Die Gänse
Es war sieben Uhr morgens, und ich stand auf der Veranda
von Ruperts Hütte. Ich war gerade von der Morgenmeditation zurückgekommen und
hatte keine Lust hineinzugehen, wo der kalte, feuchte Raum mich erwartete. Ich
würde spülen, Frühstück machen, den Fußboden kehren und den Tisch decken
müssen. Aber was am schlimmsten war, ich mußte den Ofen überreden zu brennen,
anstatt zu rauchen.
Ich hatte noch ein paar Minuten Zeit. Rupert war erst in
einer halben Stunde zu erwarten, er wollte etwas an dem antiken Lastwagenmotor,
der das Sägewerk antrieb, reparieren. Es bestand also keine Notwendigkeit,
gleich hineinzugehen, ich konnte rauchen und ein bißchen nachdenken.
Aber es war kalt, und ich verspürte das Bedürfnis, mich ein
wenig zu bewegen. Ich stampfte mit den Füßen, und die Bretter der Veranda
antworteten mit einem tiefen, hohlen Klang. Ich probierte es noch einmal, und
der Klang wurde sogar noch besser. Das Stampfen ging in einen langsamen Tanz
über, ich begann, zu summen und mit den Händen zu klatschen. Ich lachte und
hörte auf. Ein tanzender Derwisch. Tanzen kann sehr religiös sein. Die
Derwische verloren ihr Ich, während sie herumwirbelten und heulten.
Buddhistische Mönche tanzen bekanntlich auch. Die Tibeter haben ihre
Lama-Tänze, und die Zen-Priester begeistern sich für komplizierte
Zeremonialtänze, ich hatte ihnen im Hof des prächtigen Haupttempels unserer
Sekte in Kioto dabei zugesehen. Aber Tanzen ist nicht die Hauptbeschäftigung
der Zen-Mönche. Sie ziehen es vor zu meditieren. Langes Sitzen gibt tiefe
Einsicht. Ein Ausspruch von Peter. Einer seiner wenigen Aussprüche. Ein
Ausspruch, der der eigenen Erfahrung entspringt.
Ich versuchte auszurechnen, wie viele Stunden ich meditiert
hatte. Dreitausend vielleicht. Oder vier? lst das viel?
Und besaß ich jetzt diese tiefe Einsicht?
Aber ja doch, sagte ich zu mir selbst. Du mußt nicht so
bescheiden sein. Du hast Einsicht, mein Bester. Es ist vielleicht nicht sehr
viel, und es gibt sicher andere, die mehr Einsicht haben, unendlich viel mehr,
aber dieser feine Unterschied kann ignoriert werden. Einsicht ist Einsicht. Du
weißt, warum du lebst. Nein, sagte ich, ich weiß nicht, warum ich lebe. Ich
habe bloß aufgehört, mich zu fragen, weil es mich nicht mehr interessiert. Die
Frage ist verschwunden. Aber Fragen verschwinden nur, wenn sie eine Antwort
gefunden haben. Was war also die Antwort?
Nicht in Worten auszudrücken, sagte ich schlau. Echte
Weisheit ist nicht in Worten auszudrücken. Sei nicht schlau, sagte ich zu mir
selbst.
Gut, gut, antwortete ich. Ich habe begriffen, oder ich habe
angefangen zu begreifen, daß ›ich‹ nicht existiere. Das bedeutet, daß ›mein
Leben‹ auch nicht existiert. Und du brauchst dich nicht nach dem Zweck von
etwas zu fragen, das nicht existiert.
Du versuchst immer noch, schlau zu sein, erwiderte ich. Und
ich hatte recht. Aber wie sollte ich es nur anfangen? Wie drückt man aus, was
nicht auszudrücken ist? Wie kann man Augenblicke der Einsicht beschreiben? Wie
soll man zeigen, daß man auf dem richtig~Weg ist?
