Philosophie Linke Denker haben die Religionen immer skeptisch betrachtet. Der Gott, der über alles herrscht, ist indessen das Geld
Muslimische Immigranten nötigen uns dazu, die Frage neu zu bedenken, wie Linke es mit der Religion halten. Auf der Flucht vor einem grausamen Krieg sind Hunderttausende zu uns gekommen, die einerseits die linke Bereitschaft zur Solidarität einfordern, viele von uns aber andererseits daran erinnern, dass sie doch eigentlich Religionsfeinde sind. Sind wir schon über die Rolle der Kirchen in unserer Gesellschaft empört, wird uns nun auch noch Hilfsbereitschaft Menschen gegenüber abverlangt, die dem Islam folgen, einer Religion, die bei einigen sogar als „besonders schlimm“ verschrien ist.
Manche Debatten unserer Tage zeigen denn auch, dass eine bedenkliche Schnittmenge entstanden ist zwischen nicht wenigen Linken und der AfD, deren Schlachtruf „Gegen die Islamisierung des Abendlands“ sie kaum etwas entgegenzusetzen haben. Und derweil verliert die Linkspartei Protestwähler. Sie ist über einen Antrag zerstritten, der die große Losung der Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, durch „Freiheit, Gleichheit, Laizität“ ersetzen will.
Können sich Religionsfreie vorbehaltlos auf die Seite muslimischer Flüchtlinge stellen? Müssen sie nicht erst einmal deren Religion angreifen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt vieles ab. Wie so oft aber steht die Frage selbst schon ihrer Beantwortung im Weg, weil sie eine Differenz überspringt. Denn es gibt zwei sehr verschiedene Arten, religionsfrei zu sein, die liberale und die marxistische. Liberale sind seit der Französischen Revolution Religionsfeinde gewesen. In Italien bekämpften sie erbittert den Kirchenstaat und reduzierten ihn auf den Vatikan. Vor der Revolution hatten viele ihrer Vorgänger, der Aufklärer, noch eher versucht, das Christentum neu zu interpretieren, besonders Immanuel Kant mit seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Da aber der Katholizismus, in seiner Existenz bedroht, sich darauf nicht einließ, verhärteten sich die Fronten.
mehr:
- Kollektiver Fetisch (Michael Schäfer, der Freitag, 10.08.2016)
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Dienstag, 16. August 2016
Montag, 15. August 2016
Medizin und Marketing: »von Suggestionen befreien!«
Medizin Die Internistin Gisela Schott über Medizin und Marketing
mehr:
- „Wir müssen uns von Suggestionen befreien“ (Ulrichke Baureithel im Gespräch mir der Internistin Gisela Schott, der Freitag, 07.09.2016)
Zitat:
- Ist die Psychopharmakologie verrückt geworden? – Kapitalismus-infizierte Wissenschaft (Post, 31.01.2016)
mehr:
- „Wir müssen uns von Suggestionen befreien“ (Ulrichke Baureithel im Gespräch mir der Internistin Gisela Schott, der Freitag, 07.09.2016)
Zitat:
Es geht nicht an, dass Ärzte, die enge Verbindungen zur Pharmaindustrie unterhalten, in Kommissionen sitzen, in denen Krankheiten definiert, Grenzwerte festgelegt oder die Therapie-Leitlinien erarbeitet werden. In größerem Maßstab geht es aber auch um die klinische Arzneimittelforschung in Deutschland. Solange diese fast ausschließlich von der pharmazeutischen Industrie finanziert wird, wird man verzerrte Informationen erhalten.siehe auch:
- Ist die Psychopharmakologie verrückt geworden? – Kapitalismus-infizierte Wissenschaft (Post, 31.01.2016)
Sonntag, 14. August 2016
Wie kommt die Welt in den Kopf?
Tendenz: Je seriöser die mit Gehirnforschung befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten, desto zurückhaltender sind sie mit ihren Äußerungen. Als zunehmend problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang die ‚Ver- betriebswirtschaftlichung’ (auch) der Wissenschaften.
Die ‚Verbetriebswirtschaftlichung’ weiter Lebensbereiche nimmt zu: Gewinnorientie- rung, Nachfragepräferenzen und das Streben nach Effizienz erfassen immer mehr Lebensbereiche und unterwerfen sie einem Nützlichkeitskalkül. Diese Funktionalisie- rung hat auch die (Neuro-)Wissenschaften erfasst und bewirkt einen zunehmenden Erfolgsdruck. Nicht, ob etwas sinn-, wertvoll oder wünschenswert ist, entscheidet i. d. R., sondern ob es
• machbar oder
• durchsetzbar ist.
Das Sollen verblasst neben dem Können. Erfolg zählt vor allem – nicht Leistung. Und Erfolg wird einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen: Ist, was geleistet wird,
• vermarktbar (im Sinne von: verkäuflich)?
• lässt es sich öffentlichkeitswirksam präsentieren?
• stimmen Quote, Kurs oder Bilanz?
Die Konsequenzen bedauern vor allem seriöse Wissenschaftler selbst: Wer gezwun- gen wird, immer mehr Dritt- oder Projektmittel einzuwerben, muss sich zwangsläufig Marktmechanismen unterwerfen, Marketingaspekte berücksichtigen und feststellen, dass Zuschüsse – zu – häufig nach dem amerikanischen Sprichwort vergeben werden:
„Das Rad, das am lautesten quietscht, wird zuerst geschmiert.“
Das allerdings führt häufig dazu, dass notwendige Grundlagenforschung zu Gunsten marktfähiger, spektakulärer, öffentlichwirksamer Projekte vernachlässigt wird.
Seriöse Gehirnforscher bemühen sich, hinreichend deutlich zu differenzieren zwischen dem
a) was mit großer Sicherheit feststeht (z. B. die Plastizität des Gehirns),
b) was vermutlich zutrifft (z. B. die sensiblen Phasen),
c) wasHypothesen,intelligenteSpekulationenu.a.sind(z.B.begünstigende Faktoren für das Lernen),
d) was als Mythos entlarvt worden ist bzw. werden sollte (z. B. "Hemisphären"- Rezeptologien).
Wichtiger Hinweis: Wenn im Folgenden – ausschließlich im Interesse besserer Lesbarkeit! – ‚dem’ Gehirn bestimmte Aktivitäten zugeschrieben werden („das Gehirn strebt an“, „entscheidet“...), bedeutet das nicht etwa eine Neurobiologisierung der Sprache:
Es handelt sich lediglich um eine Metapher bzw. um eine ‚Personifikation’! Eine an jeder Stelle hinreichend differenzierte Darstellung würde diese thesenartige Zusammenfassung stark verkomplizieren.
