Sein Name ist in der Psychiatriegeschichte vor allem mit dem Werk „Allgemeine Psychopathologie“ verbunden. Damit wurde die Psychopathologie als eigenes Arbeitsgebiet mit methodologischer Ausrichtung und philosophischem Hintergrund zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem eigenen Wissenschaftsgebiet. In der Philosophiegeschichte steht der Existenzphilosoph Jaspers für ein breites und weitgehend geschlossenes System, das, wie die übrige Existenzphilosophie, vor allem von Søren Kierkegaard beeinflusst ist. Dabei sah Jaspers wenig Gemeinsamkeiten mit anderen Vertretern dieser Denkrichtung. In Jean-Paul Sartres Philosophie fand er das Gegenteil seines Denkens: den radikalsten Versuch, die Existenz des Menschen als Selbsterschaffung aus dem Nichts zu deuten. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte Jaspers mit politischen Schriften Einfluss auf die „innere geistig-sittliche Verfassung“ in Deutschland zu nehmen.
Am 23. Februar 1883 wird Karl Jaspers in Oldenburg i. O. geboren. Die Familie ist wohlhabend, der Vater Direktor der Spar- und Leihkasse. Bereits der Gymnasiast zeigt eine unbestechliche Unabhängigkeit im Denken, die in der Oberstufe zu Konflikten führt. Seinen „Geist der Opposition“ gegen „Gehorsamssinn (…) und wichtigtuerischen (…) Philologengeist“ bezeugt Jaspers noch bei der Abschiedsfeier. Als der Direktor ihn auffordert, die lateinische Rede zu halten, lehnt er ab, „weil wir so viel Latein gar nicht gelernt haben, dass wir lateinisch sprechen können; diese künstlich vorbereitete Rede ist eine Täuschung des Publikums“. Der Direktor entlässt Jaspers mit den Worten: „Aus Ihnen kann ja nichts werden, Sie sind organisch krank!“
1901 diagnostiziert Dr. Albert Fraenkel bei Jaspers Bronchiektasen der Lunge und eine sekundäre Herzinsuffizienz – eine Erkrankung, die Jaspers’ Leben fortan wesentlich bestimmt: Verzicht auf jede physische Anstrengung und regelmäßige Hygiene des Bronchialtrakts, um Infektionen vorzubeugen. Damit sind früh die Weichen gestellt: „In der geistigen Tätigkeit liegt doch die einzige Wirkungsmöglichkeit für mich.“ Jaspers studiert zunächst Jura, dann Medizin und promoviert 1908 mit einer Studie über „Heimweh und Verbrechen“. Ein Jahr zuvor hat er Gertrud Mayer kennengelernt, 1910 heiraten die beiden. Bereits während des Studiums ist Jaspers klar geworden, dass die Psychiatrie für das Verstehen das „schwierigste Gebiet der Medizin“ ist. 1909 beginnt er seine Tätigkeit als Assistent an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik. Wegen seiner Krankheit wird er von regelmäßiger Arbeit freigestellt und kann sich ganz seiner Forschung widmen. Dafür verzichtet er auf jegliches Gehalt.
