Dienstag, 31. Mai 2016

Bei etwas bleiben heißt: Immer wieder zurückkehren

Ein Freund sagte mir einmal: »Ich bin meiner Frau treu.« Auf meine Frage, was er damit meine, antwortete er: »Ich komme immer wieder zu ihr zurück.«
»Ein Logik-Trick«, dachte ich.
Heute denke ich, daß solche Logik-Tricks nicht das Schlechteste sind.
Den Theologen, Zen-Lehrer und Religionskundler Michael von Brück habe ich einmal gefragt, was er unter Erleuchtung verstehe.Er antwortete, er mache sich drüber keine Gedanken mehr.
Damals dachte ich, er wolle einer Diskussion aus dem Weg gehen.
Heute kann ich seine Haltung gut nachvollziehen…



Wie man richtig fällt

Dezember 2002

Eine häufig gestellte Frage ist diese: „Wie kann man sagen, ob ihr in eurer Meditation Fortschritte macht?“ Und eine der Antworten lautet: „Wenn der Geist seinem Objekt entschlüpft, werdet ihr ihn immer schneller zurückholen.“ Beachtet, die Antwort ist nicht: Der Geist entwischt überhaupt nicht, sondern: Es wird von euch erwartet, dass er entwischt; das ist ein normaler Teil der Praxis, ein normaler Teil des Trainings. Das Entscheidende liegt darin, aufmerksamer für das, was geschieht, zu sein und schneller zu reagieren, wenn euch die Beobachtung des Atems entglitten ist.

Ein wichtiger Teil des Erlernens der Meditation ist es also, zu lernen, wie man fällt. Man sagt, wenn ihr beginnt, Aikido zu lernen, so ist das Erste, was sie euch beibringen, wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Damit wird bezweckt, dass ihr immer weniger Angst vor dem Fallen habt, dabei natürlich immer weniger Schaden nehmt und auch die Wahrscheinlichkeit zu fallen immer geringer wird und dabei die Bereitschaft zu Risiken steigt.

Wenn ihr meditiert, besteht der Trick also darin, dass ihr lernt, den Geist mit einem Minimum an Selbstvorwürfen und einem Minimum an Selbstkritik zurückzuholen, mit der bloßen Beobachtung: „lch bin nicht hergekommen, um über das Programm der nächsten Woche, über die Misserfolge der letzten Nacht oder über sonst etwas nachzudenken. Ich bin hier, um mich auf den Atem zu konzentrieren.“ Verlasst die anderen Dinge einfach und kehrt zurück. Lernt, dies zu tun, ohne ein Problem daraus zu machen. 

In unserem modernen Ausbildungssystem werden unsere natürlichen Talente oft früh kanalisiert und wir dabei spezialisiert. Das Ergebnis ist, dass wir nicht lernen, wie man eine Fähigkeit erwirbt. Wenn wir uns also um etwas bemühen, das uns nicht von Natur aus zufällt, so scheint es das Leichteste in der Welt zu sein, wenn wir ausrutschen und hinfallen, sich einfach dem Fall zu überlassen und dann dazuliegen. Das nennt man nicht zu wissen, wie man fällt. Der Trick beim Fallen ist, wahrzunehmen, dass da ein gewisse Eigendynamik ist, aber, dass wir uns ihr nicht völlig hingeben müssen.

Wahrnehmen könnt ihr das, wenn ihr euch vorgenommen habt, für einen gewissen Zeitraum auf etwas zu verzichten. Letzten Sommer war es hier im Kloster populär, auf Schokolade am Abend zu verzichten. Dann aber kam die Versuchung: „Was ist denn schon verkehrt an einem bissehen Schokolade?“ Nun, daran ist nichts wirklich falsch. Also war es leicht, auf die innere Stimme zu hören und den gefassten Vorsatz aufzugeben – und zur Schokolade zu greifen. Das Problem daran war natürlieh, dass der wichtige Teil des Versprechens nicht die Schokolade beinhaltete, sondern die Einübung des Festhaltens an dem Versprechen. Allzu oft glauben wir, dass einmalig gefällte Entscheidungen, ein Gelöbnis zu brechen, nicht mehr ungeschehen gemacht werden können, dass ihr machtlos seid. Es ist aber möglich, die Entscheidung zurückzunehmen – schon im nächsten Augenblick, im übernächsten oder sogar im überübernächsten. Das nennt man richtig fallen lernen. Mit anderen Worten, ihr gebt der Schwungkraft der Versuchung nicht nach. Ihr werdet merken, dass ihr immer die Freiheit gewinnt, eure Meinung zu ändern und zu eurem Vorsatz zurückzukommen.

