und bewusst gestaltet. Dabei geht es um den Aufbruch aus starr gewordenen Mustern des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Handeins und das auf vier Ebenen: der individuellen, der gemeinschaftlichen, der staatlichen, der globalen.

Wesentlich auf der individuellen Ebene ist die Übung von Achtsamkeit, die nur möglich wird durch eine Entdeckung der Langsamkeit. Lebensqualität stellt sich ein, wenn die angemessene Zeit gefunden wird. Maße und Proportionen sind den Dingen und Abläufen selbst eigen, sie dürfen nicht in Generalisierungen anderen Dingen und Prozessen übergestülpt werden. So kann sich klares Denken im musischen Spiel entfalten, das nicht getrübt wird vom Druck zu schnellen Entscheidungen. Hier wird erkennbar, inwiefern Ästhetik zu einem der wichtigsten Instrumente der Heilung unserer Kultur werden kann: durch die Entdeckung des Schönen in der Langsamkeit.

Achtsamkeit entsteht durch den Rhythmus des Atems. Dieser gibt die Eigengeschwindigkeit oder Eigenzeit des Menschen vor – im Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln. Darum ist Achtsamkeitsübung zunächst nichts anderes als eine Meditation des Atems. Meditationsübungen kennen wir aus allen Kulturen, und sicherlich ist das Meditieren in einer Übungstradition sinnvolL die sich seit Jahrhunderten bewährt hat.

Aber nicht wenige Menschen haben dazu keinen Zugang. Für sie ist es sinnvoller, innezuhalten, die Natur oder ein Kunstwerk zu betrachten oder bei den alltäglichen Verrichtungen genau wahrzunehmen, was sie eigentlich tun. Dabei ist es wichtig, alle Sinne zu erproben und zu sammeln, also etwa den Klang eines rauschenden Baches in allen Details zu vernehmen, sodann sich das Bild des fließenden Wassers einzuprägen: die Augen zu schließen und das Bild im Innern wieder entstehen zu lassen. Meditation ist eine hervorragende Übung der Wahrnehmungsfähigkeit.

Achtsamkeit und Meditation fördern die Intensität von Wahrnehmung und Genuss. Damit wird die Gier nach ständiger Reizstimulation vermindert, was wiederum den Verbrauch von immer neuen Ressourcen (Personen, Beziehungen, Dingen) minimiert. Statt Quantität lernen wir, Qualität zu erleben. Das hat zur Folge, dass wir uns selbst intensiver spüren, ganz dabei sind und das Gefühl bekommen, selbst zu leben und nicht von außen gesteuert zu werden.

Wir sind dann nicht ständig auf der Flucht vor dem ungelebten Leben, das wir in uns ahnen. Wenn wir nicht mehr vor dem Leben und uns selbst davonlaufen, können wir Angst und das Anhaften an Vergangenem, von dem wir Sicherheit erwarten, vertrauensvoll loslassen. Wenn Angst wirklich reduziert wird, folgt daraus eine Verminderung von destruktiven Gedanken und Gewalt. Wenn Gewalt in welcher Form auch immer, vermindert wird, können wir begründete Hoffnung haben.


Dieser Bildungsprozess vollzieht sich nicht im gewohnten Paradigma des technologisch Machbaren, sondern nur durch das geduldige Annehmen von kreativem Neuwerden – und zwar auf allen Ebenen menschlicher Beziehungen: zu sich selbst, im engeren zwischenmenschlichen Bereich, gesellschaftlich und global. Neuwerden bedeutet, verfestigte Seh- und Lebensgewohnheiten loszulassen. Und es bedeutet den Mut zum Neu-Sehen des anderen, den Mut zum ersten Schritt auch den Mut zur Einmischung in unerträgliche Zustände aufzubringen, was gemeinhin unter dem Stichwort »Zivilcourage« angesprochen wird. Oft fällt das schwer, weil die Gewohnheit uns vom Aufbruch abhält – weil das Bedürfnis nach Sicherheit dazu führt, an Gewohntem anzuhaften. Denn das Bewährte verheißt Orientierung und Stabilität aber es verhindert notwendige Anpassungsleistungen. Ein wünschbares Maß wäre das Gleichgewicht zwischen der Tendenz zum Beharren und der Motivation zum kreativen Aufbruch. Und der tut not.

In modernen Gesellschaften droht alles zum Produkt zu werden, Produkte aber werden in Quantitäten gemessen. Davon sind Kultur und Wissenschaft, ja überhaupt alle menschlichen Beziehungen betroffen. Wo alles zum Markt wird, ist der Mensch auf messbare Funktionen reduziert, besonders auf seine Rolle als Verbraucher. Daraus folgt eine Verdinglichung des Menschen und all seiner Beziehungen. Wenn alles Material wird, wird auch der Mensch Material – »Menschenmaterial« ist nicht erst eine zynische Begriffsbildung im tatsächlichen Krieg, sondern in unserer ganzen Wirtschafts- und Wertestruktur! [dazu siehe unten einen Spruch von Dietrich Bonhoeffer]

Was ist dagegen zu tun? Selbstorganisation von kulturellen Subsystemen auf Non-Profit-Basis könnte sich als durchaus sinnvoll erweisen, insofern dadurch das demokratische Kräftespiel unterstützt würde, das Kapital und Medien zur Farce werden zu lassen drohen. Der Staat könnte durch engagierte Zivilcourage, durch Bürgerengagement und Einmischung motiviert werden, seine Aufgabe wahrzunehmen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Wirtschaften zu setzen und durchzusetzen.