Anfang des 20. Jahrhunderts befindet sich die Psychiatrie auf dem Stand klinischer Empirie ohne einheitliches wissenschaftliches System. Theodor Meynert und Carl Wernicke stehen für eine positivistisch-naturwissenschaftliche Psychiatrie, die im Seelischen lediglich ein Epiphänomen somatischer Vorgänge sieht: Wissenschaftlich könne vom Psychischen nur geredet werden, wenn es anatomisch, körperlich vorgestellt werde. Solche Annahmen entlarvt Jaspers in seiner „Allgemeinen Psychopathologie“ (1913) als „durchaus fantastisch“, „Hirnmythologien“ und „somatisches Vorurteil“: Nicht ein einziger Hirnvorgang sei bekannt, der einem bestimmten seelischen Vorgang als Parallelerscheinung zugeordnet wäre. Um vom Seelischen wissenschaftlich zu sprechen, ist demnach ein neuer methodologischer Ansatz erforderlich. Jaspers findet ihn in der Phänomenologie des Philosophen Edmund Husserl: „Die Phänomenologie hat die Aufgabe, die seelischen Zustände, die die Kranken wirklich erleben, uns anschaulich zu vergegenwärtigen, (. . .) sie möglichst scharf zu begrenzen, zu unterscheiden und mit festen Termini zu belegen.“ Damit ist sie bei Jaspers, wie in den Frühschriften Husserls, vor allem deskriptiv, weitgehend frei von Vorurteilen und theoretischen Voraussetzungen. Ihm zufolge gibt es in der Psychopathologie nämlich kein einheitliches theoretisches System wie in den Naturwissenschaften: „Eine Theorie, die die ,richtige‘ wäre, ist nicht möglich.“ So sind Theorien für Jaspers „unumgängliche Irrtümer“: „Sie müssen geschehen, um überwunden zu werden.“ Ein wesentlicher Grund für diese Kritik liegt nicht zuletzt im Gegenstand der Psychologie selbst. Ihr Gegenstand ist der Mensch. Jede menschliche Äußerung versteht Jaspers als Erscheinung eines unbekannten, unendlichen Ganzen. So will seine Psychologie die „Unendlichkeit jedes Individuums“ respektieren und von jeder „theoretischen Vergewaltigung“ (Saner) freihalten.
Von Wilhelm Dilthey übernimmt Jaspers die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen. Dilthey hatte die beiden Methoden auf die Formel gebracht: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Jaspers unterscheidet zudem statisches Verstehen (Beschreiben, Abgrenzen, Benennen) und genetisches Verstehen. Mittels diesem verstehen wir, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht: „Der Angegriffene wird zornig und macht Abwehrhandlungen, der Betrogene wird misstrauisch.“ Die Psychologie tut beides, sie erklärt und versteht; wesentlich ist, dass sie sich darüber im Klaren ist. Sie erklärt etwa alle Dinge, die sie als außerpsychisch betrachtet. Während dem Erklären keine prinzipiellen Grenzen gesetzt sind, ist das Verstehen eingeschränkt durch die Grenzen des Einfühlungsvermögens und der Einfühlbarkeit.
Jaspers wird Philosoph
Mit der „Allgemeinen Psychopathologie“ ist Jaspers’ Tätigkeit in der Psychiatrie an ein Ende gekommen. 1913 habilitiert er sich mit dieser Schrift und wird drei Jahre später Professor in Heidelberg, zunächst für Psychologie, ab 1920 für Philosophie. Das Werk „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) markiert den Übergang vom philosophierenden Arzt zum Philosophen. Jaspers ist in einer schwierigen Situation. Zwar bahnt sich sein Weg in die Philosophie seit Jahren an, doch hat er sie nie als akademisches Studium betrieben. Mit diesem „Mangel“ muss er sich neben Heinrich Rickert, dem bedeutendsten Schulphilosophen der Zeit, behaupten, und der macht es ihm nicht eben leicht.
mehr:
- Karl Jaspers: Psychopathologie und Existenzphilosophie (Christof Goddemeier, aerzteblatt.de, Ausgabe März 2008)
siehe auch:
- Auf dem Weg zu Freud: Ribots Assoziationspsychologie und Charcots Hysteriker (Post, 21.12.2011)
- Zur Soziologie der Psychoanalyse (Post, 06.04.2008)
- Thomas Szas – Es gibt keine Geisteskrankheit (Post, 01.01.1995)
Hannah Arendt - Das Wagnis der Öffentlichkeit (über Karl Jaspers) {4:04 – Start bei 0:25}
ArendtKanal
Am 11.08.2014 veröffentlicht
Am 11.08.2014 veröffentlicht
"Wo Jaspers hinkommt und spricht, da wird es hell."