Inhaltlich korrekt: → Nicht etwa „das Gehirn“ strebt an, entscheidet oder wägt ab, sondern immer nur eine bestimmte Person entscheidet, denkt o. a. kraft ihres Gehirns.
Es ist unangemessen, dem biologische Organ Gehirn eine spezifische Subjektqualität zuzuschreiben. Leider gibt es immer noch zu viele Hirnforscher, die eine derartige Anthropomorphisierung („das Gehirn möchte...“) betreiben.
Also: ‚Das Gehirn’ denkt nicht – es funktioniert!
[…]
Das Gehirn hat keinen direkten Kontakt zur Umwelt. Damit die Nervenzellen des Gehirns erregt werden können, müssen elektromagnetische, mechanische, chemische u.a. Reize durch die Sinnesrezeptoren in neuroelektrische oder neurochemische Signale umgewandelt werden.
Im Gehirn existieren Nervenzellen unterschiedlichster Art. Aber alle haben dieselbe Funktion: Erregungen werden aufgenommen, verarbeitet und weitergeleitet (oder auch nicht!).
Mit der Transformation von Umweltreizen in neuronale Erregungen verschwinden alle spezifischen Eigenschaften, die diese Reize haben: Man kann nicht erkennen, ob die Erregung einer Nervenzelle im Gehirn von einer Licht- oder Schalldruckwelle o.ä. her- rührt. Alle Nervenzellerregungen sind im Prinzip gleich und können im Gehirn parallel miteinander verarbeitet werden.
Auch in diesem Zusammenhang gilt: Das „Lernen mit allen Sinnen“ ist auch evolutionsbiologisch notwendig, damit möglichst viele Sinnesreize verarbeitet werden und möglichst viele Kanäle, Seitenwege und Trampelpfade gebahnt werden können.
Modalitäten und Qualitäten von Sinnesreizen werden durch den Ort ihrer Verarbeitung im Gehirn festgelegt – unabhängig davon, woher die Erregung stammt.
Herkunft und Bedeutung der eintreffenden Erregungen erschließt das Gehirn auf der Basis komplizierter angeborener und erworbener Fähigkeiten.
Damit ein Reiz überhaupt als bedeutungstragendes Zeichen erkannt werden kann, muss das Gehirn entsprechend disponiert sein: Bedeutungen können nicht unmittelbar aufgenommen oder übertragen werden, sondern werden von jedem Gehirn individuell erzeugt und existieren nur innerhalb kompliziert interagierender Systeme
mehr:
- Prinzipielles zum menschlichen Gehirn, Vorbemerkung zum Kenntnisstand und zur Erkenntnisgewinnung (aus: Günther Behrens, Wie kommt die Welt in den Kopf? Prinzipielles zur Gehirnforschung nebst einigen Konsequenzen für das ‚gehirngerechte’ Lehren und Lernen in der vhs, Volkshochschulbverband Baden-Württemberg, 2009, PDF)
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Die ‚Verbetriebswirtschaftlichung’ weiter Lebensbereiche nimmt zu: Gewinnorientie- rung, Nachfragepräferenzen und das Streben nach Effizienz erfassen immer mehr Lebensbereiche und unterwerfen sie einem Nützlichkeitskalkül. Diese Funktionalisie- rung hat auch die (Neuro-)Wissenschaften erfasst und bewirkt einen zunehmenden Erfolgsdruck. Nicht, ob etwas sinn-, wertvoll oder wünschenswert ist, entscheidet i. d. R., sondern ob es
• machbar oder
• durchsetzbar ist.
Das Sollen verblasst neben dem Können. Erfolg zählt vor allem – nicht Leistung. Und Erfolg wird einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen: Ist, was geleistet wird,
• vermarktbar (im Sinne von: verkäuflich)?
• lässt es sich öffentlichkeitswirksam präsentieren?
• stimmen Quote, Kurs oder Bilanz?
Die Konsequenzen bedauern vor allem seriöse Wissenschaftler selbst: Wer gezwun- gen wird, immer mehr Dritt- oder Projektmittel einzuwerben, muss sich zwangsläufig Marktmechanismen unterwerfen, Marketingaspekte berücksichtigen und feststellen, dass Zuschüsse – zu – häufig nach dem amerikanischen Sprichwort vergeben werden:
„Das Rad, das am lautesten quietscht, wird zuerst geschmiert.“
Das allerdings führt häufig dazu, dass notwendige Grundlagenforschung zu Gunsten marktfähiger, spektakulärer, öffentlichwirksamer Projekte vernachlässigt wird.
Seriöse Gehirnforscher bemühen sich, hinreichend deutlich zu differenzieren zwischen dem
a) was mit großer Sicherheit feststeht (z. B. die Plastizität des Gehirns),
b) was vermutlich zutrifft (z. B. die sensiblen Phasen),
c) wasHypothesen,intelligenteSpekulationenu.a.sind(z.B.begünstigende Faktoren für das Lernen),
d) was als Mythos entlarvt worden ist bzw. werden sollte (z. B. "Hemisphären"- Rezeptologien).
Wichtiger Hinweis: Wenn im Folgenden – ausschließlich im Interesse besserer Lesbarkeit! – ‚dem’ Gehirn bestimmte Aktivitäten zugeschrieben werden („das Gehirn strebt an“, „entscheidet“...), bedeutet das nicht etwa eine Neurobiologisierung der Sprache:
Es handelt sich lediglich um eine Metapher bzw. um eine ‚Personifikation’! Eine an jeder Stelle hinreichend differenzierte Darstellung würde diese thesenartige Zusammenfassung stark verkomplizieren.
Inhaltlich korrekt: → Nicht etwa „das Gehirn“ strebt an, entscheidet oder wägt ab, sondern immer nur eine bestimmte Person entscheidet, denkt o. a. kraft ihres Gehirns.
Es ist unangemessen, dem biologische Organ Gehirn eine spezifische Subjektqualität zuzuschreiben. Leider gibt es immer noch zu viele Hirnforscher, die eine derartige Anthropomorphisierung („das Gehirn möchte...“) betreiben.
Also: ‚Das Gehirn’ denkt nicht – es funktioniert!
[…]
Das Gehirn hat keinen direkten Kontakt zur Umwelt. Damit die Nervenzellen des Gehirns erregt werden können, müssen elektromagnetische, mechanische, chemische u.a. Reize durch die Sinnesrezeptoren in neuroelektrische oder neurochemische Signale umgewandelt werden.