Wenn ihr bemerkt, dass ihr den Atem entgleiten lasst, gebt euch nicht einfach dieser Dynamik des Entgleitenlassens hin. Fangt euch mit dem Gedanken auf: „Ich kann einfach umkehren!“, Ihr werdet staunen, wie schnell ihr umkehren könnt. Nun, der Geist kommt vielleicht mit anderen Gründen daher: „Oh nein, du kannst jetzt nicht umkehren, du bist doch eine Verpflichtung eingegangen.“ Plötzlich fühlst du dich der Ablenkung verpflichtet – die dir gegenüber keine Verpflichtung hat – du aber hast nicht das Gefühl, deiner Meditation verpflichtet zu sein. Das ist einer der vielen Tricks, die der Geist sich selber vorgaukelt. Das Wichtige dabei ist, zu lernen, wie man diese Tricks durchschaut, ihnen nicht Glauben schenkt und selber ein paar eigene Tricks kennt.

Ein Teil des Geistes sagt, dass es natürlicher ist, immer den leichteren Ausweg zu wählen. In Wirklichkeit ist dies aber eine Angelegenheit, die auf der Frage „Natur oder Erziehung“ beruht. Würdet ihr einen Psychotherapeuten aufsuchen, würde dieser euch erklären, wie eure speziellen Gewohnheiten auf eine spezielle Weise entwickelt wurden. Wie eure Eltern euch aufgezogen haben, spielt ebenso eine Rolle wie spezielle Erfahrungen, die euch als Jugendlichen zuteilwurden. Das bedeutet, dass diese Gewohnheiten nicht notwendigerweise natürlich sein müssen. Sie sind erlernt. Sie sind da, sie sind tief verankert, aber ihr könnt sie wieder verlernen. Ihr könnt den Geist in eine andere Richtung führen, was wir ja tun, wenn wir es in der Meditation üben. Wir erziehen den Geist um.

Und wir lehren ihn nicht nur, wie der Geist bei einem Thema verharren soll, so wie wir beim Atem verharren, sondern wir bringen ihm auch bei, schneller zum Atem zurückzukehren: Wie ihr euch abfangt, wenn der Geist beginnt, den Atem loszulassen und sich an etwas anderes zu heften, um dann einfach wieder umzukehren und wieder am Atem festzumachen. Auf diese Weise bringt ihr euch selber Disziplin bei, allerdings ohne die Strenge, die wir gewöhnlich mit dem Wort „Disziplin“ verbinden. Wir erlernen eine mehr beiläufige Art des Umgangs mir unserem Geist.

Ihr seht, dass hier viel Spreu vom Weizen getrennt wird. Als Ergebnis gibt es viel weniger „Haken im Kopf“, an denen sich die Befleckungcn aufhängen können. Statt euch mit Abstraktionen wie „meine Persönlichkeit“, „mein Charakter“ oder „die Art, wie ich bin“ abzugeben, bleibt einfach auf den gegenwärtigen Augenblick konzentriert. Egal, welchen Entschluss ihr gefasst habt, ihr habt ihn in Willensfreiheit getroffen und wenn ihr bemerkt, dass es ein schlechter Entschluss ist, so habt ihr die absolute Freiheit, einen anderen Entschluss zu wählen. Wenn ihr mir eurem Selbstbildnis brecht, das ja ein weiteres Versteck für alle möglichen Befleckungen ist, so ist das Spielfeld viel klarer und es gibt viel weniger Orte, an denen Befleckungen sich verstecken können.