Buddhismus ist negativ. Er sagt, was er nicht ist. Wenn man
insistiert, daß er etwas sein muß, bietet er einem nur einen kleinen freien
Raum, den man nach Belieben ausfüllen kann. Er ist nur spezifisch hinsichtlich
seiner Methoden. Er sagt, man soll meditieren, sich dessen bewußt sein, was man
tut, sein Bestes tun. Er sagr, man soll seinen Lebensunterhalt auf anständige
Art und Weise verdienen. Er schreibt freundliches Sprechen und Denken vor. Er
empfiehlt, daß man sich seine eigenen Situationen schaffen soll, anstatt sich von
sich selbst und anderen herumschubsen zu lassen. Er ermahnt einen, seine
eigenen Zweifel nicht zu unterdrücken. Er rät, alles selbst auszuprobieren. Er
verabscheut jegliches Dogma. Er möchte nicht, daß man anderen die eigene
Meinung aufzwingt. Und er betont, daß man sich selbst erkennen soll, seine
eigene Faulheit, seinen Stolz und seine Gier, die zusammen die Macht
darstellen, die das Rad des Lebens dreht.
Einen Augenblick, sagte ich zu mir selbst. Ich weiß etwas.
Ich weiß, daß Freiheit existiert. Es ist der zentrale Punkt des Buddhismus. Der
Kreislauf scheint ewig. Leben folgt auf Leben, Himmel auf Himmel, Hölle auf
Hölle. Der Wille zu leben erzeugt neue Geburten und neue Tode. Aber Freiheit
kann in jedem Moment erreicht werden. Buddha hat sich befreit, die Zen-Meister
haben sich befreit. Was sie können, kannst du auch. Du mußt es nur weiter
versuchen.
Bist du sicher? fragte ich. Hast du diese Freiheit erlebt?
Und wenn ja, was ist sie? Bedeutet Freiheit, auf einer Wolke zu sitzen wie
dieser Buddha auf dem Poster, das du in Ceylon gesehen hast? Du sitzt auf einer
Wolke, frei von aller Beeinflussung durch das Rad des Lebens, und beobachtest
die Anstrengungen der kleinen Menschen, die immer noch im begrenzten Raum ihrer
Egos herumturnen? Und wo ist die Wolke überhaupt?
Nun, die Wolke ist hier. Die Wolke ist nicht außerhalb
deines Lebens. Du solltest nicht zu weit weg suchen. Die Freiheit ist hier, wo
sie immer gewesen ist. Wenn du versuchst zu entkommen, machst du einen
törichten Fehler. Aber woher weißt du, daß diese Freiheit existiert? Freiheit
existiert, wiederholte ich eigensinnig.
Hast du jetzt Angst? fragte ich. Habe ich den wunden Punkt
in deinem Glauben berührt? Willst du nicht mehr darüber sprechen? Wirst du
wütend, weil ich gegen das Brett trete, auf dem deine Wichtigkeit steht?
Fürchtest du, das Brett könnte nachgeben und dich in ein bodenloses Loch
stürzen? Hast du Angst, etwas zu verlieren?
Nein. Ich hatte keine Angst. Freiheit existiert und wird
immer existieren. Freiheit ist nicht mit dem Ich verbunden. Ob das Ich an sie
glaubt oder nicht, sie wird immer da sein. Sie ist eine von außen kommende
Illusion.
»Was gibt es zum Frühstück?« fragte Rupert.
Ich sah auf.
»Hast du deinen Verstand verloren?« fragte Rupert. »Ich bin
den Weg heraufgekommen und habe dir zugewinkt, und du hast mitten durch mich
hindurch gesehen. Ich habe ›GUTEN MORGEN!‹ gerufen, und du hast mich mit leeren
Augen angesehen.
»Was gibt es zum Frühstück?« »Leere Augen?« fragte ich.
»Schon gut«, sagte Rupert, »du hattest leere Augen. Nur das
Weiße war zu sehen, nicht die Pupillen.«
»Keine Pupillen?»
»Bah», sagte Rupert, «reiz mich nicht. Ich habe einen
Scherz gemacht. Ich möchte wissen, was es zum Frühstück gibt. Ich habe Hunger.