Auschnitt aus der Sendung "Zur Person" mit Günter Gaus (28.10.1964). Eine ungekürzte Fassung dieses legendären Gesprächs gibt es hier: http://www.youtube.com/watch?v=Ts4IQ2 …
Teil der Playlist "Hannah Arendt (Vorträge, Gespräche und ein Portrait)" hier:
http://www.youtube.com/playlist?list= …
Auschnitt aus der Sendung "Zur Person" mit Günter Gaus (28.10.1964). Eine ungekürzte Fassung dieses legendären Gesprächs gibt es hier: http://www.youtube.com/watch?v=Ts4IQ2 …
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http://www.youtube.com/playlist?list= …
Karl Jaspers - Kleine Schule des philosophischen Denkens. #piraten {28:32}
Benedikt Schmidt
Am 23.02.2018 veröffentlicht
Der Kampf zwischen Geheimhaltung und Öffentlichkeit.
50 Jahre alte Gedanken die sich auch in Zeiten der orwellschen NSA/BND Überwachung nicht geändert haben, sondern tausendfach verstärkt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Ja …
Am 23.02.2018 veröffentlicht
Der Kampf zwischen Geheimhaltung und Öffentlichkeit.
50 Jahre alte Gedanken die sich auch in Zeiten der orwellschen NSA/BND Überwachung nicht geändert haben, sondern tausendfach verstärkt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Ja …
Gruppe42
Am 16.5.2018 veröffentlicht
Am 16.5.2018 veröffentlicht
"Der Staat - das klingt in unseren Ohren nicht unbedingt freundlich, aber es klingt nach Recht und Ordnung. In der Schule und an der Universität erfahren wir von den ehernen Regeln der Demokratie. Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Wahlen, parlamentarische Repräsentanz, alles scheint altehrwürdig und wohlgeregelt im Staats und Verfassungsrecht. Bis in die Details und bis in die letzten Winkel ist festgelegt, wer nach welchen Regeln für was zuständig und verantworlich ist. Dass daran nicht gerüttelt wird, dafür sorgt die Demokratie, sie bezeichnet sich selbst gerne als „wehrhaft“.
Da ist ein Begriff wie „Deep State“ oder „Dualer Staat“ störend. Er legt nahe, dass es neben dem bekannten, demokratisch legitimierten Staat noch einen anderen gibt, der nicht gewählt wird, der sich selbst ermächtig, der eingreift, wann es passt. Aber wann? Wer bildet ihn? Was tut er? Wann tötet er? Warum liest man darüber so wenig? Und warum beschäftigen sich „seriöse“ Medien damit eigentlich überhaupt nicht? Medien, Politiker und Universitätslehrer verweisen den Begriff des „parallelen Staates" gerne in den Bereich der „Verschwörungstheorien“.
Und doch ist er real. In allen Staatsformen, aber insbesondere in der Demokratie, gibt es im Unterschied zum normativen Ideal die realpolitische Existenz eines „Machtstaates“ oder „Maßnahmenstaates“, des "Deep State". Auch akademische Politologen und Rechtswissenschaftler haben sich damit beschäftigt, ausnahmslos Personen, die sich mit dem Widerspruch zwischen Realpolitik einerseits und der Idee des liberalen Rechtsstaates andererseits beschäftigt haben. Sie haben erkannt: Der „Deep State" hängt mit den Erfordernissen der Hegemonialmacht im „Grossraum“ zusammen.
Dementsprechend gibt es Länder, in denen der „Tiefe Staat“ Alltagswissen ist, z.B. die Türkei oder Italien. Dort ist die Realität des parallelen Staates so unübersehbar zutage getreten, dass auch Staatspräsidenten von ihm reden - müssen. Und es gibt Länder, in denen man in öffentlichen Ämtern nicht von ihm sprechen kann, ohne Reputation und Karriere zu riskieren.
Die staatstragenden Kräfte vieler Länder blenden diese Realität deshalb weiter aus. Oder sie versuchen es zumindest. Aber auch in diesen Ländern ist der „Deep State“ aktiv geworden. Nicht nur in Vasallenstaaten, sondern auch im Zentralreich des Hegemons selbst.