Eine mir bekannte Frau in Laguna Beach ging einmal zu einem Meditations-Retreat, wo ihr beigebracht wurde, die Meditationspraxis in den Alltag zu übertragen, indem das tägliche Leben als Wechselspiel zwischen dem Absoluten und dem Relativen betrachtet wird. Das sind ziemlich große Abstraktionen, wahrscheinlich die größten, die denkbar sind. Nachdem die Frau eine Woche lang versuchte, in diesen Begriffen zu denken, kam sie am Sonntag zu der anderen, das Sitzen übenden Gruppe.

Sie stellte die sehr komplizierte Frage, wie sie ihr Leben unter diesen Bedingungen in den Griff bekommen könne. Ich rnuss zugehen, die Frage war so kompliziert, dass ich ihr gar nicht folgen konnte, aber das Problem war doch offensichtlich: Je abstrakter die Abstraktion ist, umso schwerer fällt es, den Weg auf dem Pfade klar zu sehen und umso leichter verheddert man sich in Knoten. Wir neigen dazu, Abstraktionen als sauber und korrekt anzusehen, doch geben sie in Wirklichkeit Raum für eine Fülle von Kompliziertheiten. Sie breiten Schleier über das wirkliche Geschehen. Wenn ihr die Abstraktionen wegwischt, dann habt ihr den Geist direkt am Atem. Er kann beim Atem verweilen oder ihn verlassen. So einfach ist das.

Das gleiche Prinzip trifft auf die gesamte Praxis zu. Sobald ihr euch entschlossen habt, die Tugendregeln einzuhalten, entscheidet ihr in jedem Augenblick wieder, ob ihr zu dem Gelöbnis stehen werdet. Sobald ihr euch entschlossen habt, beim Atem zu verweilen, entscheidet ihr in jedem weiteren Augenblick, ob ihr bei dieser Absicht bleibt. Und je mehr ihr euch im Geist an einfache, grundlegende, bodenständige Dinge haltet, umso leichter wird es euch fallen, auf dem Pfad zu bleiben. Es ist wichtig, dabei lebensnah, ohne Umwege, mit Klarheit und ohne Fragen über eure Vergangenheit, ohne Fragen über euer Selbstbildnis vorzugehen. Diese Dinge würden den Prozess unnötig verkomplizieren. Wenn ihr aber doch vom Pfad fallt, ist es viel leichter, euch zurückzuholen, weil es auf dem Grund, auf den ihr fallt, weniger Kornpliziertheiren gibt. Versucht also, nicht nur wenn ihr rneditiert, sondern auch wenn ihr die anderen Aspekte des Pfades übt, die Dinge so einfach, so lebensnah und so gegenwärtig wie möglich zu halten.

Als ich mich bei Ajahn Fuang aufhielt, pflegte er mich zuweilen zu Dingen aufzufordern wie: „Setz dich heute Nacht hin und meditiere die ganze Nacht lang.“ „Oh weh“, antwortete ich, als er das zum ersten Mal sagte: „Ich kann das nicht; ich habe letzte Nacht nicht genug Schlaf bekommen und ich hatte einen langen, ermüdenden Tag.“ Und so weiter. Da sagte er: „Wird es dich umbringen?“ – „Das wohl nicht.“ – „Dann kannst du es doch tun.“

Einfach so. Natürlich war es nicht leicht, aber es war einfach. Und wenn ihr die Dinge einfach haltet, werden sie schließlich tatsächlich leichter. Bleibt bei diesem Entschluss und hinterfragt ihn nicht. Anstatt zu denken „Die ganze Nacht, die ganze Nacht muss ich das durchhalten“, denkt einfach nur „Dieser Atem, dieser Atem, dieser Atem“, Findet Wege, euer Interesse an jedem Atemzug wachzuhalten und ihr werdet es bis zum nächsten Morgen schaffen.

So könnt ihr die Meditation in das tägliche Leben tragen: Haltet die Dinge einfach, macht sie einfach. Sobald die Dinge im Geist vereinfacht sind, haben die Befleckungen nicht mehr viele Orte, um sich zu verstecken. Und wenn ihr wirklich fallt, so fallt ihr an einem Platz, von dem es sich leichter wieder aufstehen lässt. Ihr müsst dem Schwung des Fallens nicht nachgeben und liegenbleiben oder in Treibsand versinken. Fangt euch ab und gewinnt unmittelbar eure Balance wieder!