Peter möchte, daß ich für ihn in die Stadt fahre. Ich habe zehn Minuten, um zu
frühstücken.«
»WAS GIBT ES ZU ESSEN?»
»Nichts«, erwiderte ich freundlich.
Er stampfte auf den Fußboden. Er war wütend, daran bestand
kein Zweifel. Ein paarmal in dem Monat, in dem ich in seiner Hütte lebte, hatte
er beinahe die Beherrschung verloren, es war ihm jedoch immer gerade noch
gelungen, die Kontrolle zu behalten, aber jetzt verlor er sie wirklich. »Was,
zum Teufel, hast du die ganze Zeit gemacht? Du hattest doch mindestens eine
halbe Stunde Zeit?«
»Ich habe nachgedacht.« »Worüber?»
»Über Freiheit.«
»Und deshalb hast du kein Frühstück gemacht? Soll ich deine
Freiheit essen?«
Ich hatte immer noch meinen freundlichen Gesichtsausdruck,
und Rupert kniff seine Augen zusammen ... Gut. Dann esse ich eben nichts. Ich
muß gehen.«
»Soll ich dir ein bißehen Geld geben? Dann kannst du
unterwegs frühstücken.«
Rupert kniff seine Augen noch etwas mehr zusammen. Seine
Hände ballten sich zu Fäusten, und er trat dicht vor mich »Ich brauche dein
Geld nicht. Du bist ein verzogenes Miststück. Du gehörst nicht hierhin. Du
kannst nicht von fünf Dollar in der Woche leben. Dein Leben ist zu leicht. Du
hüpfst in ein Flugzeug, schlüpfst in deinen Fellmantel und spielst dein Spiel.
So kommst du nirgendwohin. Auf dumme Gedanken kommst du.«
Er ging zum Auto, das er am Anfang des Weges geparkt hatte.
Es stand hinter der Kurve, und ich hörte, wie er die Tür zuknallte; der Motor
heulte auf, die Reifen quietschten, und ich hörte einen lauten Bums. Als ich
den Weg hinunterging, um nachzusehen, was passiert war, war das Auto schon
verschwunden, aber die Spuren zeigten auf einen Baum. Der Baum hatte etwas von
seiner Rinde verloren. Ruperts Auto würde eine ganz hübsche Beule haben. Die
Reparatur würde um die fünfzig Dollar kosten, und die Tür war vielleicht auch
beschädigt.
Ich ging zur Hütte zurück und machte Frühstück. Ich
bereitete ein Festessen daraus, indem ich seinen Anteil der Würstchen auch aß.
›Wut ist eine Krankheit‹, dachte ich, während ich mir noch ein Ei nahm. –›Eine
Krankheit, die so verbreitet ist wie der Schnupfen.‹ Ich litt selbst daran. Man
schreit und stampft, ist überzeugt, daß man recht hat, und fährt mit dem Auto
gegen einen Baum. Man drückt auf einen Knopf, und Bomben fallen aus einem
Flugzeug. Man wirft Napalm auf rennende Soldaten und setzt Krankenhäuser und
Schulen in Brand. Man ruft die Polizei an und bezichtigt seinen Nachbarn eines
Verbrechens. Man klettert auf eine Seifenkiste und gestikuliert mit den Händen.
Man hat einen schlechten Geschmack im Mund, und nach einer Weile bekommt man
Magengeschwüre.
Ich war auf Rupert nicht böse. Er hatte natürlich recht.
Ich hätte das Frühstück rechtzeitig zubereiten müssen. Morgen würde ich es
besser machen. Jetzt war es zu spät. Ich schmierte mir noch einen Toast mit
Butter.
»Wo ist Rupert?
Peter war hereingekommen und versuchte, seine Hände an
unserem wenig hilfreichen Ofen zu wärmen.
»Er ist beleidigt weggefahren. Ich hatte vergessen, das
Frühstück zu machen, und er hatte keine Zeit zu warten.«
Peter lachte und setzte sich an der anderen Seite unseres
behelfsmäßigen Tisches auf den Fußboden. Ich schenkte ihm etwas Tee ein .