Anhand praktischer Beispiele legt der Journalist Dirk Pohlmann praktisch und theoretisch dar, was es mit dem "Deep State“ auf sich hat. Sein Vortrag ist eine Mischung aus staatsrechtlicher Analyse und Bericht, wann und wo der Deep State sichtbar geworden ist. Ein spannendes Thema, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Es ist besser, darüber Bescheid zu wissen, als nur die Konsequenzen verständnislos erleben zu müssen.
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redaktion@gruppe42.com
Da ist ein Begriff wie „Deep State“ oder „Dualer Staat“ störend. Er legt nahe, dass es neben dem bekannten, demokratisch legitimierten Staat noch einen anderen gibt, der nicht gewählt wird, der sich selbst ermächtig, der eingreift, wann es passt. Aber wann? Wer bildet ihn? Was tut er? Wann tötet er? Warum liest man darüber so wenig? Und warum beschäftigen sich „seriöse“ Medien damit eigentlich überhaupt nicht? Medien, Politiker und Universitätslehrer verweisen den Begriff des „parallelen Staates" gerne in den Bereich der „Verschwörungstheorien“.
Und doch ist er real. In allen Staatsformen, aber insbesondere in der Demokratie, gibt es im Unterschied zum normativen Ideal die realpolitische Existenz eines „Machtstaates“ oder „Maßnahmenstaates“, des "Deep State". Auch akademische Politologen und Rechtswissenschaftler haben sich damit beschäftigt, ausnahmslos Personen, die sich mit dem Widerspruch zwischen Realpolitik einerseits und der Idee des liberalen Rechtsstaates andererseits beschäftigt haben. Sie haben erkannt: Der „Deep State" hängt mit den Erfordernissen der Hegemonialmacht im „Grossraum“ zusammen.
Dementsprechend gibt es Länder, in denen der „Tiefe Staat“ Alltagswissen ist, z.B. die Türkei oder Italien. Dort ist die Realität des parallelen Staates so unübersehbar zutage getreten, dass auch Staatspräsidenten von ihm reden - müssen. Und es gibt Länder, in denen man in öffentlichen Ämtern nicht von ihm sprechen kann, ohne Reputation und Karriere zu riskieren.
Die staatstragenden Kräfte vieler Länder blenden diese Realität deshalb weiter aus. Oder sie versuchen es zumindest. Aber auch in diesen Ländern ist der „Deep State“ aktiv geworden. Nicht nur in Vasallenstaaten, sondern auch im Zentralreich des Hegemons selbst.
Anhand praktischer Beispiele legt der Journalist Dirk Pohlmann praktisch und theoretisch dar, was es mit dem "Deep State“ auf sich hat. Sein Vortrag ist eine Mischung aus staatsrechtlicher Analyse und Bericht, wann und wo der Deep State sichtbar geworden ist. Ein spannendes Thema, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Es ist besser, darüber Bescheid zu wissen, als nur die Konsequenzen verständnislos erleben zu müssen.
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- Ein Abgrund von Lüge (SPON, 17.09.2012)
zu BND-Chef Gehlen siehe auch:
- Geheimdienst-Gründer Gehlen und seine Russenpanik – Rette mich, wer kann (Klaus Wiegrefe, SPON, 30.10.2017)
- Der "Katzenschlosser": Eine Schlüsselfigur im Oktoberfestattentats-Rätsel? (Markus Kompa, Telepolis, 14.02.2015)
- Geheimdienst-Gründer Gehlen und seine Russenpanik – Rette mich, wer kann (Wolfgang Löhde, ZON, 24.09.1971)
zur Affäre Langemann (»Operation Eva«) siehe auch:
- Konkret Extra: Operation Eva (Konkret, 04.08.2015)
mein Kommentar:
Wenn man von Dirk Pohlmann die Hintergründe der Spiegel-Affäre erfährt, hört sich Karl Jaspers – wie genial er auch denken und argumentieren kann – wie ein Gymnasiast an, der eine Abiturrede hält.
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