Im Gehirn existieren Nervenzellen unterschiedlichster Art. Aber alle haben dieselbe Funktion: Erregungen werden aufgenommen, verarbeitet und weitergeleitet (oder auch nicht!).
Mit der Transformation von Umweltreizen in neuronale Erregungen verschwinden alle spezifischen Eigenschaften, die diese Reize haben: Man kann nicht erkennen, ob die Erregung einer Nervenzelle im Gehirn von einer Licht- oder Schalldruckwelle o.ä. her- rührt. Alle Nervenzellerregungen sind im Prinzip gleich und können im Gehirn parallel miteinander verarbeitet werden.
Auch in diesem Zusammenhang gilt: Das „Lernen mit allen Sinnen“ ist auch evolutionsbiologisch notwendig, damit möglichst viele Sinnesreize verarbeitet werden und möglichst viele Kanäle, Seitenwege und Trampelpfade gebahnt werden können.
Modalitäten und Qualitäten von Sinnesreizen werden durch den Ort ihrer Verarbeitung im Gehirn festgelegt – unabhängig davon, woher die Erregung stammt.
Herkunft und Bedeutung der eintreffenden Erregungen erschließt das Gehirn auf der Basis komplizierter angeborener und erworbener Fähigkeiten.
Damit ein Reiz überhaupt als bedeutungstragendes Zeichen erkannt werden kann, muss das Gehirn entsprechend disponiert sein: Bedeutungen können nicht unmittelbar aufgenommen oder übertragen werden, sondern werden von jedem Gehirn individuell erzeugt und existieren nur innerhalb kompliziert interagierender Systeme
mehr:
- Prinzipielles zum menschlichen Gehirn, Vorbemerkung zum Kenntnisstand und zur Erkenntnisgewinnung (aus: Günther Behrens, Wie kommt die Welt in den Kopf? Prinzipielles zur Gehirnforschung nebst einigen Konsequenzen für das ‚gehirngerechte’ Lehren und Lernen in der vhs, Volkshochschulbverband Baden-Württemberg, 2009, PDF)
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Freitag, 12. August 2016
Bertha Pappenheim: „Mir ward die Liebe nicht“
Die Psychoanalyse schuf den Mythos der Frau mit verkappten sexuellen Wünschen. Die Autorin dieses Gedichts ist die von Sigmund Freud analysierte Anna O. Zu wenig weiß man über ihr erstaunliches Leben nach der Heilung.
Worte sind wie Häuser, sie können sich ihre Mieter nicht aussuchen. Eine der unglücklichsten Einquartierungen stammt aus der Medizingeschichte: „Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterika halten.“
Mit dieser Entdeckung begründet Sigmund Freud 1895 seine Theorie über die decodierbare Verbindung von Körper und Seele. Es ist die Geburtsstunde der Psychoanalyse. Doch dieser Beginn beruht auf keiner haltbaren Erkenntnis, sondern schafft einen unseligen Mythos. Den Mythos der Frau mit verkappten sexuellen Wünschen. Schon vor Freud entwickelten Ärzte die Vorstellung von der wandernden Gebärmutter, griechisch hystéra. Wenn Frauen Symptome hatten, für die sich keine Erklärung fand, sie unter Lähmungen litten, Sehstörungen oder Sprachverlust, so lautete die Diagnose: Hysterie. – Es ist kein Märchen, man glaubte wirklich, die Gebärmutter geistere auf der Suche nach Sperma in Richtung Gehirn. Logisch, dass sich auf solche Suche vor allem die hystéra junger Mädchen und unverheirateter Frauen begeben musste.
Worte sind wie Häuser, sie können sich ihre Mieter nicht aussuchen. Eine der unglücklichsten Einquartierungen stammt aus der Medizingeschichte: „Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterika halten.“
Mit dieser Entdeckung begründet Sigmund Freud 1895 seine Theorie über die decodierbare Verbindung von Körper und Seele. Es ist die Geburtsstunde der Psychoanalyse. Doch dieser Beginn beruht auf keiner haltbaren Erkenntnis, sondern schafft einen unseligen Mythos. Den Mythos der Frau mit verkappten sexuellen Wünschen. Schon vor Freud entwickelten Ärzte die Vorstellung von der wandernden Gebärmutter, griechisch hystéra. Wenn Frauen Symptome hatten, für die sich keine Erklärung fand, sie unter Lähmungen litten, Sehstörungen oder Sprachverlust, so lautete die Diagnose: Hysterie. – Es ist kein Märchen, man glaubte wirklich, die Gebärmutter geistere auf der Suche nach Sperma in Richtung Gehirn. Logisch, dass sich auf solche Suche vor allem die hystéra junger Mädchen und unverheirateter Frauen begeben musste.
mehr:
- Bertha Pappenheim: „Mir ward die Liebe nicht“ (Marion Titze, faz.net, 12.08.2016)
Die Liste von Berthas Symptomen, die sie im Laufe des Jahres 1880 entwickelt, die Breuer teilweise aus der Rückschau rekonstruiert, ist beachtlich:
Zunächst tauchen im Frühjahr 1880 – also ungefähr zu Berthas 21. Geburtstag – ungeklärte Gesichtsschmerzen mit Zuckungen auf (349 f.) (ein „Schlag ins Gesicht“?). Da Breuer dies im Zusammenhang mit der Krankengeschichte erwähnt, mag er auch hierin mit aller Vorsicht eine hysterische = psychosomatische Symptomatik sehen. Er konstatiert, dass die entsprechende Störung „ohne bekannte Ursache“ sei.
In einer angespannten Situation – als sie in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1880 beim Vater voller Angst Wache hält, an dem ein dringender medizinischer Eingriff vorgenommen werden soll – halluziniert sie im Halbschlaf („Absence“) eine Schlange, die sie abwehren möchte. Ihr eingeschlafener Arm (Drucklähmung) versagt seinen Dienst. Seither lösen Angst oder schlangenähnliche Gebilde Lähmungen des Armes aus.
In ebendieser Situation ist sie stumm vor Schreck, dann fällt ihr erst mühsam ein englischer Spruch ein. In angespannten Situationen kann sie nun oft nur noch Englisch reden oder verstehen.
Als sie am nächsten Tag angestrengt lauscht, ob sie den Doktor kommen hört, gerät sie erneut in eine Absence und bemerkt nicht, wie er das Zimmer betritt. Seither löst ängstliches Horchen Taubheit aus.
An Stelle des Vaters wird eventuell ein Totenkopf oder ein Skelett gesehen. Gehörshalluzinationen treten auf, dass der Vater etwas sagt oder ruft, nachdem sie den Vater einmal überhört hatte. Seitdem tritt häufiger Nicht-Erkennen und Nicht-Verstehen von Menschen auf.