Erfindung und Ausübung eines solchen Bürgerengagements gehören in die Lehrpläne der Schulen! Inhalt der notwendigen Weiterentwicklung wären die Optimierung der politischen Wirkung ebenso wie die Qualität des Umgangs miteinander und die genaue Prüfung der Ziele im Sinne nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens.

Es wird dabei darauf ankommen, zu durchschauen, wie Wirtschaft und Politik die Muster unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit prägen. Das ist die Voraussetzung dafür, diese Muster durch kreatives Handeln aufzubrechen. Solange wir dies nicht leisten, werden wir mit unendlicher Gier und in immer größerer Geschwindigkeit die endlichen Ressourcen der Erde verbrauchen. Abgesehen davon, dass einige wenige den größten Teil dieser Ressourcen für sich in Anspruch nehmen, dieses Monopol gewaltsam verteidigen und damit die Ungerechtigkeit bei der Verteilung weltweit dramatisch zunimmt, kann dieser Prozess im endlichen System Erde nicht unendlich lange andauern.

Die Möglichkeit zur Lösung des Widerspruchs liegt in der Eindämmung der Gier und in einem intelligenteren Wirtschaften, das systemisch und nachhaltig arbeitet. Letzteres ist möglich, wenn es politisch gewollt wird; Ersteres ist erreichbar durch Bewusstseinsschulung. Wo eines auf das andere aufbaut, kann den Herausforderungen der Zeit kreativ begegnet werden.

Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Münchner Religionswissenschaftler kürzlich bei einem Symposion des Arbeitskreises Meditation in der Evangelischen Kirche im Rheinland in Wuppertal hielt.
Aus Publik-Forum Nr. 11•2007



Auf LebedeinBestes ist der Artikel auch zu finden, die Seite scheint ganz interessant zu sein.

Der gesamte Vortrag kann hier (Seite der evangelischen Kirche im Rheinland) heruntergeladen werden. Bei denen kann man – hört, hört – auch das Suchwort »Meditation« eingeben. Und wer dann ein bißchen sucht, kann sich eine sehr brauchbare Einführung in Meditation im PDF-Format herunterladen! (Die Zeiten ändern sich! Als ich 1987 auf einer Veranstaltung der Lindauer Psychotherapiewochen etwas von Meditation sagte, wurde ich angesehen, als ob ich dringen psychiatrisch behandlungsbedürftig wäre. Anscheinend besinnen sich die christlichen Kirchen jetzt auf ihre Tradition, und anscheinend wächst im Schoß der Kirche jetzt das zarte Pflänzchen Mystik. Toi, toi, toi!)

Auf dem World Spirit Forum in Arosa hat Michael v. Brück im Januar 2004 einen Vortrag gehalten (Ethik des Seins – Grundlagen für kreative Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft), der hier heruntergeladen werden kann.


Qualität ist der stärkste Feind jeder Art von Vermassung.
Quantitäten machen einander den Raum streitig,
Qualitäten ergänzen einander.

(Dietrich Bonhoeffer, Nach zehn Jahren, Jahreswende 1942/1943)
[eingefügt von mir, nicht von v. Brück]




Michael v. Brück ist ein Freund des Dalai Lama. Dieser sagte ihm einmal: »Michael, das Beste, was Ihr im Westen habt, ist Euer kritisches Bewußtsein. Behaltet es, behaltet es!«


Noch ein Link zu einem Interview mit ihm im Stern

Zu einem Grundsatzartikel über Buddhismus bei geistigenahrung.org

Zu einem Artikel von Vimalo Kulbarz über Erkenntnisaspekte

Als Kontrastprogramm ein Artikel aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 13.9.2007:

Kompromisslose Schnäppchenjäger: 5000 nächtliche Einkäufer brachten die Glastür zum Splittern und sorgten für Chaos – trotz Polizei. ddp

„Das ist die Hölle hier“
5000 Besucher stürmen Berliner Elektromarkt zur Eröffnung / 15 Verletzte