Meine Mutter hat einmal gesagt, dass das Ereignis, welches sie zum ersten Mal zu meinem Vater hinzog, während einer Mahlzeit in ihrem Haus geschah. Mein Onkel, ihr Bruder, hatte meinen Vater vom College nachhause zu einem Besuch eingeladen. Eines Tages wischte mein Vater versehentlich ein Glas Milch während des Essens vom Tisch. Aber er fing das Glas auf, noch bevor es auf dem Boden aufschlug. Und das war es, warum meine Mutter ihn heiratete. Ich weiß, es klingt irgendwie verrückt – Ich verdanke also meine Existenz den schnellen Reflexen meines Vaters - aber es sagt etwas sehr Interessantes aus. Und es ist die Art von Qualität, die ihr als Meditierender braucht: Wenn ihr euch selber zu Fall bringt, dann könnt ihr euch auch selber gleich wieder aufhelfen. Und wenn ihr das schafft, noch ehe ihr den Boden berührt, so ist das umso besser. Doch selbst wenn ihr flach am Boden liegt, seid ihr kein Glas. Ihr seid nicht zerschellt. Ihr könnt euch wieder selbst erheben.

Versucht, es genauso einfach zu halten.

aus: Ajahn Thanissaro Bhikkhu, Meditationen, Buddhistische Gesellschaft München e. V., 2011


Larry Rosenberg sagt über das Zurückkehren zum Atem Folgendes:


Der Punkt, wo sich gewöhnlich das Konzept von Erfolg und Mißerfolg und damit etwas Zwanghaftes in die Übung einschleicht, liegt in der Aufgabe, beim Atem zu bleiben. Aus dieser Aufforderung machen wir ein Drama von Erfolg und Mißerfolg: Wir sind erfolgreich, wenn wir beim Atem bleiben können, wir versagen, wenn wir nicht dabei bleiben können. In Wahrheit besteht die Meditation in dem gesamten Ablauf: mit dem Atem sein, abschweifen, sehen, daß wir abgeschweift sind, sanft zum Atem zurückkehren. Es ist außerordentlich wichtig, daß wir zurückkommen, ohne uns selbst Vorwürfe zu machen, uns zu verurteilen oder ein Gefühl des Versagens aufkommen zu lassen. Wenn Sie während einer Sitzperiode innerhalb von fünf Minuten tausendmal zum Atem zurückkehren müssen, dann tun Sie es einfach. Das ist kein Problem, es sei denn, Sie machen eines daraus.
Jeder Moment, in dem Sie bemerken, daß Sie anderswo waren, ist schließlich ein Augenblick der Achtsamkeit und damit ein Same, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß in Zukunft wieder derartige Momente eintreten werden. Am besten ist es, diese ganze Mentalität von Erfolg und Mißerfolg hinter uns zu lassen und unser Leben als eine Serie von sich abwechselnden Geisteszuständen zu begreifen. Wenn Sie bereits eine laserartige Aufmerksamkeit hätten, die niemals von ihrem Objekt abweicht, dann bräuchten Sie schließlich gar nicht zu meditieren. Das Ziel der ersten beiden Kontemplationen besteht nicht darin, perfekt zu atmen. Es geht darum, daß Sie betrachten, wie Ihre Atmung in Wirklichkeit ist.
Vor einigen Jahren sah ich an einem Sommermorgen einem Zen-Meister beim Bogenschießen zu, als er für die Gemeinschaft seines Klosters eine Demonstration gab. Nahezu 150 Personen hatten sich auf einem großen offenen Feld versammelt. Er stellte sein Ziel auf und war in die volle japanische Tracht der Zen-Bogenschützen gekleidet, mit Handgelenkschützern und allen möglichen anderen Ausrüstungsgegenständen. Bevor der Pfeil abgeschossen wurde, der, wie wir alle hofften, das Auge des Stieres durchbohren würde, fand eine längere Zeremonie statt mit allerlei Rezitationen und rituellen Handlungen. Dann kam der große Augenblick, und wir alle konnten die Spannung spüren. Der Meister spannte den Bogen mit dem Pfeil. Wir alle hielten den Atem an. Er schien den Pfeil eine Ewigkeit in dieser Position zu halten. Dann macht er eine plötzliche Drehung und schoß den Pfeil in die Luft. Ein Raunen ging durch die Menge. Der Bogenschütze brach in lautes Gelächter aus.
Damit ließ er uns wissen, daß die fixe Idee eines Zieles nicht das ist, worum es geht. Wir im Westen haben einen starken „Um-zu-Geist“. Wir wollen von A nach B und von B nach C gelangen. Am liebsten würden wir von A geradewegs nach Z gehen, unsere Habilitation bereits am ersten Tag erhalten und alle Schritte dazwischen überspringen. Erleuchtung in einer einzigen leichten Übungsstunde. Unser Geist ist ständig mit allen möglichen Berechnungen beschäftigt. Alles dient nur dazu, zu einem Ergebnis zu gelangen.
Aber damit verpassen wir, worum es hier eigentlich geht.
Jeder Moment eines Atemzuges ist zugleich Mittel wie Zweck. Wir betrachten den Atem nicht, um zur Erleuchtung zu gelangen. Wir betrachten nur einfach den Atem, sind mit ihm verbunden, sitzen mit ihm wie ein Löwe. Erleuchtung ist letztlich nichts weiter als ein weiterer Knochen. Sie ist eine Vorstellung, die wir haben.
Wir sind dazu aufgerufen, in der Atmung aufzugehen und alle Knochen hinter uns zu lassen, all die Dinge, mit denen wir uns ständig beschäftigen: Sorgen, Pläne, Ängste, alles, was unser Geist sich ausdenkt. Und wenn wir uns wieder in diesen Dingen verstricken, dann bemerken wir es und kehren sanft zum Atem zurück. Vor allem in unserer modernen Zeit, wo alle Welt derart von Vielfalt und Komplexität beeindruckt ist und so verzweifelt danach sucht, unterhalten zu werden, ist es eine Wohltat, sich in diesem einfachen, sich ständig wiederholenden Vorgang niederlassen zu können. Diese Gelegenheit, die wir haben, wenn wir beim Atem sind und immer wieder zu ihm zurückkehren, ist eine Chance, eine einfache, gewöhnliche Aktivität gut zu machen und ihr mit großer Sorgfalt und großem Respekt zu begegnen.
Den Geist immer wieder an diese Wiederholung heranzuführen kann eine wundervolle Übung in Einfachheit sein, die in unserer heutigen Welt dringend nötig ist. Viele Menschen kommen zur Meditation und erwarten eine komplizierte Übung, die zu außergewöhnlichen Erfahrungen führt. Sie können nicht glauben, daß sie einfach nur dasitzen und den Atem betrachten sollen. Aber wenn wir lernen,  uns einem Objekt hinzugeben, dann werden wir sehen, wie nützlich diese Fähigkeit auch in anderen Bereichen unseres Lebens ist. Wie viele Male putzen wir uns die Zähne, gehen wir auf die Toilette, ziehen wir uns an, machen wir das Bett? Unsere Tage sind gefüllt von derart alltäglichen Handlungen, die sich ständig wiederholen, und gewöhnlich verrichten wir sie auf mechanische Weise. Das bedeutet, daß wir einen Großteil unseres Lebens verpassen. Diese Übung lehrt uns, inmitten unserer routinemäßigen Aktivitäten frisch und gegenwärtig zu bleiben und damit unser Leben wirklich zu leben.
Die Übung unter Ajahn Maha Boowa in Thailand stellte für mich eine dramatische Übung in dieser Geisteshaltung dar. Jeder Meditierende bekam eine kleine Hütte, Kuti genannt, im Wald zugewiesen. Die Hütten waren untereinander durch Wege verbunden, auf die den ganzen Tag lang Blätter fielen. Zweimal täglich nahmen wir einen Besen und fegten unseren Weg. Selbst während wir das taten, konnten wir zusehen, wie wieder neue Blätter auf den Weg fielen, den wir gerade gefegt hatten, was uns Gelegenheit gab, Freude an dieser Tätigkeit als solcher zu entwickeln, selbst während wir zusehen konnten, wie das Ergebnis gleich wieder zunichte gemacht wurde. Wenn man es sich recht überlegt, verhält sich vieles in unserem Leben genauso.
Ich habe schon unzählige Male Meditationsanweisungen gegeben. Gewöhnlich gelingt es mir, in dieser Situation frisch zu bleiben, aber manchmal höre ich mich die Anleitungen mit einer metallischen Stimme herunterleiern. Das ist dann ein Zeichen für mich, daß ich aufwachen muß. Ich komme auf die gleiche Weise zurück, wie ich zum Atem zurückkehre. Wenn ich aufmerksam bin, erhalten die gleichen alten Anweisungen neues Leben.
Die ständige Wiederholung des Rückkehrens zum Atem hat also einen wirklichen Wert. Unser Wunsch, immer gleich das Ziel zu erreichen, alles immer richtig zu machen, ist ein Hindernis. Wir beginnen uns selbst anzuklagen: „Ich verstehe einfach nicht, wie man das macht. Ich bin ein schlechter Meditierender, alle anderen sind konzentrierter als ich. Wenn mein Geist bloß aufhören würde, ständig abzuschweifen, dann könnte ich meditieren.“ Aber zu sehen, daß der Geist abschweift, ist die Praxis. Wenn Sie die Übung fortsetzen, dann müssen Sie vielleicht millionenmal zurückkehren. Daher ist es äußerst wichtig, auf leichte und liebevolle Weise zurückzukommen. Machen Sie daraus einen Tanz und keinen Ringkampf!·
Ein anderer Aspekt der Übung – der im Grunde über die Kontemplation, mit der wir uns gerade beschäftigen, hinaus- führt, der sich aber trotzdem einstellen wird, selbst wenn wir nur den Atem betrachten -, besteht darin, daß wir beginnen, die Natur der „Knochen“ zu erkennen, denen wir ständig hinterherlaufen. Haben wir erst einmal etwas Sammlung entwickelt, dann besteht die wesentliche Aufgabe der Übung darin, diese Knochen zu betrachten. Gewisse Dinge erscheinen immer wieder. „Er hat gesagt … , dann hat sie gesagt … , dann habe ich gesagt „Oder: „Wenn das klappt, dann werde ich vielleicht , aber andererseits könnte ich …“
Schon allein die Tatsache, daß diese Dinge immer wieder erscheinen, macht eigentlich deutlich, daß ständiges Denken diese Fragen und Probleme nicht löst. Gewöhnlich geht es dabei auch nicht um die wichtigsten Dinge im Leben. Wenn Sie dies sehen, werden Sie die Gedanken vielleicht nicht mehr so intensiv verfolgen wie zuvor. Sie werden erkennen, wie nutzlos das alles ist.

