Bevor ich zum Thema komme, muß ich noch die Grundprämisse der Zauberei erklären, wie Don Juan sie mir darlegte. Für einen Zauberer, sagte er, sei die Welt des alltäglichen Lebens nicht wirklich oder so, wie wir dies annehmen. Für einen Zauberer sei die Wirklichkeit oder die Welt, die wir alle kennen, nur eine Beschreibung.
Um diese Prämisse zu begründen, gab Don Juan sich alle Mühe, mich davon zu überzeugen, daß das, was in meinen Augen die wirklich vorhandene Welt war, nur eine Beschreibung der Welt sei; eine Beschreibung, die mir seit dem Augenblick meiner Geburt eingehämmert worden sei.
Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erkläre, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird. Nach Don Juan haben wir keine Erinnerung an diesen folgenschweren Augenblick, einfach weil wir keinen Bezugsrahmen hatten, in dem wir ihn mit etwas anderem hätten vergleichen können. Doch von diesem Augenblick an ist das Kind ein Mitglied. Es kennt die Beschreibung der Welt; und es erreicht, glaube ich, die volle Mitgliedschaft, wenn es in der Lage ist, alle seine Wahrnehmungen so zu deuten, daß sie mit dieser Beschreibung übereinstimmen und sie dadurch bestätigen.
Für Don Juan besteht die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens daher aus einem endlosen Fluß von Wahrnehmungsinterpretationen, welche wir, die Individuen, denen eine bestimmte Mitgliedschaft gemeinsam ist, gemeinsam anzustellen gelernt haben.
Die Vorstellung, daß die Wahrnehmungsinterpretationen, welche die Welt konstituieren, im Fluß begriffen sind, stimmt mit der Tatsache überein, daß sie ununterbrochen stattfinden und selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt werden. Tatsächlich wird die Realität der Welt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen, daß die Grundprämisse der Zauberei, nämlich daß unsere Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaum eine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden.
Im Fall meiner Lehrzeit kümmerte sich Don Juan glücklicherweise überhaupt nicht darum, ob ich seine Behauptung als seriös akzeptieren konnte, und trotz meines Widerstands, meines Unglaubens und meiner Unfähigkeit, zu verstehen was er sagte, erläuterte er seine Feststellungen immer wieder. Als Lehrer war Don Juan also bestrebt, mir von unserem ersten Gespräch an die Welt zu beschreiben. Meine Schwierigkeiten, seine Begriffe und Methoden zu erfassen, rührten von der Tatsache her, daß die Einheiten seiner Beschreibung meinen eigenen fremd und mit ihnen unvereinbar waren.
Er war davon überzeugt, daß er mich »Sehen« lehrte, im Gegensatz zum bloßen »Schauen«, und daß der erste Schritt zum Sehen darin bestünde, »die Welt anzuhalten«.
Jahrelang hatte ich die Vorstellung, »die Welt anzuhalten«, als kryptische Metapher aufgefaßt, die in Wirklichkeit nichts besagte. Erst im Verlauf einer formlosen Unterhaltung gegen Ende meiner Lehrzeit geschah es, daß ich ihre Tragweite und ihre Bedeutung als eines der wichtigsten Elemente von Don Juans Wissen voll erfaßte.…
Don Juan sagte, daß man, um zu »sehen«, zuerst die Welt anhalten müsse. »Die Welt anhalten« war tatsächlich eine zutreffende Bezeichnung für bestimmte Bewußtseinszustände, in denen die Realität des alltäglichen Lebens verändert ist, weil der Strom der Interpretationen, der für gewöhnlich ununterbrochen fließt, durch eine Reihe ihm fremder Umstände unterbrochen ist. In meinem Fall bestanden diese meinem normalen Interpretationsfluß fremden Umstände in der zur Zauberei gehörigen Beschreibung der Welt. Für das »Anhalten der Welt« stellte Don Juan die Bedingung, daß man überzeugt sein mußte; mit anderen Worten, man mußte die neue Beschreibung in einem totalen Sinn erlernen, um sie gegen die alte auszuspielen und dadurch die uns allen gemeinsame dogmatische Sicherheit zu zerbrechen, daß die Gültigkeit unserer Wahrnehmung oder unserer Wirklichkeit der Welt nicht bezweifelt werden könne.