Von Patricia Driese
Berlin. Besucher kletterten über die Kassen und liefen Rolltreppen gegen die Fahrtrichtung hoch, Verkäufer brachen in Tränen aus: Die Eröffnung eines Elektronikmarktes am Berliner Alexanderplatz hat in der Nacht zum Mittwoch Tumulte und Panik ausgelöst. 15 Menschen wurden im Gedränge verletzt, sechs mussten im Krankenhaus behandelt werden. Angezogen von Lockangeboten wollten die rund 5000 Besucher in das „Alexa“-Einkaufszentrum gelangen, wo der neue Markt um Mitternacht den Verkauf begann. Um 1.40 Uhr musste die Polizei die Eingänge sperren, erst um 5 Uhr morgens wurde das Geschäft wieder geöffnet.
„Das ist die Hölle hier“, sagte ein Mitarbeiter des „Media Markts“ im Chaos kurz nach Mitternacht. Verzweifelt versuchten die Angestellten, die Menschenmasse in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Doch selbst rund 70 Sicherheitsleute des Marktes konnten den Ansturm auf die nach Firmenangaben mit 8000 Quadratmetern weltweit größte Filiale der Kette nicht unter Kontrolle bekommen. Zusätzlich mussten 100 Polizisten den überforderten Ordnern zur Hilfe eilen.
In der Warteschlange vor dem Gebäude war es schon vor der Öffnung zu Rangeleien gekommen. Innen geriet die Situation bald außer Kontrolle. Die Glastür des „Alexa“-Haupteingangs hielt dem Andrang nicht stand und zersplitterte. Einige Schnäppchenjäger zogen sich Schnittwunden zu. Rettungskräfte rückten aus. Menschen fielen in Ohnmacht, andere verletzten sich an den Knien. Als der Andrang zu groß wurde, forderten Polizisten auf den Kassen stehend die Käufer mit Lautsprechern auf, das Gebäude sofort zu verlassen. Die Türen wurden danach bis in den frühen Morgen geschlossen.
Der Filialist, der in Berlin und Brandenburg schon 15 Märkte betreibt, zeigte sich von dem Ansturm überrascht. „Wir waren sehr erstaunt, dass so viele Menschen in der Nacht zur Eröffnung kommen – Berlin schläft anscheinend nie“, sagte ein Unternehmenssprecher. Schnäppchen wie etwa ein Laptop für weniger als 500 Euro, ein Mobiltelefon für 39 Euro oder eine Digitalkamera für 130 Euro könnten den Andrang ausgelöst haben. Der Schaden sei noch nicht abzuschätzen. Eine Rolltreppe sei beschädigt worden, Diebstähle seien bisher aber nicht festgestellt worden. Der „Media Markt“ gehört zum neuen „Alexa“-Einkaufszentrum, das am Donnerstag am Alexanderplatz eröffnet wurde.
Massenanstürme auf Geschäfte und Sehenswürdigkeiten sind in Berlin keine Seltenheit. Als im März das KaDeWe seinen 100-jährigen Geburtstag mit 5000 Tortenstücken feierte, bildeten sich bereits am frühen Morgen lange Schlangen vor dem Kaufhaus. Zur Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs 2006 kam eine halbe Million Menschen. dpa

Dienstag, 6. Mai 2008

Der Psychische Apparat

Genug aufs Filpchart gemalt, hier kann man ihn sich ansehen:


Montag, 5. Mai 2008

Was Gutes …





aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (Danke, Frau G)


und da ich schon mal bei der Selbstkritik bin:

Danke, Frau B.

Sonntag, 4. Mai 2008

Wer ist hier verrückt?

„… Herr X hat sich zu fügen.“

Herr X. hat die meiste Zeit seines Lebens in Heimen, Psychiatrien, Gefängnissen zugebracht. Zu mir kam er 2001, schwer behindert und herzkrank. Psychotherapie war Bewährungsauflage. Wir kamen gut miteinander zurecht. Seine aggressiven Durchbrüche und Selbstverletzungen nahmen ab. Behördengänge machte er allein, im Wohnheim gab es ohnehin lange keinen Sozialdienst Natürlich kam es auch zu Rückfällen: Im Sommer rief mich em Mitbewohner an, Herr X drohe, sich umzubringen. Ich hörte ihn lautstark randalieren. Als er kurze Zeit später aus der Psychiatrie zurückkam, wollte man ihm verbieten, zu seinem langjährigen Hausarzt Dr. W. zu gehen. Zuständig sei der Heimarzt Dr. A. Ich schrieb an Schwester L., der Patient habe das Recht auf freie Arztwahl. Keine Antwort. Der Patient klagte, er würde „fertig gemacht“. Wenige Tage später nahm er Tabletten. Erneute Einweisung.

Die Psychiatrie in Offenburg gab ihm Wochenendurlaub. Als er vereinbarungsgemäß wieder zurück wollte, wurde ihm das von Dr. A. verboten. In der Klinik wußte man nicht, daß Dr. A. nicht der behandelnde Arzt war. Im Heim wurden die Suizidversuche als „Spielchen“ abgetan. Der Bewährungshelfer habe Hausarrest bis zum Ende der Bewährung angeordnet. Das war gelogen. Der eingesperrte Patient verweigerte eine Behandlung durch Dr. A.. „Dr. A. ist der Heimarzt. Herr X. hat sich den Anweisungen zu fügen“, sagte mir Sr. A.

