Erstens: Wir freuen uns, liebe Leserinnen und Leser, Ihnen mitteilen zu können, dass in der vergangenen Woche der Verein für Reinhaltung von Sprache, Meinung und Zitierung (RSMZ) gegründet wurde. Die Gründungsmitglieder entstammen höchsten Kreisen der Presse (3), der Justiz (2) sowie der Psychiatrie (1). Der Verein ist gemeinnützig und hat sich zum Ziel gesetzt, Schmutz und Schund in Kolumnen aufzuspüren, allenthalben für Mäßigung zu sorgen und der Erwähnung sekundärer oder gar primärer Geschlechtsmerkmale ein Ende zu setzen.
Der Kolumnist unterstützt diese Bemühung selbstverständlich vorbehaltlos. Insbesondere, da ihm kürzlich von einem alten Zigeuner prophezeit wurde, er werde unter dieser Voraussetzung ruhigen Herzens in Pension gehen dürfen. Von nun an wird er deshalb gnadenlos an den Gutachterausschuss des RSMZ melden, was ausgemerzt gehört!
Zweitens: In der vergangenen Woche haben wir aus den Medien – unter anderem – Folgendes gelernt: dass die strafprozessuale Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht ein wichtiger Schritt im Kampf gegen den Terrorismus sei (Quelle: CDU plus Weltpresse), dass allen Schweinen der Schwanz (Achtung, FAZ!) abgeschnitten gehöre (Quelle: Lohfink, Weltpresse), und dass, falls Hillary C. Präsidentin werden sollte, allenfalls noch die National Rifle Association etwas gegen die Ernennung eines linksextremistischen Obersten Bundesrichters unternehmen könne (Quelle: Entenhausener Kurier). Man könnte das für Nachrichten aus einer Welt des Wahns halten. Sie stammen aber, wie die Quellen belegen, aus den Zentren zivilisatorischer Vernunft.
Preisverleihung
Den Kolumnistenpreis für den erhellendsten Beitrag der Woche erhält diesmal der Deutschlandfunk für ein bizarres Interview vom 9. August zwischen dem Moderator Tobias Armbrüster und der Journalistin Gisela Friedrichsen über die bevorstehende Entlassung des Strafgefangenen Dieter Degowski ("Gladbecker Geiseldrama") nach 30 Jahren Haftzeit (nachzuhören in der DLF-Mediathek).
mehr:
- Störung, Wahn und Schuld (Thomas Fischer, ZON, 16.08.2016)
Zitate:
[…] denn der Titel eines Gesetzes fällt nicht vom Himmel oder erscheint dem Bundestagspräsidenten im Traum, sondern ist das Ergebnis eines rechtspolitischen Wollens und Formens oder Sinnens: Die Fraktion, die sich durchsetzt, bestimmt auch den Titel des Gesetzes. Und wenn sie dazu der Hilfe einer Politikberatungsfirma bedarf, deren Partner aus einer Riege vordem bedeutender Elder-Fraktionsmen besteht, so ist das nur natürlich und nicht schlecht, sondern gut (wie Mao sagen würde).
Also heißt ein Gesetz, das die Förderung von Arbeitslosen einschränkt, "Gesetz zur Beschleunigung der Integration in den Arbeitsmarkt", ein Gesetz, das das Streikrecht beschränkt, "Gesetz zur Modernisierung der Arbeitnehmervertretung", ein Gesetz, das den Bürgern jede denkbare Möglichkeit nimmt, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, "Gesetz zur Sicherstellung der Lebensfreude".
Warum ist das so? Weil die Worte "Reform" oder "Modernisierung" etwas in uns anstoßen. Täten sie das nicht – jeder Politiker, jede Partei und erst recht jede Regierung miede sie. Niemand würde seinen Gesetzesvorschlag nennen: "Gesetz zur Rückwärtsorientierung" oder "Gesetz zur Rückgängigmachung der Reform…". Die Botschaft ist also ein stetes Vorwärts! Und sie trifft immerzu in die Seelen: Vorwärts, wohin auch immer! […]
Der Wahnsinn
Wenn Sebastian Schweinsteiger, ungedopt, aus Sicht von Mehmet S. dezent übergewichtig, untrainiert, in der 93. Minute gegen die Ukraine ein Tor schießt wie Günter Netzer (aus Sicht von Waldemar H. dezent adipös) im Pokalfinale von 1973, dann sagt der Maghrebiner: "Wahnsinn". Er meint damit natürlich nicht, dass der Schweini von 2016 geisteskrank geworden sei, sondern nur, dass die Wirklichkeit vor den Augen des Nordafrikaners soeben eine Form angenommen hat, die er für übernatürlich hielte, stünde das Gegenteil nicht fest. Aber das tut es.
Anders wäre es: Wenn zum Beispiel eine riesige blauweiße Wolke sich über das Stadion senkte, und eine Stimme käme aus dem Himmel wie aus tausend Marshall-Verstärkern, die da spräche: "Dies ist mein lieber Mittelstürmer, an dem ich Wohlgefallen habe", und dann liefe ein kleiner Mensch, der sich niemals selbst eingewechselt hat, ganz allein in einem Halbkreis gegen den Ball, in Super-Slow-Motion, und die Bananenflanke senkte sich von rechts herein, und Uwe Seeler stiege hoch und hoch, höher als jemals vor ihm ein Mensch gestiegen ist, und er legte sich quer in der Luft, drei Meter über dem braunen Rasen, und er zöge einen Seitfallrückzieher mit dem rechten Spann ins linke Lattenkreuz, und noch bevor er den Boden berührte, wäre er vom gnadenlosesten Treter aller Zeiten, Nobby Stiles, genannt Ohnezahn, schon wieder gefoult worden, aber egal. […]
Also werden wir auch die Sache mit dem Dschihad hinkriegen: Je sicherer wir unserer Welt sind, desto schneller. Denn der Dschihad kämpft, entgegen seinem durcheinandergeratenen Zeitgefühl, mitnichten gegen das Kreuzfahrertum oder die Geißlerzüge oder die Verzückung der heiligen Märtyrer, und daher auch nicht gegen das "Abendland": Er kämpft auch mitnichten für das, was er zu sein vorgibt: ein Gottesreich. Denn das, liebe Verzückte, haben wir längst hinter uns.
Der Dschihad kämpft in seinen Wurzeln gegen die Armut und die Dummheit, in seinen Formen aber gegen die Offenheit und die Freiheit, für die erbärmlichste ejaculatio violentiae und einen Streifen mehr auf dem Turnschuh und zwei Gramm mehr Koks im Hirn. Das macht die Sache unübersichtlich. Die Drogenmafia in Mittelamerika ist eine Degenerationsform des Dschihad. Der Dschihad ist ein zweitausend Jahre verspäteter Spartakus-Aufstand: Sklaven möchten Herren sein. […]
Was halten wir für "normal"? Uns selbst. Alles andere: irgendwie verrückt, oder zu dick, oder fehl am Platze. Was machen wir mit den Verrückten? Alle umbringen, sagt die Ameise. Alle therapieren, sagt der Therapeut. Alles schwierig, sagt der Soldat: Erst mal ein paar Panzerhaubitzen auffahren und die Lage stabilisieren. Und was dann?
siehe auch:
- Wahnsinn II: Wunder, Wahn und der Paragraf 20 (Thomas Fischer, ZON, 09.08.2016)
- Wahnsinn: Böse, verrückt oder ein Würstchen?: (Thomas Fischer, ZON, 02.08.2016)
- Serie Fischer im Recht bei ZON
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