Carlos Castaneda
Tensegrity
Seite, auf der Castanedas Person und Werk kritisch hinterfragt wird: www.sustainedaction.org
Die buddhistischen Meditationsmeister wissen, wie flexibel und beeinflußbar der Geist ist. Wenn wir ihn trainieren, ist alles möglich. Tatsächlich sind wir ja bereits perfekt von und für Samsara trainiert: Wir haben Übung darin, eifersüchtig zu werden, festzuhalten, ängstlich, traurig, verzweifelt und gierig zu sein, wir sind geübt, mit Arger auf alles zu reagieren, was uns provoziert. Wir sind tatsächlich schon so geübt, daß diese negativen Emotionen ganz spontan entstehen, ohne daß wir auch nur versuchen müßten, sie hervorzurufen. Alles ist daher eine Frage der Übung und der Macht der Gewohnheit.
Widmen wir den Geist der Verwirrung, wird er – und das wissen wir alle nur zu gut, wenn wir ehrlich sind – ein dunkler Meister der Verblendung, genial im Erzeugen von Suchten, geschickt und von perverser Geschmeidigkeit in seinen sklavischen Abhängigkeiten.
Widmen wir ihn aber der Meditation und dem Ziel, sich selbst von Täuschung zu befreien, werden wir erleben, daß sich unser Geist im Laufe der Zeit – mit Geduld, Disziplin und der rechten Übung – allmählich selbst zu entwirren beginnt und zu seiner ihm innewohnenden Glückseligkeit und Klarheit findet.
Einer der Hauptgründe, warum wir so viel Angst haben, uns dem Tod zu stellen, liegt darin, daß wir die Wahrheit der Vergänglichkeit ignorieren.
Für uns ist Wandel gleichbedeutend mit Verlust und Leid. Und wenn sich Veränderung einstellt, versuchen wir, uns so gut wie möglich zu betäuben. Stur und ohne nachzufragen halten wir an der Annahme fest, daß Dauerhaftigkeit Sicherheit verleiht, Vergänglichkeit hingegen nicht. Tatsächlich aber gleicht die Vergänglichkeit bestimmten Leuten, denen wir im Leben manchmal begegnen: Anfangs finden wir sie schwierig und irritierend, aber bei näherer Bekanntschaft sind sie viel freundlicher und angenehmer, als wir uns je hätten vorstellen können.
Um diese Prämisse zu begründen, gab Don Juan sich alle Mühe, mich davon zu überzeugen, daß das, was in meinen Augen die wirklich vorhandene Welt war, nur eine Beschreibung der Welt sei; eine Beschreibung, die mir seit dem Augenblick meiner Geburt eingehämmert worden sei.
Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erkläre, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird. Nach Don Juan haben wir keine Erinnerung an diesen folgenschweren Augenblick, einfach weil wir keinen Bezugsrahmen hatten, in dem wir ihn mit etwas anderem hätten vergleichen können. Doch von diesem Augenblick an ist das Kind ein Mitglied. Es kennt die Beschreibung der Welt; und es erreicht, glaube ich, die volle Mitgliedschaft, wenn es in der Lage ist, alle seine Wahrnehmungen so zu deuten, daß sie mit dieser Beschreibung übereinstimmen und sie dadurch bestätigen.
Für Don Juan besteht die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens daher aus einem endlosen Fluß von Wahrnehmungsinterpretationen, welche wir, die Individuen, denen eine bestimmte Mitgliedschaft gemeinsam ist, gemeinsam anzustellen gelernt haben.
Die Vorstellung, daß die Wahrnehmungsinterpretationen, welche die Welt konstituieren, im Fluß begriffen sind, stimmt mit der Tatsache überein, daß sie ununterbrochen stattfinden und selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt werden. Tatsächlich wird die Realität der Welt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen, daß die Grundprämisse der Zauberei, nämlich daß unsere Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaum eine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden.
Im Fall meiner Lehrzeit kümmerte sich Don Juan glücklicherweise überhaupt nicht darum, ob ich seine Behauptung als seriös akzeptieren konnte, und trotz meines Widerstands, meines Unglaubens und meiner Unfähigkeit, zu verstehen was er sagte, erläuterte er seine Feststellungen immer wieder. Als Lehrer war Don Juan also bestrebt, mir von unserem ersten Gespräch an die Welt zu beschreiben. Meine Schwierigkeiten, seine Begriffe und Methoden zu erfassen, rührten von der Tatsache her, daß die Einheiten seiner Beschreibung meinen eigenen fremd und mit ihnen unvereinbar waren.
