Freitag, 15. Juli 2016

Die Entwertung des Erwachsenseins – Bindungslosigkeit

page1image12864Sascha Z. ist Soldat. Aus Berufung, sagt er, das sei mehr noch als Überzeugung. Den Einzelkämpferlehrgang hat der ernsthafte dreißigjährige Panzergrenadier, den seine Stubenkameraden als "völlig humorlos" bezeichneten, erstklassig bestanden. Das beste Ergebnis seit zehn Jahren, beschieden ihm die Ausbilder. Längst hält sich Sascha eine eigene Wohnung am derzeitigen Einsatzort. Ein kleines privates Fitneß-Studio mit diversen Bänken und Hanteln ergänzt das Mobiliar. Am Bettrand und auf der Toilette stapeln sich Männermagazine, Dossiers und Anleitungen zum Muskelaufbau. Sascha leidet unter seiner Schmalbrüstigkeit. Das würde der wortkarge Mann nie eingestehen. Zwischen Bücherregalen, in der penibel gerichteten Küche und über dem Bett des Junggesellen hängen große Sesamstraßen-Plakate. Ernie und das Quietsche-Entchen, Miss Piggy hysterischen Blicks, Oskar, der frech aus der Mülltonne lugt.

Ganz neu ist die Klage über eine infantile und zunehmend regredierende Gesellschaft nicht. In den späten 1960ern wurde im Rahmen von Alexander Mitscherlichs Kritik und Vision einer vaterlosen Gesellschaft eine allgemein konstatierte Reifungshemmung nahezu schlagworttauglich. Später bemerkte Neil Postman in Das Verschwinden der Kindheit, daß 

[Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit, zuletzt Frankfurt a.M. 1995.]

es nur eine Frage der Perspektive sei, ob Kindheit oder Erwachsenenalter verschwänden und konstatierte zwischen Säuglingsalter und Senilität eine langgestreckte dritte Lebensstufe: die des "Kind-Erwachsenen". 

Mitte der Neunziger, im Zuge der massenhaften Versorgung deutscher Haushalte mit Privatfernsehen und den entsprechenden Blödelprogrammen und Voyeurshows, erschienen zahlreiche Bücher zur "kindlichen Gesellschaft", und der Spiegel titelte mit dem Schreckensbild eines Morbus Infantilitatis. Vor einem halben Jahr sorgte ein Aufmacher auf den Lifestyle-Seiten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung für Wirbel. Der Hohn, mit dem Matthias Heinen dort die Masse der altersmäßig längst erwachsenen "Endlospubertierenden" bedachte, trieb den Redakteur der beachtenswerten und sonst recht nüchtern argumentierenden Internetseite www.single-dasein.de zur Weißglut und einem 

[Matthias Heinen: Die Deutschen werden immer infantiler. in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. November 2003.]

flammenden Manifest: "Wir Infantilisten sind nicht infantil, sondern infantilistisch!" wurde da in Fettdruck gebrüllt, und: "Uns Infantilisten gehört die Zukunft, die Vergangenheit überlassen wir gerne euch." Erhellend ergänzt durch Analyse und O-Töne der infantilen Generation wurde Heinens Artikel im übrigen durch das Kursbuch "Die Dreißigjährigen" vom Dezember 2003 - das Dilemma der gelangweilten Pop-Generation ohne "abenteuerliche Herzen" wird hier greifbar. 

Die Kritik an Infantilismusvorwürfen wiederum ist so alt wie das eigentliche Symptom: Erstens, so argumentieren gerne die Sozialdemokratie und ihre wissenschaftlichen Adepten (etwa Ulrich Beck), 

[Ulrich Beck: Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den Werteverfall, in: Kinder der Freiheit (hrsg. von Ulrich Beck), Frankfurt a.M. 1997.]

seien Gemeinsinn und soziales Engagement unter jungen Erwachsenen niemals stärker ausgeprägt gewesen als derzeit. Außeracht gelassen wird dabei, daß gesellschaftliches Engagement sich heute weitgehend auf vereinzelte, überindividualisierte Zusammenhänge beschränkt und das Private wie das Gemeinschaftsganze ebensowenig tangiert, wie es etwas über vollmenschliche Reife aussagt. Eine ehrenamtliche Tätigkeit für Amnesty International oder Greenpeace zieht eben nicht nach sich, daß der alten Frau oder der hochschwangeren in der U-Bahn der Platz überlassen wird. Auch schwindende Manieren sind ein Aspekt der Unreife. 
mehr:
- Kinder an der Macht (Ellen Kositza, Grundlagen, Sezession, Juli 2004, PDF)

mein Kommentar:
schwindende Manieren, Unreife? Wo kommt das her?


HERBERT GRÖNEMEYER - kinder an die macht - LIVE @ WALDBÜHNE BERLIN 12-6-2015 [3:31]
Veröffentlicht am 12.06.2015
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