Bisweilen werden einzelne Gegenstände sehr groß und undeutlich gesehen. Dieses Symptom geht hervor aus einer Situation, in der Tränen das Gesehene deformieren: Sie soll eigentlich zu Hause den Vater pflegen, geht jedoch trotzdem ins Theater; in dem Programmheft, das sie dort liest, sind einzelne Stellen durch die Tränen im Auge vergrößert, so dass das Lesen erschwert ist.
Weitere Sehstörungen treten auf: Einwärtsschielen mit Doppelbildern. Gemeinsames Abweichen beider Augen nach rechts, so dass die Hand immer links daneben greift. Gesichtsfeldeinschränkung, dass beispielsweise nur einzelne Blumen aus einem Strauß, einzelne Stellen in einem Gesicht gesehen werden können.
Ein Stimmritzenkrampf besteht nach unterdrückter Widerrede in einem Streit, danach wiederholt in ähnlichen Situationen.
Zeitweilige Streck-Kontraktur (Gelenkversteifung) des rechten Armes und des rechten Beines – der Anlass sei Breuer nicht mehr erinnerlich.
Husten setzt ein, nachdem bei der Krankenwache Musik von draußen gehört wurde. Die leidenschaftliche Tänzerin wäre gerne auf der Veranstaltung, macht sich dann aber selbst Vorwürfe wegen dieses Wunsches. Dann tritt Husten wiederholt bei stark rhythmischer Musik auf.
Einmal lauscht sie nachts an der Tür des Vaters, ob sie ein Lebenszeichen von ihm vernimmt. Ihr Bruder überrascht sie und schüttelt sie heftig, worauf Taubheit eintritt. Danach lösen auch andere Formen von Geschüttelt-Werden (beispielsweise bei einer Kutschfahrt) Taubheit aus.
Sie sieht einmal den Hund ihrer Gesellschafterin aus einem Glas trinken, wovor sie sich ekelt. Sie unterdrückt einen Kommentar, um nicht grob zu werden. In der Folge bringt sie – in der heißesten Zeit des Jahres – keinen Tropfen Wasser mehr über die Lippen, sondern stillt den Durst sechs Wochen lang nur durch saftiges Obst. (Von dieser Situation herrührend ist die Vorstellung des Trinkens offenbar mit einem starken Ekelgefühl verbunden.)
Zu den Symptomen bemerkt Breuer: „All diese Dinge wiederholten sich einzeln, immer häufiger, aber immer noch vorübergehend und immer vor allen anderen Menschen vollständig verborgen“ (352).
Ende November 1880 wird Breuer wegen des Hustens erstmals konsultiert. Im Dezember 1880 fällt das Schielen auf. Der Patientin wird ab dem 11. Dezember Bettruhe verordnet. Daraufhin brechen einzelne Störungen deutlicher hervor, andere treten erstmals auf:
Linksseitiger Hinterkopfschmerz, Schielen.
Sie sieht Wände auf sich einstürzen, sonstige Sehstörungen.
Lähmung des vorderen Halsmuskels, so dass der Kopf nur mit dem ganzen Rumpf bewegt werden kann.
Gelenkunbeweglichkeit und Schmerzunempfindlichkeit von rechtem Arm und Bein – Streckung, Bewegungsunfähigkeit, Drehung nach innen –, gleiche Erscheinung später am linken Bein und am linken Arm, wobei links die Finger beweglich bleiben.
Rapidester Stimmungswechsel in Extremen – Heiterkeit (selten), Angstgefühl, Sehnsucht nach dem Vater, Opposition gegen (gefürchtete) therapeutische Maßnahmen.
Halluzination von Schlangen aus Haaren, Schnüren oder ähnlichem.
„Ungezogenheiten“: Werfen von Polstern auf ihre Umgebung, Abreißen ihrer Knöpfe, Schimpfen.
Dazwischen klare Zeiten, Klagen über zwei Ichs: In dem einen Zustand ist sie traurig, launisch, aber relativ normal, im anderen Zustand halluzinierend, ungezogen. Hat sich während des Wechsels von dem normalen Zustand in den anderen etwas im Zimmer verändert, so klagt sie, dass ihr die Zeit fehle, dass eine Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellung bestehe. Dies wird ihr, wenn möglich, von ihrem Umfeld abgeleugnet. Ihre Klagen, sie werde verrückt, versucht man zu beruhigen. (Absencen wurden erstmals beobachtet, als sie, noch außer Bett, mitten im Sprechen stecken bleibt, die letzten Worte wiederholt, um nach kurzer Zeit wieder fortzufahren.)
Es fehlen ihr Worte. Typische grammatikalische Veränderung von Patienten mit Sprachstörungen (Aphasikern) treten auf.
Das Gekränkt-Sein durch den Vater (Ursache unklar) führt zu dem Entschluss, nicht mehr nach ihm zu fragen – in dieser Zeit bestehen zwei Wochen lang völlige Sprachlosigkeit. Breuer schreibt, er habe Bertha „gezwungen“ (354; mittels Hypnose?), von ihm zu sprechen. Daraufhin kehrt die Sprache wieder, aber nur Englisch.
Sie zeigt Ekel vor dem Essen, nachdem Appetitlosigkeit aufgrund von Angstgefühlen eingetreten war. Das Essen reduziert sie auf ein Minimum.
Nachmittags tritt ein schläfriger Zustand auf. Abends klagt sie dann: „Quälen, quälen“. Durch Wiederholung eines Stichwortes durch Breuer, das sie tagsüber selbst hatte fallen lassen (zum Beispiel „Sandwüste“), wird dann von ihr eine Geschichte erzählt, die ersten Sätze noch in ihrem aphasischen Jargon, im weiteren Verlauf immer besser, bis sie schließlich ganz korrekt spricht. Die Geschichten sind alle tragisch, teilweise sehr hübsch, drehen sich meist um ein Mädchen, das in Angst bei einem Kranken sitzt. Aber auch ganz andere Geschichten kommen vor. Kurz nach dem Ende der Geschichte erwacht sie und ist „gehäglich“ (behaglich), gut aufgelegt, bis sie gegen morgen, nach zwei Stunden Schlaf, in einem anderen Vorstellungskreis gefangen ist. Ist das Geschichten-Erzählen einmal nicht möglich, fehlt die Beruhigung, und am nächsten Abend müssen mehr Geschichten erzählt werden.
In dieser Zeit ist das „Beobachterhirn“ der Patientin bei allem anwesend.