Am 7.10.2005 schrieb mir Dr. A. und „ordnete an“ „ … die psychotherapeutischen Bemühungen bei Herrn X werden mit sofortiger Wirkung wegen immer schon fehlender Indikation … eingestellt.“ Dem war ein „aktueller ärztlicher Befundbericht“ an das Gericht mit dem Antrag auf Beendigung der Psychotherapie beigefügt. Das Schreiben datierte vom 31.8. (!): „Bei Herrn X liegt … eine Verhaltensabnormität vor, die auf Zerstörung und Schädigung … angelegt ist … Die intellektuelle Ansprechbarkeit ist auf dem Niveau eines nicht schulreifen Kindes … Bei solchen Voraussetzungen [sind] keine Pharmako- und erst recht keine Psychotherapie möglich … In Zeiten eines zunehmenden Heeres von Psychologen, Psychotherapieanbietern, Heilpraktikern und Esoterikern mit … narzißtischer Selbstüberschätzung [ist] eine medizinisch-psychiatrische Diagnose … eher ein Störfaktor … Die beauftragte Psychotherapeutin hat …, von keinerlei Sachkenntnis getrübt, Psychotherapie betrieben, obwohl es nichts zu therapieren gab. Sogar mit tiefenpsychologischen … Methoden wurde versucht, in dem nicht vorhandenen Unterbewußtsein des verständnislosen Herrn X Ordnung zu schaffen …“

Eine Kopie des Schreibens hatte der Heimarzt an die Ärztekammer geschickt, bestätigte deren Präsident und schrieb mir, es käme immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen über Indikationen. Dafür sei die Ärztekammer nicht zuständig, ebenso wenig für den „Ehrenschutz“. In der Berufsordnung lese ich anderes.

Der Druck auf den Patienten wurde unerträglich. Eine Woche lang war das Telefon gesperrt. Lediglich Sr. L. und Dr. A. konnten angerufen werden. Von der Klinik verordnete Medikamente wurden vorenthalten. Ich hämmerte dem Patienten ein: Maul halten. Er schaffte es und bot keine Angriffsfläche. Aber dann kam er völlig verzweifelt: Er müsse noch am selben Abend seine Zustimmung geben, vom Heimarzt behandelt zu werden. Ich rief den Hausarzt Dr. W. an: Ja, der Patient solle gleich kommen. „Er hat mir so leid getan, der zittert ja nur noch“, meinte er danach und wies ihn ins Krankenhaus ein. Der Dienst habende Arzt konnte es nicht fassen: „Das gibt es doch nicht!“

Richter Royen meinte, die Angelegenheit dürfe nicht auf dem Rücken des Patienten ausgetragen werden. Ich vertraute ihm. Das war falsch. Am 8.11. rief ich ihn an. Er werde die gerichtliche Weisung auf Psychotherapie aufheben. Dem Patienten sei unbenommen, als normaler Krankenversicherter eine Therapie zu machen und habe auch freie Arztwahl. „Aber wie soll er sein Recht durchsetzen?“ – „Das beweist, daß er einen Betreuer braucht“, war die Logik des Richters. Der gestellte Antrag auf Anhörung würde den Patienten überfordern. Er kennt den Patienten nicht. Sein Wille: es solle Ruhe einkehren. Ich erwiderte: „Es gibt auch die Friedhofsruhe.“ – „Ein Richter ist dazu da…“ Ich unterbrach: „Recht zu sprechen.“ – „Dazu bedarf ich von Ihnen keiner Belehrung“, war die Antwort.

Sr. L. und Dr. A. sind emotional verwickelt. Sie können – trotz allem – „mildernde Umstände“ beanspruchen. Aber Richter Royen? Weit entfernt von der Dynamik hätte er lediglich seinen Job anständig machen müssen. Ist das zu viel verlangt?

Zurück aus der Klinik wurden dem Patienten erneut Medikamente vorenthalten. Das Verordnungsblatt lag dem Hausarzt vor – aber der Patient durfte nicht hin. Ein Anwalt wurde eingeschaltet und teilte einer konsternierten Sr. L. mit, die Psychotherapie würde im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung fortgesetzt, ebenso habe der Patient freie Arztwahl. Ferner bestreite der Bewährungshelfer, je Hausarrest verordnet zu haben. Das war am 21.11.05.

Am 24.11. rief der Patient aus dem PLK Emmendingen an. Morgens habe Sr. L. gesagt: „Sachen packen“ und ab die Post. Er war wütend und durcheinander. Ich war eher erleichtert – alles schien mir besser als das Pflegeheim.

Es stellte sich heraus: Dr. A. hatte – ohne den Patienten gesehen zu haben – eine Zwangseinweisung veranlaßt. Das Einweisungsformular trägt das Datum des Vortags. Keine Rede von „Gefahr im Verzug“. Dumm auch, daß es den VK Ausdruck aufweist. Wie kam Dr. A. an die Versichertenkarte?

Der Aufnahmearzt in Emmendingen meinte, Dr. A. hätte „Schriftstücke“ mitgeschickt, „die für sich sprechen“. Dieser Arzt würde den Patienten nicht zurück schicken.

Ein Patient wie dieser hat schlechte Karten, wenn ein Herr Doktor und das Pflegepersonal was sagen. Ich selbst habe mich oft gefragt und wurde gefragt: Übertreibt er nicht? Er hat nicht übertrieben. Jetzt bleibt einiges zu tun, damit das Verrückte wieder zurechtgerückt wird. In diesem Einzelfall. Aber ist es ein Einzelfall?