»Hat er mit dir geschimpft?»
»Ja», sagte ich mit vollem Mund, »er nannte mich ein
verzogenes Miststück, mein Leben sei zu leicht, ich sei unfähig, etwas zu lernen.«
Peter nickte.
»Hat er recht?«
»Nein«, sagte Peter. »Du kannst schon lernen. Aber es
trifft zu, wenn er sagt, dein Leben sei leicht. Du gehst in ein paar Tagen
wieder weg. Rupert kann nicht fort. Er hat die Idee, jahrelang hier bleiben zu
müssen. Das Leben hier draußen kann angenehm sein, aber manchmal ist es auch
sehr ermüdend, deprimierend sogar. Er muß fast jeden Morgen um halb drei
aufstehen. Ich lasse ihn schwere Arbeit verrichten. Und er meditiert.«
Ich begann, den Tisch abzuräumen, und goß etwas Wasser in
das Spülbecken für den Abwasch. »Das gewöhnliche Leben ist auch nicht leicht.«
Peter nahm ein Geschirrhandtuch. Er klopfte mir auf die
Schulter. »Armer Junge. All die Verantwortung, die du zu tragen hast. Ich fühle
mit dir.«
»Ich auch mit dir«, erwiderte ich.
Als wir mit dem Abwasch fertig waren, begann ich, den Boden
zu fegen, aber Peter unterbrach mich.
»Laß das nur«, sagte er, »ich brauche dich heute morgen. Du
kannst mir helfen, die Gänse in den neuen Stall zu treiben. Die anderen
arbeiten alle im Wald, und ich werde mit den Gänsen alleine nicht fertig.«
Plötzlich mußte ich daran denken, was Edgar mir erzählt
hatte.
Peter war im vergangenen Jahr von einem Baum, den er selbst
gefällt hatte, am Kopf getroffen worden .
»Peter«, sagte ich, »ich habe gehört, daß du letztes Jahr
einen Unfall hattest. Ein gefällter Baum schlug dich bewußtlos. Stimmt das?«
Peter sah mich an »Wer hat dir das erzählt?« »Weiß ich
nicht mehr«, log ich .
»Es stimmt«, sagte Peter. »Ich sage allen immer, daß sie
nie allein Bäume fällen sollen. Wenn der Baum einen trifft und man allein ist,
kann es vorkommen, daß man mehrere Stunden im Schnee liegt, bevor man gefunden
wird. Oder man wird vielleicht gar nicht gefunden und erfriert. Das wäre mir
beinahe passiert.«
»Das war nicht sehr intelligent«, sagte ich.
»Nein.«
«Zen-Meister machen also Fehler?« fragte ich . »Aha. Darauf
willst du hinaus?«
Ich sagte nichts.
»Gut, du hast recht. Zen-Meister machen Fehler.« Ich
schüttelte meinen Kopf.
»Bist du jetzt enttäuscht?»
»Ja«, sagte ich. »Es macht mir nichts ans, wenn ich Fehler
mache, aber es sollte jemanden geben, der keine macht.« »Warum?« fragte Peter.
»Das gibt mir ein besseres Gefühl.«
Er lachte. »Nun, ich fürchte, Meister können dir in der
Hinsicht nicht behilflich sein. Sie lehren, und währenddessen fallen ihnen ihre
eigenen Bäume auf den Kopf.«
»Mach dir nichts draus«, sagte er etwas später, als wir auf
der Straße gingen, »die Arbeit wird dich wieder aufmuntern. Gänse jagen ist
sehr lustig, du wirst sehen.«
Gänse sind lärmende, dumme Vögel. Peter besaß eine Herde
von zwanzig Stück. Wir mußten sie über die Straße treiben und danach noch einen
Kilometer über Felder. Sie verloren die Richtung, schnatterten und schrien.
Einige wenige versuchten zu fliegen, aber sie waren zu schwer und fielen in den
Schnee zurück. Auch Gänse haben die Buddha-Natur, doch davon merkte ich
wenig.lch schrie, rannte hin und her und schlug mit einem Zweig auf ihre dicken
Hintern.