Die Erscheinungen gehen bis März 1881 deutlich zurück: Die Sprachlosigkeit weicht, wobei sie vor allem Englisch redet. Abends spricht sie Französisch oder Italienisch. Für alles in Englisch Gesprochene besteht keine Erinnerung. Die Kontrakturen schwinden, das Schielen nimmt ab. Der Kopf wird wieder getragen. Am 1. April kann sie aufstehen. […]
Bertha Pappenheim entwickelt selbst den Ansatz zu ihrer Heilung, als sie sich teilweise mit ursprünglich symptomauslösenden Situationen erneut konfrontiert (Breuer & Freud, 1991, S. 57 f & S. 60). Sie führt also gewissermaßen eine „Konfrontation in vivo“ durch, um konditionierte Verbindungen zu lösen. Außerdem entlastet sie sich durch das Erzählen von Märchen. Es stellt Josef Breuers herausragendes Verdienst dar, durch einfühlsames Beobachten die heilsame Wirkung dieser Maßnahme erkannt und sie durch sein aufmerksames Zuhören gefördert zu haben. Die Erzählungen schaffen offenbar ein Ventil, um die Affekte zum Ausdruck zu bringen, die sie einerseits als übergewaltig empfindet, die sie andererseits als ‚gut erzogenes Mädchen’ nicht unbefangen aussprechen kann. Vergleichbar ist dieser Mechanismus mit einem Dampfkochtopf, der sich problemlos öffnen lässt, wenn durch ein Ventil der Druck kontrolliert abgelassen worden ist. Nach einer ersten Reduktion ihrer inneren Spannung gelingt es Bertha, die zugrundeliegenden Situationen zu berichten – dass ihr Bruder sie geschüttelt hatte, dass der Hund ihrer Gesellschafterin aus einem Wasserglas getrunken hatte, dass sie eine vermeintliche Schlange am Bett des Vaters gesehen hatte, usw. Sie kann nun unbefangener ihre eigentlichen Gefühle bezüglich dieser Situationen – Ärger, Ekel, Wut, Abneigung, Angst – zum Ausdruck bringen. Daraufhin verschwinden offenbar die entsprechenden Symptome – die Taubheit, der unüberwindliche Ekel gegen Getränke, die Lähmung. Zum Teil wird wohl von Breuer gezielt Hypnose eingesetzt, um die Erinnerung an die dem Symptom jeweils zugrunde liegende reale Situation zu beleben und sie damit bearbeiten zu können. Bertha selbst nennt diese Art der Behandlung „talking cure“. Das Heilungsprinzip, das dabei wirksam wurde, nennt Breuer „Katharsis“.
[Berthas Symptome in: Bertha Pappenheim … und ihre Behandlung durch Josef Breuer, König Ödipus, Narziss & Co., undatiert – Hervorhebungen im Original]
Bertha Pappenheim: „Mir ward die Liebe nicht“
Mir ward die Liebe nicht –
Drum leb ich wie die Pflanze,
Im Keller ohne Licht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum tön ich wie die Geige,
Der man den Bogen bricht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum wühl ich mich in Arbeit
Und leb mich wund an Pflicht.
Mir ward die Liebe nicht –
Drum denk ich gern des Todes,
Als freundliches Gesicht.
Das Gedicht ist dem folgenden Band entnommen: Marianne Brentzel: „Sigmund Freuds Anna O. – Das Leben der Bertha Pappenheim“. Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 2004. 320 S., br. Vergriffen.
[im Artikel von Marion Tietze zitiert, s.o.]
siehe auch:
- Bertha Pappenheim (1859–1936) (FrauenMediaTurm, undatiert)
- Eine diskrete Geschichte (Andreas Hartmann, FR, 25.03.2014)
- Anna O. – "Ihre Krankheit war Wien" (Interview mit Louise Hecht, Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 17.01.2011)
mein Kommentar:
Ich halte diese Art von »feministischer Wissenschaft« für überzogen und irreführend.
- Eine Frau auf der Flucht vor dem Vater: Prostitutionswünsche und Rettungsphantasien Von «Anna O.» zu Bertha Pappenheim (Bernd Nitzschke, Anmerkung des Autors:
Der vorstehende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals unter dem Titel Prostitutionswünsche und Rettungsphantasien – auf der Flucht vor dem Vater. Skizzen aus dem Leben einer Frau („Anna O.“ / „P. Berthold“ / Bertha Pappenheim) erschienen ist in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 44, 1990, 788-825.)
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Donnerstag, 11. August 2016
Wie ein Werbespot Realitäten schafft
#Rio2016 Südsudan tritt zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen an. Für den Sprinter Mangar Makur Chuot endete die Nominierung bitter
Als 1988 die Olympischen Sommerspiele in Seoul stattfanden, war ich neun und ein fantasievolles Kind. Jedes Provinzbad, in dem ich mit meinem Schwimmverein Bahnen zog, wurde damals für mich zur olympischen Wettkampfstätte. Diese Strahlkraft haben die Spiele für mich lange schon verloren, aber ich erinnerte mich jetzt daran, als ich einen Spot mit der südsudanesischen Sprinterin Margret Rumat Rumar Hassan sah. Es ist ein Werbeclip von Samsung, Hauptsponsor in Rio. Wir sehen die Leichtathletin in den Katakomben eines Stadions, vor ihrem inneren Auge taucht ein Mädchen auf, das sie vor einer Wand mit Zeitungsartikeln anfeuert. „Local Girl Dreams of Rio“ steht als Schlagzeile über einem Foto der Sprinterin. Wir sehen dann Schüler in einer Dorfschule, Männer in einer Dorfkneipe, staubige Straßen und immer mehr Menschen, die Margret Rumat Rumar Hassan anfeuern, sie steigen in Busse und auf Motorräder, manche rennen nur ein Stück mit, ein paar steigen dann in ein Flugzeug. Als Hassan aus den Katakomben ins Stadion tritt, steht das Mädchen natürlich unter den Fans auf den Rängen.