Ursula Neumann in bvvp-magazin 2/2006

Liebe Standesvertreter und liebe Politiker,
Ihr könnt so viele Fortbildungs- und Qualitätsmanagement-Verpflichtungen losschicken, wie ihr wollt: Ein offenes Herz und ein wacher Verstand lassen sich nicht erzwingen.

Samstag, 3. Mai 2008

Armer Robbie!

Robbie Williams hat die Klinik, in der er sich wegen seiner Tablettensucht aufhielt, gegen den Rat der Ärzte schon nach drei statt nach vier Wochen verlassen. Seine Mutter, die selbst Drogenberaterin ist, »wird ihn unterstützen«, las ich heute in der HAZ. Jetzt braucht man nur noch eins und eins zusammenzählen.

Im Video zu »Rock DJ« reißt sich Robbie lachend alles vom Leib, was man sich »vom Leib reißen« kann …




… und steht schließlich als fröhlich tanzendes Skelett da.


Bei My Video und Yahoo kann man sich das Video ansehen.



Einen der auf Yahoo hinterlassenen Kommentare will ich nicht vorenthalten:
»I say we vote that that put more sexy guys flaunting their bodies around on videos... feed us hungry eyed women.«

Everything you want, baby…


Im Internet gibt es einige nachdenkliche Kommentare, u.a. bei www.theomag.de und bei Jungle World. Die Tendenz dieser Deutungen bezieht sich auf den Kontext Musikindustrie. Wenn wir den Kontext auf seine Drogenprobleme und die liebevolle Nachbetreuung durch seine Mutter verschieben, ändert sich auch die »Be-Deutung«. Aus einem Entertainer, der für seinen Erfolg bezahlen muß, wird ein Junge, der hinter der Maske des fröhlichen Lächelns verzweifelt gleichzeitig versucht, etwas loszuwerden und etwas zu bekommen. Dieser Versuch (man denke an Harald Juhnke) kann nur kurzfristig entlasten und muß langfristig scheitern. Ich lade dazu ein, darüber zu phantasieren, was Robbie da wohl loswerden will und nach was er dürstet und warum.



Man schaue sich die wenigen Szenen, in denen Robbie Williams zu sehen ist, an: entweder er tut unbeteiligt, oder er übertreibt. Die beiden Gegenteile sind dasselbe, beides soll die Not hinter der Fassade verbergen.

Bert Hellinger, der Familienaufstellungs-Guru, haut vorschlaghammerartig ab und zu Sätze raus wie diesen: »Jemand wird süchtig, wenn ihm die Mutter gesagt hat: Was vom Vater kommt, taugt nichts. Nimm nur von mir. Dann rächt sich das Kind an der Mutter und nimmt so viel von ihr, dass es ihm schadet. Die Sucht ist also die Rache des Kindes an seiner Mutter, weil sie verhindert, vom Vater zu nehmen.« (gefunden bei »Die Psychoszene hat einen neuen Star« im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt vom 6.10.2000 auf »mitglied.lycos.de/ueberlebende«) Abgesehen davon, daß seine rabiaten Aufstellungspräsentationen wohl häufig mehr schaden als nutzen und der Absolutheitsanspruch seiner Realitätsbeschreibungen mit äußerster Vorsicht zu genießen ist (man führe sich den eben erwähnten Artikel ruhig zu Gemüte), steckt in dieser Äußerung über die Sucht meiner Meinung nach einiges an Wahrheit. (Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß sich das Kind meiner Meinung nach nicht an der Mutter rächt, dazu ist es nicht souverän genug.) Wenn wir Robbie Williams’ Drogenprobleme unter diesem Aspekt betrachten, bekommen wir eine Ahnung davon, was sich Robbie da vom Leib reißt. Und wenn wir uns vergegenwärtigen, wer ihn nach seinem Klinikaufenthalt so liebevoll betreut, läuft es einem kalt den Rücken runter.

Unter diesem Aspekt wird deutlich, wie zumindest ein Teil des Erfolgs von Robbie (»beliebtester Schwiegersohn«) zustandekommt: Wir erleben einen Entertainer, der fröhlich um sein Leben singt, dessen verzweifelter Versuch um eine stabile Perspektive im Leben unsere eigene Verzweiflung an unserer Existenz künstlerisch überhöht und damit aushaltbarer macht.


»Was ist der Unterschied zwischen Piranhas und klammernden Müttern?
Der Piranha läßt mal los.« (Dr. Mathias Hirsch, Psychotherapeut in der Bruker-Klinik Lahnhöhe bei Lahnstein)

In diesem Kontext ein Zitat aus Erich Neumanns Buch »Ursprungsgeschichte des Bewußtseins« (Kapitel 2, Die große Mutter):