Er war davon überzeugt, daß er mich »Sehen« lehrte, im Gegensatz zum bloßen »Schauen«, und daß der erste Schritt zum Sehen darin bestünde, »die Welt anzuhalten«.
Jahrelang hatte ich die Vorstellung, »die Welt anzuhalten«, als kryptische Metapher aufgefaßt, die in Wirklichkeit nichts besagte. Erst im Verlauf einer formlosen Unterhaltung gegen Ende meiner Lehrzeit geschah es, daß ich ihre Tragweite und ihre Bedeutung als eines der wichtigsten Elemente von Don Juans Wissen voll erfaßte.…
Don Juan sagte, daß man, um zu »sehen«, zuerst die Welt anhalten müsse. »Die Welt anhalten« war tatsächlich eine zutreffende Bezeichnung für bestimmte Bewußtseinszustände, in denen die Realität des alltäglichen Lebens verändert ist, weil der Strom der Interpretationen, der für gewöhnlich ununterbrochen fließt, durch eine Reihe ihm fremder Umstände unterbrochen ist. In meinem Fall bestanden diese meinem normalen Interpretationsfluß fremden Umstände in der zur Zauberei gehörigen Beschreibung der Welt. Für das »Anhalten der Welt« stellte Don Juan die Bedingung, daß man überzeugt sein mußte; mit anderen Worten, man mußte die neue Beschreibung in einem totalen Sinn erlernen, um sie gegen die alte auszuspielen und dadurch die uns allen gemeinsame dogmatische Sicherheit zu zerbrechen, daß die Gültigkeit unserer Wahrnehmung oder unserer Wirklichkeit der Welt nicht bezweifelt werden könne.
aus Castaneda, Die Reise nach Ixtlan, Fischer TB 1975, S. 8f.
Links zu:Carlos Castaneda
Tensegrity
Seite, auf der Castanedas Person und Werk kritisch hinterfragt wird: www.sustainedaction.org
Die buddhistischen Meditationsmeister wissen, wie flexibel und beeinflußbar der Geist ist. Wenn wir ihn trainieren, ist alles möglich. Tatsächlich sind wir ja bereits perfekt von und für Samsara trainiert: Wir haben Übung darin, eifersüchtig zu werden, festzuhalten, ängstlich, traurig, verzweifelt und gierig zu sein, wir sind geübt, mit Arger auf alles zu reagieren, was uns provoziert. Wir sind tatsächlich schon so geübt, daß diese negativen Emotionen ganz spontan entstehen, ohne daß wir auch nur versuchen müßten, sie hervorzurufen. Alles ist daher eine Frage der Übung und der Macht der Gewohnheit.
Widmen wir den Geist der Verwirrung, wird er – und das wissen wir alle nur zu gut, wenn wir ehrlich sind – ein dunkler Meister der Verblendung, genial im Erzeugen von Suchten, geschickt und von perverser Geschmeidigkeit in seinen sklavischen Abhängigkeiten.
Widmen wir ihn aber der Meditation und dem Ziel, sich selbst von Täuschung zu befreien, werden wir erleben, daß sich unser Geist im Laufe der Zeit – mit Geduld, Disziplin und der rechten Übung – allmählich selbst zu entwirren beginnt und zu seiner ihm innewohnenden Glückseligkeit und Klarheit findet.
Einer der Hauptgründe, warum wir so viel Angst haben, uns dem Tod zu stellen, liegt darin, daß wir die Wahrheit der Vergänglichkeit ignorieren.
Für uns ist Wandel gleichbedeutend mit Verlust und Leid. Und wenn sich Veränderung einstellt, versuchen wir, uns so gut wie möglich zu betäuben. Stur und ohne nachzufragen halten wir an der Annahme fest, daß Dauerhaftigkeit Sicherheit verleiht, Vergänglichkeit hingegen nicht. Tatsächlich aber gleicht die Vergänglichkeit bestimmten Leuten, denen wir im Leben manchmal begegnen: Anfangs finden wir sie schwierig und irritierend, aber bei näherer Bekanntschaft sind sie viel freundlicher und angenehmer, als wir uns je hätten vorstellen können.
aus Sogyal Rinpoche, Funken der Erleuchtung
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