»Was wirst du mit den Gänsen machen?«
»Sie mästen«, sagte Peter, «und dann ab in den Topf.«
»Wirst du sie selbst töten?«
»Nein«, antwortete Peter, »das könnte ich nicht. Dafür
kommt jemand aus der Stadt.«
Ein echter Buddhist, dachte ich. Die Tibeter mußten
Mohammedaner importieren, weil kein Tibeter Schlachter werden wollte. Ein
Schlachter akkumuliert viel schlechtes Karma,
und das behindert ihn auf seinem Weg. Aber Fleisch von einem Tier essen, das
ein anderer totgeschlagen hat, daran ist nichts Schlechtes.
Unterwegs mußte ich lachen. Den Gänsen gelang ein
Massendurchbruch, und sie watschelten so schnell sie konnten zurück. Peter
schnitt ihnen den Weg ab und trieb sie wieder in meine Richtung. Ich sah sie
auf mich zukommen, schön ordentlich in einer Reihe und hinter ihnen Peter, mit
ausgestreckten Armen aus Leibeskräften schreiend. Seine Mütze war auf seinen
Hinterkopf gerutscht, und sein Mund stand weit offen. Sein Gesicht glänzte vor
Schweiß.
»Schönes Schauspiel, oder?« fragte er, als er an mir
vorbeikam.
Das Leben ist ein schönes Schauspiel. Amüsant, voller
Witze.
Das Leben ist ein Witz, hatte der alte japanische Lehrer in
Kioto gesagt. Er war ganz ernst dabei gewesen.
Menschen werden geboren, leiden und sterben.
Sie haben Hunger, sie sind in Konzentrationslagern
eingesperrt, sie bekommen Lepra und Krebs, sie wohnen in kleinen Betonzimmern in
Altersheimen, sie weinen vor Angst, wenn ihre Häuser bombardiert werden. Sie
ertrinken wie Ratten. Sie kaufen Dinge, die sie nicht brauchen und die nach
kurzer Zeit kaputtgehen. Alles, was man sich vorstellen kann, geschieht, früher
oder später. Dem Menschen wird nichts erspart. Er leidet auf die merkwürdigste
Art und Weise. Er wird sogar verrückt und bekommt Pillen. Er ist für eine Weile
betäubt, und wenn die Pillen nicht mehr wirken, ist er wieder verrückt. Aber
das Leben ist ein Witz. Ich wußte es. Ich wußte etwas. Aber nicht genug.
Neugier, oder der Zweifel, zwang mich weiterzugehen. Diesen Nachmittag würde
ich wieder meditieren. Und diesen Abend. Ein bewährtes Mittel, verschrieben von
den Zen-Meistern.
Eine Leiche
Es war Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Du hast andere
Dinge zu tun, als in einer Hütte im Schnee stillzusitzen.
In Amsterdam wartet geduldig deine bürgerliche Existenz auf
dich. Sie weiß, daß du zurückkommen wirst. Deine Familie, dein Haus, deine Arbeit,
der tägliche Weg zum Büro und zum Lager, das Warten an den Ampeln, der schnelle
Blick auf die Kirchturmuhr. Du bist heute ein bißchen spät dran – du bist heute
schön pünktlich. Die Einkaufsliste wartet auf dich, das klingelnde Telefon und
die Morgenpost. Der Trott, die Tretmühle.
Die Eintönigkeit des Alltags war einst der Fluch deines
Daseins gewesen, das Grauenhafteste, das du dir vorstellen konntest. Der
Gedanke, daß dein Leben mit einer Folge sich endlos wiederholender Handlungen
ausgefüllt sein würde, erschien dir unerträglich. Du wolltest alles, nur das
nicht. Du hattest dir eine Spannung gewünscht, die immer größer werden sollte,
bis du eines Tages platzen würdest. Die Möglichkeit, daß du verrückt werden
oder einen Unfall haben könntest, erschien dir als Erlösung. Du hattest dich
mit dem Gedanken aufgemuntert, daß das Leben eine Reise sei, die an einen
Abgrund führt. Der Abgrund wäre ein Abenteuer für sich, und du würdest den
endgültigen Sturz genießen.