Die tödliche Spannung zwischen den orgiastischen Festen, in denen der Jüngling als Phallus die zentrale Rolle spielt, und der nachfolgenden rituellen Kastration und Tötung bestimmt archetypisch die Situation des Jünglings-Ich unter der Dominanz der Großen Mutter. Diese archetypische Situation ist sowohl kulturgeschichtlich aufzuweisen, wie entwicklungsgeschichtlich von der psychologischen Geschichte des Ich, aus zu verstehen. Die Beziehung des Sohngeliebten zur Großen Mutter ist eine archetypisch wirksame Situation, deren Überwindung auch heute noch die Voraussetzung ist für eine Weiterentwicklung des Ich und des Bewußtseins.Die blütenhaften Jünglingsknaben sind noch nicht stark genug, sich gegen die Übermacht der Großen Mutter wehren oder gar sie überwinden zu können. Noch sind sie mehr Geliebte als Liebende. Denn die Göttin ist die Begehrende, die sich die Knaben wählt und ihre Sexualität weckt. Die Aktivität geht niemals von ihnen aus, sondern sie sind Opfer, blütenhaft hinsterbende Geliebte. Der Jüngling dieser Stufe hat noch keine Männlichkeit, kein Bewußtsein, kein oberes geistiges Ich. Er ist narzißtisch identisch mit seinem männlichen Körper und dem, was ihn kennzeichnet, dem Phallus. Nicht nur, daß die Muttergöttin ihn nur als Phallus liebt und, kastrierend, sich seines Phallus bemächtigt zu ihrer Fruchtbarkeit, auch der Jüngling selber ist noch identisch mit dem Phallus, sein Schicksal ist Phallusschicksal.Die Jünglinge, ichschwach und ohne Persönlichkeit, besitzen nur ein kollektives Schicksal, kein eigenes, sie sind noch keine Individuen und haben so auch kein individuelles, sondern nur ein rituelles Dasein. Und auch die Muttergöttin ist nicht auf ein Individuum bezogen, sondern auf den Jüngling als eine archetypische Gestalt.

Und jetzt wissen wir ungefähr, wo sich Robbie aufhält, gegen was er – vergeblich – kämpft und was er zu betäuben versucht. Und wir können gespannt sein, wie es mit ihm weitergeht: »I hope I’m getting old before I die.«

Ich empfehle das Buch von Rafael Yglesias »Dr. Nerudas Kampf gegen das Böse«. Hier geht es nämlich nicht nur um Klammern…

Freitag, 2. Mai 2008

Der Mönch und die Katze

Ein großer Mönch lag im Sterben und ließ seinen Nachfolger, einen jungen Mann, kommen und sagte: „Merk dir nur eines: Lass’ keine Katze in dein Leben.“ Sprach’s – und starb. Draußen hatte sich eine große Menge versammelt, um die letzten Worte dieses großen Heiligen zu vernehmen.
Aber was bekamen sie zu hören?! „Laßt keine Katze in euer Leben!“
Der Nachfolger sagte: „Mein Gott, wer will denn schon eine Katze in sein Leben reinlassen? Ist das etwa die ganze Religion?!“ Aber ein alter Mann – auch einer der selber zu alt war, um als Nachfolger in Frage zu kommen – sagte: „Du mußt wissen, daß dem eine lange Geschichte vorausgegangen ist. Er hat dir nur sein Fazit mitgeteilt.“ Der junge Mann sagte: „Dann muß ich die ganze Geschichte erfahren!“

Die Geschichte war, daß der Mönch, nachdem er seiner Frau und seinen Kindern und seinem Haus entsagt hatte, in den Himalaja gezogen war, wo er in einen kleinen Dorf' wohnte. Wo sonst soll er sein Essen herkriegen? Aber die Leute im Dorf waren froh einen Mönch zu beherbergen, also bauten sie ihm eine kleine Bambushütte.
Die indischen Mönche trugen statt Unterwäsche nur ein sogenanntes langot – ein langes Stoffband, nichts weiter als ein langer Streifen, mit dem sie sich einwickeln. Sie durften nur zwei langotis haben. Aber bald gab es ein Problem: Ein paar Ratten hatten sich bei ihm eingenistet und angefangen, eins seiner langotis zu zernagen. Der Mann wußte nicht, was er tun sollte; er hatte nur zwei, und die konnten nicht mehr lange halten. Also fragte er im Dorf um Rat: „Was tun? Denn meine Sekte gesteht einem Mönch nur zwei langotis zu. Das ist sein ganzer Besitz.“
Sie rieten: „Warum besorgst du dir keine Katze aus dem Dorf? Die wird die Ratten töten.“ Eine völlig logische Lösung also. Und so erhielt er eine gute Katze, und die Katze erlegte die Ratten. Aber das Problem war, daß jetzt auch die Katze ihr Futter brauchte, denn es gab keine Ratten mehr. Also mußte er für die Katze etwas Milch betteln gehen.
Die Leute sagten: „Unser Dorf ist nur klein … das Beste für uns wäre, wenn du dir eine Kuh hältst. Wir alle im Dorf' können zusammenlegen, und mit dem Geld kannst du dir eine wunderschöne Kuh kaufen. Und auf diese Weise wirst du genug Milch für dich und deine Katze haben.“ Das klang richtig, und so wurde eine wunderschöne Kuh angeschafft. Jetzt aber war das Problem, daß die Kuh Gras brauchte. Also mußte er jeden Tag im Dorf um gras betteln gehen. Die Leute sagten: „Das schickt sich nicht. Wir haben noch nie gehört, daß ein Mönch um Gras bettelt! Das ist nicht Sitte.“

