Samstag, 26. Oktober 2019

Gefühle sind nur Gefühle

Die Meditation hat zwei Aspekte: Der erste ist das Innehalten und zur Ruhe kommen, der zweite das tiefe, transformierende Schauen. Wenn Sie genügend Achtsamkeitsenergie besitzen, können Sie tief in jedes Gefühl hineinschauen und seine wahre Natur erkennen. Dann werden Sie in der Lage sein, es zu verwandeln.
Natürlich sind die Gefühle tief in uns verwurzelt.
Sie sind so stark, dass wir glauben, es nicht zu überleben, wenn wir sie einfach zuließen. Wir verleugnen und unterdrücken sie, bis sie schließlich explodieren und uns und andere verletzen. Aber ein Gefühl ist nur ein Gefühl. Es kommt, bleibt eine Weile und geht dann wieder. Warum sollten wir uns oder andere nur wegen eines Gefühls verletzen? Wir sind so viel mehr als unsere Gefühle.
Wenn wir tief schauen können, können wir die Ursachen unserer schmerzlichen Gefühle erkennen und mit der Wurzel ausreißen. Es kann bereits sehr hilfreich sein, uns lediglich darin zu üben, unsere Gefühle zu umarmen. Wenn wir in dem kritischen Augenblick, in dem wir das Gefühl empfinden, wissen, wo wir Zuflucht nehmen können, wenn wir ein- und ausatmen und unsere Aufmerksamkeit fünfzehn oder zwanzig oder gar fünfundzwanzig Minuten auf das Heben und Senken unserer Bauchdecke richten können, wird der Sturm vorüberziehen, und wir werden wissen, dass wir überleben werden. Gelingt es uns, starke Gefühle zu überwinden, erleben wir einen unerschütterlicheren Geistesfrieden. Sobald wir diese Praxis beherrschen, legt sich die Angst. Beim nächsten starken Gefühl wird es leichter. Wir wissen bereits, dass wir es überleben können.
Können wir entspannen, wenn starke Gefühle aufkommen, geben wir sie nicht an unsere Kinder und künftige Generationen weiter. Bleiben wir bei unserer Angst und unterdrücken sie, um sie dann explodieren zu lassen, geben wir sie an die jungen Menschen in unserer Umgebung weiter, die sie aufnehmen und ebenfalls weitergeben werden. Wissen wir dagegen mit ihr umzugehen, werden wir auch den geliebten und den jungen Menschen eher helfen können, ihre Angst zu bewältigen. Wir können ihnen zur Seite stehen und sagen: »Mein Liebling, atme mit mir ein und aus. Achte auf das Heben und Senken deiner Bauchdecke.« Weil sie Sie dabei beobachten können, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie Ihnen zuhören werden. Weil Sie da sind und Achtsamkeitsenergie und Festigkeit bieten, wird auch Ihre Tochter oder Ihr Partner die emotionalen Stromschnellen durchqueren können. Sie werden wissen, mit dem geliebten Menschen an ihrer Seite können sie das starke Gefühl überstehen – genau wie Sie. Sie leben vor, wie man im Angesicht der Angst ruhig bleibt, und lehren junge Menschen, ihre eigenen Stürme zu überstehen. Dadurch vermitteln Sie ihnen eine wertvolle Fähigkeit, die ihnen irgendwann vielleicht sogar das Leben retten wird.

[Thich Nhat Hanh, Der furchtlose Buddha, Arkana 2013, 3. Aufl. S. 116ff.] 

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