Du warst davon überzeugt, daß du das wirklich glaubtest.
Der Sprung in den Buddhismus schien mit diesen Vorstellungen verbunden zu sein.
Du hattest verschwommene Ideen, als du sprangst. Das Klosterleben war für dich
eine heldenhafte Begegnung mit dem Hohen und dem Tiefen.
Abenteuer und Heldenhaftigkeit. Die Wörter sind mit
·›sensationeller Erfahrung‹ verknüpft. Das ist es, was du gewollt hattest.
Vielleicht warst du Visionen nachgejagt, vielleicht hattest du Bodhisattwas
sehen wollen in ihren vielen Blickwinkeln, lieblich und böse, verführerisch und
quälend.
Vielleicht hattest du gedacht, die Mönche würden Musik
machen, und der Meister an seinem Altar würde die Schwingungen im Tempel so
lange verstärken, bis sie deiner Seele die Einsicht entrissen. Vielleicht
hattest du geglaubt, du würdest in einer Weihrauchwolke in den Himmel oder ins
Nirwana schweben, während die Priester ihre riesigen Tempeltrommeln schlügen.
Und es war etwas geschehen. Die Mönche hatten eine
unheimliche Musik gemacht. Die Priester hatten ihre Trommeln geschlagen,
Trommeln groß wie Weinfässer, mit straff gespannten Häuten, die von großen
Kupfernägeln gehalten wurden. Der Trommler ratschte mit seinen Stöcken über die
Nägel, daß dir die Haare zu Berge standen. Und der Meister streckte sich auf
dem Boden aus, immer wieder, sich selbst demütigend, während die lebensgroßen
Buddhas auf dem Altar ihn beobachteten, aktiv in ihrer ewig lächelnden Ruhe,
und der sich kräuselnde Weihrauch umhüllte den zerbrechlichen Körper des
Meisters und die mitleidsvollen Gottheiten.
Und du hattest auch Visionen gehabt.
Und vielleicht hatte sich ein kleines bißchen Einsicht
gebildet. Eine Einsicht, die sich in dieser Landschaft aus Schnee und nackten
Bäumen vertieft haben mochte.
»Was hast du also gelernt?« frage ich. »Nichts«, sagst du.
Du sagst: »Guter Freund, ich habe nichts gelernt.«
Aber in solch einer bescheidenen Antwort steckt eine große
Arroganz. Nur das Nichts ist, und
dem, der vorgibt, dieses Nichts zu kennen, muß man sofort mißtrauen, weil er große
Worte benutzt und behauptet, auf einem so hohen Niveau zu stehen. Deshalb kann
ich nur den Kopf schütteln und meinen Weg durch die Leere fortsetzen, die immer
noch voll zu sein scheint.
Du siehst, daß deine Antwort mich nicht erreicht hat, und
du versuchst es noch einmal.
Aber die Antwort ist immer noch zu hochtrabend, zu
arrogant.
Das Nichts ist das große Mysterium. Es ist unbeschreibbar.
Mit Wörtern kann man versuchen, sich ihm zu nähern. Zen mag solch ein Wort
sein. Und Tao, Christus, Allah, Buddha sind andere. Es gibt ein Wort, das heißt
›Gott‹.
Diese Wörter kann man aufschreiben. Ich kann Sätze mit
ihnen bilden. Ich kann mir Theorien ausdenken und die Wörter einfügen. Aber die
Wörter sind aus einer anderen Ordnung als die vorstellbare Ordnung, in der ich
mich befinde.
Ein Zen-Meister sagt, daß Buddha ein Stück Hundescheiße
sei.
Meister Eckhart bestreitet die Existenz Gottes und
Nicht-Gottes. In einem Roman von Simon Vestdijk beschreibt er Christus als
Kellner mit Kaninchenzähnen. Alle diese Beschreibungen sind richtig und falsch.