Er sagte: „Aber was soll ich machen? Meine Kuh, meine Katze …“
Also sagten sie: „Eine simple Lösung: Wir sind ein einfaches Landvolk, wir wissen nicht viel über deine Philosophie. Bei uns ist eine Frau verwitwet, ihr Mann ist tot, und sie hat niemanden. Also werden wir sie überreden. Sie wird liebend gern einem Heiligen dienen, und dann brauchst du nicht mehr jeden tag herzukommen. Wir werden ein Stück Land neben deiner Hütte roden, und sie kann Gras darauf säen … und wenn du mal krank und bettlägerig wirst, wird sie sich deiner annehmen.“

Der Gedanke war richtig – sie hatten immer Recht. Es bedurfte nicht viel, um die Frau zu überreden; sie war allein und der Mönch war jung … sie witterte eine Möglichkeit, sie machte sich Hoffnung. Also war sie sofort bereit. Sie wurde seine Haushälterin, und wie ihr euch denken könnte: Es kam, wie es kommen mußte …
Basho sagt: „Das Gras wächst von selbst.“ Tatsächlich wächst so manches von selbst. Und so wuchs denn das Gras und sie verliebten sich … die Frau war schön, der Mönch war jung. Was brauchte man mehr?
Sie arbeiteten auf dem Feld, sie begannen Weizen und Gras anzubauen. Die Katze fühlte sich sohl, die Kuh fühlte sch wohl, und alles lief bestens. Und schließlich kam es zum Unabwendbaren – es kamen Kinder!
Und da schoß ihm durch den Kopf: „Mein Gott! Genau das hatte ich doch alles längst hinter mir gelassen – jetzt geht das wieder von vorne los: die ganze Welt! Es ist so langsam gegangen, daß ich es nicht eher bemerkte, als bis die Kinder kamen.“
Jetzt war nur der Katze wegen die ganze Welt wieder da.

Der alte Mann sagte: „Das war sein Fazit, sein letztes Wort. Er hat dir gesagt: ‚Denk dran, laß’ nie eine Katze rein.’ Weil hinter der Katze die ganze Welt hereinspaziert kommt. Er hat an seine eigene Lebensgeschichte denken müssen – wie er sich wieder in dieselbe Welt verwickeln ließ – und die Leute begannen ihn auszulachen: ‚Und so was will ein Mönch sein? Du hältst dir eine Frau! Du bist gefallen! Was ist nur aus dir geworden!’ Aber was konnte er nun machen?“, fuhr der Alte fort. „Wenn du einmal gefallen bist, bist du gefallen, dann ist es sehr schwer wieder aufzustehen. Er verspürte oft wieder den Wunsch zu entsagen, aber dann sagte er sich: ‚Was soll’s? Ratten gibt es überall. Und dann geht wieder dieselbe Geschichte los. Ich halte besser den Mund.’“

Dein Geist, dein Körper – beides braucht bestimmte Dinge. Du kannst der Welt nicht entsagen, du kannst nur zum Bettler werden. Aber wer zum Bettler wird, ist damit noch kein Heiliger. Mein Standpunkt ist klipp und klar: Ich möchte, daß ihr in der Welt lebt. Ihr braucht vor nichts Angst zu haben. Ihr braucht nur eure Lebensenergie nach innen zu lenken. Und das macht den ganzen Unterschied aus: Du bleibst in der Welt, aber ohne weltlich zu werden. Du bist in der Welt, aber die Welt ist nicht in dir.“