„For those who defy barriers“ lautet der Slogan des Sponsors – für alle, die sich über Hindernisse hinwegsetzen. Man kann das zynisch finden, 60.000 Menschen sind Anfang August wieder binnen drei Wochen aus dem Südsudan geflohen, und natürlich stehen keine Flugzeuge für sie bereit. Laut Berichten des UNHCR wurden viele mit Waffengewalt daran gehindert, auch nur ins Nachbarland Uganda zu gelangen. Aber es ist nicht die Aufgabe von Werbespots, die Realität abzubilden.
mehr:
- Wenn ein Werbespot Realitäten schafft (Christine Käppeler, der Freitag, 11.08.2016)
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Als 1988 die Olympischen Sommerspiele in Seoul stattfanden, war ich neun und ein fantasievolles Kind. Jedes Provinzbad, in dem ich mit meinem Schwimmverein Bahnen zog, wurde damals für mich zur olympischen Wettkampfstätte. Diese Strahlkraft haben die Spiele für mich lange schon verloren, aber ich erinnerte mich jetzt daran, als ich einen Spot mit der südsudanesischen Sprinterin Margret Rumat Rumar Hassan sah. Es ist ein Werbeclip von Samsung, Hauptsponsor in Rio. Wir sehen die Leichtathletin in den Katakomben eines Stadions, vor ihrem inneren Auge taucht ein Mädchen auf, das sie vor einer Wand mit Zeitungsartikeln anfeuert. „Local Girl Dreams of Rio“ steht als Schlagzeile über einem Foto der Sprinterin. Wir sehen dann Schüler in einer Dorfschule, Männer in einer Dorfkneipe, staubige Straßen und immer mehr Menschen, die Margret Rumat Rumar Hassan anfeuern, sie steigen in Busse und auf Motorräder, manche rennen nur ein Stück mit, ein paar steigen dann in ein Flugzeug. Als Hassan aus den Katakomben ins Stadion tritt, steht das Mädchen natürlich unter den Fans auf den Rängen.
„For those who defy barriers“ lautet der Slogan des Sponsors – für alle, die sich über Hindernisse hinwegsetzen. Man kann das zynisch finden, 60.000 Menschen sind Anfang August wieder binnen drei Wochen aus dem Südsudan geflohen, und natürlich stehen keine Flugzeuge für sie bereit. Laut Berichten des UNHCR wurden viele mit Waffengewalt daran gehindert, auch nur ins Nachbarland Uganda zu gelangen. Aber es ist nicht die Aufgabe von Werbespots, die Realität abzubilden.
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- Wenn ein Werbespot Realitäten schafft (Christine Käppeler, der Freitag, 11.08.2016)
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Mittwoch, 10. August 2016
Ein Tauchgang in die Persönlichkeit von Michael Phelbs
Michael Fred Phelps (* 30. Juni 1985 in Baltimore, Maryland, Vereinigte Staaten) ist ein US-amerikanischer Schwimmer, der seit Anfang des 21. Jahrhunderts zur Weltspitze gehört. Er gilt als der vielseitigste Schwimmer der Gegenwart und ist mit 25 olympischen Medaillen, davon 21 mal Gold, der bisher erfolgreichste Olympionike.[1] [Michael Phelps, Wikipedia, abgerufen am 10.08.2016]==============
Zum „Greatest of All Times“ fehlt ihm nicht nur politisches Schwergewicht. Der erfolgreichste Olympia-Sportler aller Zeiten ist Michael Phelps aber mit astronomischem Abstand. Ein Tauchgang in die Persönlichkeit des 18-fachen Goldfischs mit Pool-Pensionist Markus Rogan.
Michael Phelps heißt mit Mittelnamen Fred, wie sein Vater, der sich scheiden ließ, als der Youngster gerade einmal neun war. Jahrzehntelang war ihr Verhältnis getrübt wie das Wasser in einem Schwimmteich mit Algenteppich. Doch in der schwierigsten Lebensphase seines Sohnes taucht Fred, ein ehemaliger Polizist, wieder auf. Es ist Ende Oktober 2014, Michael befindet sich 45 Tage in der Entzugsklinik „The Meadows“ in Wickenburg, Arizona.
Doch der persönliche und gesellschaftliche Knock-out kam goldrichtig. Die Rollwende im Leben gelingt, vorläufiger Höhepunkt ist der 29. Juni 2016: Michael Phelps schafft über 200 m Delphin die Qualifikation für seine fünften Olympischen Spiele. In den Tagen darauf sichert er sich auch Startplätze über 100 m Delphin und 200 m Lagen – und kann den Rekord von 18-mal Gold sowie je 2-mal Silber und Bronze ausbauen. „Wenn er sein Programm nicht überfüllt, kann er zwei Staffelund drei Einzel-Goldene holen“, schätzt Markus Rogan, der wie Phelps bei der WM 2001 im japanischen Fukuoka seine erste Medaille erschwommen hat. „Macht er den Fehler und probiert zu viele Bewerbe, wird ihm das organisatorische Chaos in Rio die Regenerationszeiten zu sehr reduzieren und er wird weniger gewinnen“.
mehr:
- Die ganze Story // Markus Rogan: Ein Tauchgang in die Persönlichkeit von Michael Phelbs (Bob Mayr, Sportmagazin.at, aktuelle Ausgabe)
siehe auch:
- Michael Phelps findet zurück in die Goldspur (Berliner Morgenpost, 30.06.2016)
- Michael Phelps, ‘Are You an Alcoholic?’ (Dorri Olds, the fix, 05.02.2016)
- Nach Alkoholfahrt: Michael Phelps geht in Therapie (SPON, 05.10.2014)
- Ein Übermensch? (Robert Dunker, Die Welt, 16.08.2008)
Dienstag, 9. August 2016
Ego-State-Therapie
Die Ego-State-Therapie (englisch: ego state therapy, lateinisch ego ‚ich‘, englisch state ‚Zustand‘) ist eine psychotherapeutische Methode aus der Traumatherapie. Sie wurde von John Watkins und Helen Watkins entwickelt.
Menschen, die seelisch schwer verletzt wurden (Trauma), entwickeln zum Schutz ihrer Persönlichkeit Abwehrmechanismen gegen die mit der Verletzung verbundenen Schmerz- und Angstgefühle. Einige tun dies, indem sie ihre Persönlichkeit in verschiedene Ich-Anteile (englisch: Ego States) „aufteilen“. Dies geschieht zunächst fast immer unbewusst. Diese Ich-Anteile können wie „eigene Persönlichkeiten“ ein Eigenleben entfalten, mit „eigenem“ Willen, „eigenen“ Gedanken und Gefühlen. Die Ego-State-Therapie hilft den Betroffenen, diese Ich-Anteile wieder besser in Richtung einer ganzheitlichen Persönlichkeit miteinander zu verbinden.
Modell der Ego-State-Therapie
Die Ego-State-Therapie basiert auf der Theorie, dass die Persönlichkeit aus verschiedenen Ich-Anteilen (Ego States) besteht. Diese Anteile sind umgrenzte und beschreibbare „Unter-Persönlichkeiten“.[2] Sie berücksichtigt psychoanalytische Theorien, hypnoanalytische Techniken und neuere Erkenntnisse aus der Behandlung dissoziativer Störungen.