Ich frage dich, was du gelernt hast.
Du hast doch etwas gelernt? Du machst dies hier doch nicht,
weil du nichts anderes zu tun hast? Der Mönch, der zehn Stunden täglich in
einer ungemütlichen kalten Halle stillsitzt, warum tut er das?
Du siehst mich an. Du sagst nichts. Du meinst, ich muß
selbst darauf kommen? Du meinst, es gibt Wahrheiten, die so groß sind wie Kühe,
und daß ich diese Wahrheiten vor meiner Nase gehabt habe, seit ich geboren
wurde?
Du meinst, ich sollte wissen, daß ich mein Bestes tun muß?
Weil ich ein Holländer bin? Sein Allerbestes tun, ist eine
Wahrheit von der Größe einer holländischen Kuh.
Wir sind ein fleißiges Volk. Einfacher stupider Fleiß ist
heute nicht mehr zeitgemäß, aber es gibt noch genügend Beispiele dafür in diesem
nassen, zugigen Sumpf.
Du meinst, ich sollte weitermachen und immer mein
Allerbestes tun, bis der Tod mich am Nacken packt?
Du erlaubst doch, daß ich mal lache? Das war das letzte,
was du erwartet hattest, als der Buddhismus dir bestätigte, du müßtest dein
Bestes tun. Du hast dich dagegen gesträubt, bis die Botschaft eindeutig war.
Das Geschöpf, das sich ›Mensch‹ nennt, muß sein Bestes tun. Was immer er tut,
muß er so gut wie möglich tun. Und er sollte gleichgültig dabei sein.
Aber das erscheint mir schwierig. Ich bin im Westen
geboren, ich möchte eine einfache Wahrheit. Wie kann ich gleichgültig sein,
während ich mein Bestes tue?
Vielleicht könnte ich es begreifen, wenn ich im Osten
geboren wäre. Weisheit ist im Osten etwas Natürliches. Ein Chinese verbringt
ein ganzes Leben in seinen Gemüsegärten, aber die Flut kommt und spiilt sie
weg. Der Chinese steht auf einem Hügel, lächelt und wartet, bis die Flut
zurückgeht, um dann wieder von vorn anzufangen.
Würde ich es fertigbringen zu lächeln, wenn ich den Berg
Buddhas erreichte und da wäre nichts?
Weißt du sonst noch etwas?
Ja, vielleicht. Ein tibetischer Mönch erzählte dir etwas
über ›Herzensgüte‹, das Mitgefühl Buddhas und sein unendliches Verständnis. Die
Geschichte war nicht allzuschwer zu verstehen. Güte kann verstanden werden.
Aber du konntest die Güte nicht mit der Zen-Schulung in Verbindung bringen. Die
Ausbildung erschien dir hart, einfach nur hart. Du mußtest stillsitzen und dich
konzentrieren, und du konntest dich nicht einmal beklagen. Aber später
glaubtest du zu verstehen. Zen-Meister sind sehr gütig.
Wenn etwas nicht funktioniert, hören sie auf. Mönche und
Schüler werden weggeschickt. Meditationsperioden werden ohne Erklärung
verlängert. Du bekommst etwas zu tun, und es interessiert dich, aber dann
bekommst du etwas anderes zu tun. Du wirst gelobt und erhältst die Aufsicht
über andere, aber dann ist plötzlich alles wieder vorbei, und der Meister
scheint dich nicht zu kennen, wenn du ihm im Garten begegnest.
Aber seine Handlungen sind Handlungen der Güte. Er arbeitet
von einem Punkt aus, den du nicht erreichen oder verstehen kannst. Er ist frei,
du nicht. Er weiß, was los ist. Du zweifelst manchmal an seiner Weisheit.
Schüler verlassen ihn, und sie kommen zurück oder auch nicht. Alles ist
möglich, alles hat einen Sinn.
Nichts hat einen Sinn – die Wahrheit hat die Größe einer
Kuh. Du tust dein Allerbestes. Was du dir vorgestellt hast, nimmt Gestalt an.