… schön wär’s, eine Zen-Geschichte, erzählt von Osho, Osho-Times 1/07

Donnerstag, 1. Mai 2008

So kann man’s auch sehen…

Bevor ich zum Thema komme, muß ich noch die Grundprämisse der Zauberei erklären, wie Don Juan sie mir darlegte. Für einen Zauberer, sagte er, sei die Welt des alltäglichen Lebens nicht wirklich oder so, wie wir dies annehmen. Für einen Zauberer sei die Wirklichkeit oder die Welt, die wir alle kennen, nur eine Beschreibung.
Um diese Prämisse zu begründen, gab Don Juan sich alle Mühe, mich davon zu überzeugen, daß das, was in meinen Augen die wirklich vorhandene Welt war, nur eine Beschreibung der Welt sei; eine Beschreibung, die mir seit dem Augenblick meiner Geburt eingehämmert worden sei.
Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erkläre, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird. Nach Don Juan haben wir keine Erinnerung an diesen folgenschweren Augenblick, einfach weil wir keinen Bezugsrahmen hatten, in dem wir ihn mit etwas anderem hätten vergleichen können. Doch von diesem Augenblick an ist das Kind ein Mitglied. Es kennt die Beschreibung der Welt; und es erreicht, glaube ich, die volle Mitgliedschaft, wenn es in der Lage ist, alle seine Wahrnehmungen so zu deuten, daß sie mit dieser Beschreibung übereinstimmen und sie dadurch bestätigen.
Für Don Juan besteht die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens daher aus einem endlosen Fluß von Wahrnehmungsinterpretationen, welche wir, die Individuen, denen eine bestimmte Mitgliedschaft gemeinsam ist, gemeinsam anzustellen gelernt haben.
Die Vorstellung, daß die Wahrnehmungsinterpretationen, welche die Welt konstituieren, im Fluß begriffen sind, stimmt mit der Tatsache überein, daß sie ununterbrochen stattfinden und selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt werden. Tatsächlich wird die Realität der Welt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen, daß die Grundprämisse der Zauberei, nämlich daß unsere Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaum eine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden.
Im Fall meiner Lehrzeit kümmerte sich Don Juan glücklicherweise überhaupt nicht darum, ob ich seine Behauptung als seriös akzeptieren konnte, und trotz meines Widerstands, meines Unglaubens und meiner Unfähigkeit, zu verstehen was er sagte, erläuterte er seine Feststellungen immer wieder. Als Lehrer war Don Juan also bestrebt, mir von unserem ersten Gespräch an die Welt zu beschreiben. Meine Schwierigkeiten, seine Begriffe und Methoden zu erfassen, rührten von der Tatsache her, daß die Einheiten seiner Beschreibung meinen eigenen fremd und mit ihnen unvereinbar waren.
Er war davon überzeugt, daß er mich »Sehen« lehrte, im Gegensatz zum bloßen »Schauen«, und daß der erste Schritt zum Sehen darin bestünde, »die Welt anzuhalten«.
Jahrelang hatte ich die Vorstellung, »die Welt anzuhalten«, als kryptische Metapher aufgefaßt, die in Wirklichkeit nichts besagte. Erst im Verlauf einer formlosen Unterhaltung gegen Ende meiner Lehrzeit geschah es, daß ich ihre Tragweite und ihre Bedeutung als eines der wichtigsten Elemente von Don Juans Wissen voll erfaßte.…
Don Juan sagte, daß man, um zu »sehen«, zuerst die Welt anhalten müsse. »Die Welt anhalten« war tatsächlich eine zutreffende Bezeichnung für bestimmte Bewußtseinszustände, in denen die Realität des alltäglichen Lebens verändert ist, weil der Strom der Interpretationen, der für gewöhnlich ununterbrochen fließt, durch eine Reihe ihm fremder Umstände unterbrochen ist. In meinem Fall bestanden diese meinem normalen Interpretationsfluß fremden Umstände in der zur Zauberei gehörigen Beschreibung der Welt. Für das »Anhalten der Welt« stellte Don Juan die Bedingung, daß man überzeugt sein mußte; mit anderen Worten, man mußte die neue Beschreibung in einem totalen Sinn erlernen, um sie gegen die alte auszuspielen und dadurch die uns allen gemeinsame dogmatische Sicherheit zu zerbrechen, daß die Gültigkeit unserer Wahrnehmung oder unserer Wirklichkeit der Welt nicht bezweifelt werden könne.
aus Castaneda, Die Reise nach Ixtlan, Fischer TB 1975, S. 8f.
Links zu:
Carlos Castaneda
Tensegrity

Seite, auf der Castanedas Person und Werk kritisch hinterfragt wird: www.sustainedaction.org

Die buddhistischen Meditationsmeister wissen, wie flexibel und beeinflußbar der Geist ist. Wenn wir ihn trainieren, ist alles möglich. Tatsächlich sind wir ja bereits perfekt von und für Samsara trainiert: Wir haben Übung darin, eifersüchtig zu werden, festzuhalten, ängstlich, traurig, verzweifelt und gierig zu sein, wir sind geübt, mit Arger auf alles zu reagieren, was uns provoziert. Wir sind tatsächlich schon so geübt, daß diese negativen Emotionen ganz spontan entstehen, ohne daß wir auch nur versuchen müßten, sie hervorzurufen. Alles ist daher eine Frage der Übung und der Macht der Gewohnheit.

Widmen wir den Geist der Verwirrung, wird er – und das wissen wir alle nur zu gut, wenn wir ehrlich sind – ein dunkler Meister der Verblendung, genial im Erzeugen von Suchten, geschickt und von perverser Geschmeidigkeit in seinen sklavischen Abhängigkeiten.

Widmen wir ihn aber der Meditation und dem Ziel, sich selbst von Täuschung zu befreien, werden wir erleben, daß sich unser Geist im Laufe der Zeit – mit Geduld, Disziplin und der rechten Übung – allmählich selbst zu entwirren beginnt und zu seiner ihm innewohnenden Glückseligkeit und Klarheit findet.



Einer der Hauptgründe, warum wir so viel Angst haben, uns dem Tod zu stellen, liegt darin, daß wir die Wahrheit der Vergänglichkeit ignorieren.

Für uns ist Wandel gleichbedeutend mit Verlust und Leid. Und wenn sich Veränderung einstellt, versuchen wir, uns so gut wie möglich zu betäuben. Stur und ohne nachzufragen halten wir an der Annahme fest, daß Dauerhaftigkeit Sicherheit verleiht, Vergänglichkeit hingegen nicht. Tatsächlich aber gleicht die Vergänglichkeit bestimmten Leuten, denen wir im Leben manchmal begegnen: Anfangs finden wir sie schwierig und irritierend, aber bei näherer Bekanntschaft sind sie viel freundlicher und angenehmer, als wir uns je hätten vorstellen können.

aus Sogyal Rinpoche, Funken der Erleuchtung