Sie ist wirksam bei Posttraumatischer Belastungsstörung, Borderline-, Angst- oder Sexualstörungen und dissoziativer Identitätsstörungen.
Siehe auch: Hypnoanalyse.
Gesunde Ich-Anteile
Unter „Ich-Anteil“ versteht man einzelne Aspekte der Persönlichkeit, des eigenen Selbst (Sinn und Wirkung der verschiedenen Ich-Anteile sind beschrieben im Artikel Inneres Team). Ein gesunder, nicht traumatisierter Mensch kennt und nutzt etwa 5–15 solcher Ich-Zustände. Sie sind klar bewusst und werden vom Ich gelenkt. Die meisten solcher Ich-Anteile entstehen in der Kindheit im Zuge der normalen Entwicklung.
Gesunde Ich-Anteile sind Anteile aus dem „Alltags-Team“, z. B. der „kompetente Fachmann“, der vor den Kollegen einen Fachvortrag halten kann, oder der „gute Gastgeber“, der den Kaffee von rechts nachschenken kann, oder der „Coole Typ“ in der Disco, oder der begeisterte „Radrennfahrer“. Das sind Anteile, über die der Mensch verfügt und je nach Bedarf zwischen ihnen umschalten kann.
Siehe auch: Eric Berne bzw. dort: Entdeckung der Ich-Zustände.
Ungesunde integrierte Anteile
Im Übergangsbereich zwischen den gesunden und den abgespaltenen Anteilen gibt es ungesunde, integrierte und bewusst zugängliche Anteile, die auch ohne Hypnose oder Trance therapeutisch bearbeitbar sind.
Ein neuer Ich-Anteil kann auch als Folge eines Widerstands in der Therapie auftreten. Der Patient wird z. B. „plötzlich so müde“. Dadurch soll das Bewusstwerden einer alten, der aktuellen Realität schlecht angepassten Struktur des Patienten (beziehungsweise beängstigender Gefühle dahinter) verhindert werden. Der neue Ich-Anteil hat die Aufgabe davon abzulenken, „dass es da etwas gibt“, beziehungsweise einen anderen Ich-Anteil, der mit der Gestaltung der alten (und heute unangemessenen) Struktur beauftragt war, zu schützen.
Der Therapeut könnte jetzt mit dem aktuellen Widerstand arbeiten, d. h. ihn z. B. zum Kennenlernen „auf die innere Bühne bitten“ und ihn sich vom Patienten bildhaft vorstellen (imaginieren) lassen. („Was ist die Aufgabe dieser Müdigkeit, wovor soll sie schützen?“) Gelingt dies, führt es zum ursprünglichen Ego State (also der heute schlecht angepassten Struktur), mit dem dann therapeutisch weiter gearbeitet werden kann.
Abwehrmechanismen sind bis zu einem gewissen Grad der Ausprägung als ganz normale Schutzmechanismen zu betrachten, die jeder Mensch hat und braucht. Krankheitswert hat eine jeweils extreme Ausprägung. Beispielsweise da, wo die Entwicklung der inneren Struktur in unbewältigten Konflikten bzw. den Grundkonflikten fest hängt, leisten solche Ego-States ihre überkommenen Aufgaben, die für „den Menschen heute“ eine ungesunde Wirkung haben.
Siehe auch Grundkonflikt hier z. B. Grundkonflikte nach der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD)
Die Psychoanalyse verwendet den Begriff Charaktertypen für ein Set der jeweils vorherrschenden Abwehrmechanismen.
Siehe auch: Charaktertypen.
Abgespaltene Ich-Anteile
Mit traumatisch verletzenden Situationen verbundene Gefühle können so stark sein, dass Menschen sie nicht aushalten. Auch konfliktbeladene Situationen können an einen Menschen Forderungen stellen, worauf er noch „keine Antwort“ hat und die eine entsprechend tiefe Angst auslösen können. Dagegen wird ein Abwehrmechanismus aufgebaut. Eine Form ist die Abspaltung von Ich-Anteilen. In diesen sind Gefühle und Energien ungelöster Traumata abgespeichert. Es können spezielle Formen und Aufgaben solcher Ich-Anteile unterschieden werden: „Verfolger“, radikale Helfer, Täter-Introjekte (täteridentifizierter Anteil), Angreifer, Mittäter-Introjekte (täterloyale Anteile). Einzelne Ich-Anteile können sich auch überlagern und ggf. gegenseitig verstärken, wie z. B. täteridentifizierte und täterloyale Anteile. In idealer Reinform tritt ein einzelner Ich-Anteil selten zu Tage.
Als Beispiel sei ein Mensch betrachtet, der von Kindheit an von einem Familienmitglied misshandelt wird, inzwischen als Erwachsener in einer eigenen Wohnung lebt, und vom Täter weiterhin zu Gewalthandlungen aufgesucht wird. Sein gesunder, in der Therapie kontaktierbarer Ich-Anteil kann die neue Information lernen „Du musst ihn nicht reinlassen.“ Das wird den Menschen zwar stärken, dennoch sagt er z. B. „Ja, aber ich kann es nicht versprechen.“ Denn da gibt es auch noch den täteridentifizierten Anteil, der glaubt, gemäß der früheren Erfahrung den Menschen weiterhin (relativ) schützen zu müssen, indem er tut, was der Täter verlangt. So kann es zu der kontinuierten Entscheidung kommen, den Täter wider besseres Wissen immer wieder in die eigene Wohnung einzulassen, nach dem alten Motto: „Du musst tun was er will, sonst schlägt er Dich tot“. Dieser Anteil ist abgespalten und unterliegt nicht der Ich-Kontrolle.
Abgespaltene Ich-Anteile erscheinen so, als hätten sie eine „eigene Persönlichkeit“, mit „eigenen“ Gefühlen und Gedanken. Sie halten ihre Existenz für hilfreich und überlebenswichtig, sind potentiell auch auf lebenslanges Bestehen angelegt. Manche „kennen“ sich gegenseitig und sind miteinander in Kontakt. Andere sind gänzlich abgespalten (Untergrund-Ich-Anteile); die Kern-Persönlichkeit ist nicht mehr in Kontakt mit ihnen und sie sind oft nur noch mittels Hypnose oder Trance zugänglich.
Siehe auch: Dissoziative Identitätsstörung.