Im Jiddischen gibt es das Wort yenta, das dieses Phänomen beschreibt. Yenta ist der Klatsch in der Nachbarschaft, wobei jeder über jeden Bescheid weiß, alle immer im Bilde darüber sind, was los ist, jeder überall herumschnüffelt und versucht, irgendwelche Dinge aufzudecken. Sie werden bemerken, daß der Geist ein einziges großes Yenta ist, daß er ständig über andere redet, sich selbst beschimpft, beklagt, daß alles schon einmal besser war, und weiß, wie es sich verbessern könnte. Das Leben allerdings bleibt einfach, wie es ist. Wir beginnen zu erkennen, daß all unsere Ideen darüber, wie das Leben sein sollte, viel zu viele unserer wertvollen Momente des Atmens einnehmen. Wir müssen anfangen, unser Leben zu sehen – und zu akzeptieren –, wie es ist.


Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt,  S. 64ff.

Zen-Meister Muho Noelke über Gedanken bei der Meditation und die Erleuchtung [3:35]
Veröffentlicht am 19.10.2014
Zen-Meister Muho Noelke im Interview mit Gert Scobel

Die unprätentiöse Art Muhos ist richtig wohltuend! Ein anderes Video mit Scobel und Muho findet sich hier:
- Zen-Klöster in Deutschland, Deutsche im Zen-Kloster (Post, 31.05.2014, fünftes Video)
Folgender Post zeigt, daß es auch anders geht (»See the Show!«):
- Slavoj Zizek, Hinnerk Polenski, Westlicher Buddhismus und gendergerechtes Chi-Spezialtraining (Post, 22.05.2016)
aktualisiert am 02.06.2016

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