Bedeutung für die Gestalttherapie: Die Neurose ist nach gestalttherapeutischer Ansicht die gesunde und sinnvolle Antwort des Einzelnen auf irrationale und »kranke« gesellschaftliche Zustände.
Angst, bereits nach psychoanalytischer Auffassung der Hauptfaktor bei der Neurosenbildung, entsteht, weil der Impuls zur kreativen Anpassung unterbrochen wird. Dies geschieht auf die geschilderte Weise durch Unterdrückung der Aggressivität.
Das typische Bild eines Neurotikers ist es nach gestalttherapeutischer Auffassung, dass er zunächst seine Wahrnehmung von sich und seiner Umwelt und schließlich sogar sein Verständnis für sich und seine Umwelt reduziert. Gleichwohl spannt er seinen Willen und seine Muskeln stark an, als ob er sich anschicken würde, seine Bedürfnisse zu befriedigen. In der gegebenen Situation der chronischen Angst ist dies tatsächlich hilfreich.
Die neurotische Erfahrung reguliert sich durchaus selbst. Da die extreme Willensanstrengung auf der chronischen Angst basiert, kann man von einer »neurotischen Gesellschaft« sprechen. Aber der Neurotiker tendiert spontan zur Anspannung und dies auch dort, wo er sich eigentlich gefahrlos entspannen könnte. Dies lässt sich mit gestalttherapeutischer Hilfe allerdings bearbeiten. Immerhin führt die Selbstregulation des Neurotikers ihn zum Therapeuten.
Die Neurose ist nicht in einem aktuellen inneren oder äußeren Konflikt begründet. Derartige Konflikte – Konflikte zwischen den Bedürfnissen, Konflikte zwischen sozialen Ansprüchen und körperlichen Bedürfnissen, Konflikte zwischen persönlichen Zielen (z.B. Ehrgeiz) einerseits und sozialen Ansprüchen und körperlichen Bedürfnissen andererseits – können durch das Selbst integriert werden.
Vielmehr besteht die Neurose in der vorzeitigen Befriedung der Konflikte durch die gesellschaftliche Ächtung und Unterdrückung der individuellen Aggressivität – der Möglichkeit, sich im Konflikt die Umwelt anzupassen, anstatt der Umwelt angepasst zu werden. Das erzeugt die chronische Angst, die zur Neurose führt. Nicht die Angst vor oder in einem Konflikt ist problematisch (sie ist vielmehr eine gesunde Reaktion in einem gesunden Kontext), sondern der ständig vorzeitig abgebrochene Konflikt produziert problematische Angst – nicht eine »große« Angst, sondern eine dauernde kleine Spannung: die Angst, in eine Situation verwickelt zu werden, in der ein Konflikt unausweichlich oder eigentlich nützlich wäre, aber nicht ausgetragen wird, und die Angst, dass die vielen unausgetragenen Konflikte zu Tage treten könnten.
mehr:
- Stichwort: Neurose (Leseprobe in voller Länge aus dem Lexikon der Gestalttherapie von Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, gestalttherapie-lexikon.de)
siehe auch:
- Was ist wirklich eine Neurose? (Alfred Adler – Sinn des Lebens [1933])
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In seinem Alterswerk Der Sinn des Lebens (1933) fasste Adler seinen der Individualpsychologie zugrundeliegenden philosophischen Tenor zusammen. Der Ausdruck „Sinn des Lebens“ hat bei Adler zwei verschiedene Bedeutungen: Er beschreibt zum einen den Sinn, den ein bestimmter Mensch in seinem Leben sucht und findet und der aufs engste zusammenhängt mit der Meinung, die er von sich, den Mitmenschen und der Welt hat. Zum anderen wird darunter der „wahre“ Sinn des Lebens verstanden, jener Sinn, der außerhalb unserer Erfahrung liegt und der auch von jemandem verfehlt werden kann, der fest davon überzeugt ist zu wissen, worauf es im Leben ankommt. „Nach einem Sinn des Lebens zu fragen hat nur Wert und Bedeutung, wenn man das Bezugssystem Mensch-Kosmos im Auge hat“. Die stete Anforderung aus dem Kosmos heißt „Entwicklung“, welche aus dem nativen Minderwertigkeitsgefühl nach Selbsterhaltung, Vermehrung, Kontakt mit der Außenwelt und Streben nach einer „idealen Gemeinschaft der Zukunft“ im Sinne von Immanuel Kant drängt. Für dieses Ziel der Entwicklungsbewegung verwendet Adler Begriffe wie „Vollendung“ und „Vollkommenheit“; er meint, dass das Streben nach Vollkommenheit ein „angeborenes Faktum ist, das in jedem Menschen vorhanden ist“. Adler beruft sich dabei auf Charles Darwin, auf die Abstammungslehre Jean-Baptiste de Lamarcks und auf die holistische Theorie von Jan Christiaan Smuts. Ein oft verwendeter Begriff dafür, dieser Vollkommenheit näher zu kommen, ist bei Adler die „Überwindung“ der Minderwertigkeit des Menschen. Der Begriff baut eng auf Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche auf. Adler sieht Schopenhauers Intention der bewussten Leidensüberwindung als fundamental positiven Aspekt in der menschlichen Entwicklung. Der bei Schopenhauer pessimistisch unterlegte Weltwille (mit der Konsequenz, diesen – wie bereits im Buddhismus angelegt – zu negieren zu versuchen) wird bei Adler aber – in der Nachfolge von Friedrich Nietzsches „Wille zur Macht“ betont wertfrei – als das ursprünglich schöpferische Element in jedem Lebewesen interpretiert.==========
[Alfred Adler, Philosophischer Anspruch, Wikipedia, abgerufen am 14.02.2020]
- Neurosen und Perversionen in ihrem Bezug zum Körperbild (de Gruyter, undatiert – PDF-Download)
auch zu finden in:
- Metamorphosen des Signifikanten – Zur Bedeutung des Körperbilds für die Realität des Subjekts (Peter Widmer, transcript-verlag.de, 2006)
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