Solche Ich-Anteile sind nicht zu verwechseln mit im Zuge der psychosozialen Entwicklung aufgenommenen Introjekten, also inneren Abbildern von Personen, die uns wichtig waren und deren Werte, Normen und Verhaltensmuster wir in uns aufgenommen haben. Introjekte starten nicht als Abwehrmechanismen und sind auch ohne Hypnose oder Trance im therapeutischen Gespräch zugänglich für die Aufnahme neuer, realer Informationen (lassen ein „Update“ ihrerselbst zu). Lautet beispielsweise ein überbrachtes Gesetz (Introjekt) einer wichtigen Bezugsperson aus der Kindheit „Du darfst nicht weinen“, so kann der innere Anteil, der das vertritt, in der Therapie nach und nach umlernen, bis das neue, eigene Gesetz schließlich lautet „Du darfst weinen soviel Du willst“. Introjekte bestehen nicht darauf zu bleiben (wie die Ego States); man kann sie ändern oder auffordern zu gehen.
Wirksamkeitsnachweis
Oberstes Ziel der Ego-State-Therapie ist, den Stress im inneren System zu reduzieren und die Energie wieder auf die Gestaltung eines erfüllten Lebens auszurichten. Der Patient soll lernen, die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile (die damit verbundenen Bedürfnisse und Standpunkte) besser miteinander abzustimmen und sich für die wesentlichen zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Je nach Schweregrad der Störung können die Ich-Anteile vollständig integriert werden (Inneres Team), oder sie werden, nun gelenkt vom eigenen Selbst, symbolisch weiterhin als „eigene Persönlichkeiten“ betrachtet, aber jetzt konstruktiv-integrativ eingesetzt.
Methoden
Die abgespaltenen Ich-Anteile sind ein Teil vom eigenen Selbst. Deshalb ist es wichtig, sie als wertvolle Ressource anzunehmen. Sie haben treu und zuverlässig über lange Jahre genau das getan, womit sie einst beauftragt wurden. Auch wenn sie heute nicht mehr angemessen für das Selbst des Patienten sorgen können.
Die Therapie erfolgt in vier Phasen:
- innere Sicherheit schaffen
- Trauma finden, Ressourcen klären
- stabilisieren, Traumaerfahrung durcharbeiten
- Erfahrungen integrieren, Persönlichkeit und Identität festigen
In der Therapie kann der Therapeut einen Ich-Anteil direkt ansprechen. Er wird so symbolisch-imaginativ aktiviert und kann zu seiner Geschichte, zu seinen Erfahrungen, seiner Aufgabe, seinen Zielen, Gedanken, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten direkt befragt werden. Im „Gespräch“ des Therapeuten beziehungsweise des Patienten mit dem Ich-Anteil und der Ich-Anteile untereinander können sich diese verändern und entwickeln. Der Patient kann die „Ich-Anteile“ mit neuen Daten zur aktuellen Realität versorgen und lernen, die in diesen Ich-Anteilen enthaltenen Erfahrungen und Ideen selbst zu steuern und zu integrieren und die oft verborgenen Ressourcen zu nutzen.
Verfestigte Ich-Anteile „fürchten“ häufig, sich auflösen oder verschwinden zu sollen, wenn sie in der therapeutischen Arbeit „entdeckt“ werden. Deshalb ist es wichtig, ihre bisherigen Verdienste zu würdigen, so paradox es erscheinen mag, und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen oder ihnen neue wichtige Aufgaben zuzuweisen, denen sie sich gewachsen fühlen, sie also somit neu zu integrieren.
Siehe auch die Methoden in: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie.
Einordnung des Therapieansatzes
Aufbauend auf der Erkenntnis, dass der Mensch verschiedene innere Anteile entwickeln kann, entstanden unterschiedliche therapeutische Herangehensweisen. Beispielsweise flossen die von Sigmund Freud benannten Anteile Es – Ich – Über-Ich in die psychoanalytisch/tiefenpsychologisch orientierten Therapieansätze ein. Die Arbeit mit dem Inneren Kind kam auf und fand u. a. Niederschlag in der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie von Reddemann. Therapeuten, die mit schwer traumatisierten Menschen arbeiteten, stellten fest, dass diese Konzepte noch nicht weit genug gingen. Es entwickelten sich neue Ansätze, die von vielen inneren Anteilen (Ego State Modell) innerhalb einer Person ausgehen, welche beschreibbar und einzuordnen und in ähnlicher Form auch bei anderen Menschen wieder zu finden sind. Oftmals werden die verschiedenen Therapieansätze auch miteinander kombiniert wie es in der Psychotherapie heute ohnehin üblich geworden ist.
Für die Integrationsarbeit in der DIS-Therapie (Arbeit mit dissoziierten Menschen) finden aktuell z. B. Anwendung: das zielorientierte Integrationsmodell (The Tactical Integrationa Modell von Fine 1991, 1993, 1996, 1999), das strategische Integrationsmodell (Kluft 1988) und das Modell der Ego States von Watkins & Watkins. Dabei zielen die beiden ersten Modelle auf eine vollständige Integration zu einer Ganzheit der Person. Das persönlichkeitsorientierte Modell der Ego States hat eine funktionierende und zufriedenstellende Zusammenarbeit der verschiedenen Teilpersönlichkeiten und/oder Ich-Zustände zum Ziel.
Wirksamkeitsnachweis
Ein Nachweis der besonderen Wirksamkeit dieses speziellen Therapieansatzes konnte nicht erbracht werden. [Ego-State-Therapie, Wikipedia, abgerufen am 08.08.2016]================
Woltemade Hartman 1 - Was ist Ego-State-Therapie? [4:50]
Veröffentlicht am 19.11.2014
Ego-State-Therapie ist Teile-Arbeit. Der Mensch besteht aus verschiedenen Ich-Zuständen, die auch neurophysiologisch darstellbar sind. Gibt es ein Kern-Ich? Wo ist das Kern-Ich lokalisiert. Kann man auch nicht in einem Ego-State sein – im Schlaf. Wenn jemand ein Trauma erlebt dann findet eine Dissoziation oder neurophysiologische Abspaltung statt. „Pendel-Technik“ zwischen Trauma und Ressource und die Auflösung des Traumas in Richtung positive Psychologie.
Woltemade Hartman (http://www.woltemadehartman.com)
Milton Erickson Institut Rottweil (http://www.meg-rottweil.de)
Kai Fritzsche: Einführung in die Ego-State-Therapie [7:22]
Hochgeladen am 20.12.2011
Kai Fritzsche über sein neues Buch "Einführung in die Ego-State-Therapie", erschienen 2010 im Carl-Auer Verlag.
xsiehe auch:
- Ego-State-Therapie: Weiterführungskurs Ego-State-Therapie, November 2006 (Jochen Peichl, auf seiner Seite, PDF)
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