Du wirst reich, du bist erfolgreich, die Leute bewundern dich. Die Umstände
ändern sich, und du wirst nicht mehr bewundert. Es stellt sich ohne jeden
Zweifel heraus, daß du von Anfang an alles falsch gemacht hast. Der General
wird vorzeitig pensioniert. Der Industriemagnat zieht sich in die Schweiz
zurück, oder er hängt sich auf und hinterläßt einen kurzen bitteren Brief. Der
Schriftsteller wird vergessen, und der Schauspieler wartet vergeblich auf
seinen Applaus. Der Ballettänzer stirbt in einer Irrenanstalt, und der
Staatsmann kommt ins Gefängnis.
Und ganz gleich, was du tust, du wirst sterben. Alles, was
du aufgebaut hast, wird wieder niedergerissen, manchmal, solange du noch lebst.
Der Tag wird kommen, da dein Lebenswerk zerstört wird und nichts mehr davon
übrigbleibt.
Sogar die Kugel, auf der du lebst, bietet keine Sicherheit.
Planeten verschwinden, und jeden Tag entstehen neue. Wir leben in einer Leere,
einer Leere ohne Sinn.
Es ist also alles ein Witz. Der alte Lehrer meinte das ganz
ernst. Er sagte, daß du ihn eines Tages verstehen würdest, und du glaubtest
ihm.
Vielleicht beginnst du ihn jetzt zu verstehen. Aber du
wagst es nicht mit Sicherheit zu sagen. Vielleicht geschieht heute oder morgen
etwas, was deine ›Einsicht‹ erschüttert. Aber du machst dir nicht mehr soviel
Sorgen darüber wie früher. Du wirst sehen, was passIert, und unterdessen machst
du weiter.
Du kannst jetzt verstehen, daß es einmal einen Zen-Meister
gab, der an den den Wegesrand setzte und jedesmal schallend lachte, wenn Jemand
vorüberging. Manche erklärten ihn für verrückt und gingen weiter, aber andere
hielten an und fragten ihn, was ihn so belustige. Er erklärte es nicht, er
lachte nur. Er lachte nicht über sIe, er lachte über das, was er sah. Und er
lebte in einer Zelt der Unterdrückung, des Elends, der Hungersnot. In Indien
gibt es Yogis, die jahrelang hintereinander meditieren. Sie essen nicht, sie
schlafen nicht, und sie gehen nicht auf die Toilette. Sie sItzen unter einem
Baum oder in einer Höhle oder auf einer Müllhalde in der Nähe einer großen
Stadt. Sie leben in Stille, und ihre Stille strahlt eine große Barmherzigkeit
aus; vielleicht war auch das schallende Gelächter des Zen-Meisters barmherzig.
Das Leben ist schrecklich, und es ist wunderschön. Das Wort
›Wunder‹ ist zu oft benutzt worden und hat seinen Wert verloren. Aber wir leben
inmitten von Wundern. Die Amseln im Park, die Enten, die auf den Grachten
treiben, die dahingleitenden Möwen, aber auch das Auto auf der Straße, der
Bagger im Polder und die großen quadratischen Wohnblocks. Wer sich die Zeit
nimmt und in Ruhe beobachtet, ist überrascht und spürt die Leere seines eigenen
Dasems .
»Laß los! Laß los!
Der Zen-Meiister spricht zu seinem Schüler. Der Schüler
fragt immer.· Er will wissen. Er will sein. Er will besitzen. Er will, daß er
Lehrer ihm alles gibt.
Aber der Meister gibt ihm nichts .
»Was soll ich denn loslassen?« fragt der Schüler, aber der
Meister ist weggegangen und hört nicht zu.
Er muß sich selbst loslassen. Seine Ideen. Sogar die
Einsicht, die er gefunden zu haben glaubt. Keinen geistigen Besitz. Überhaupt
nichts. Er muß seine eigene Persönlichkeit, seinen eigenen Namen vergessen.
Eine chinesische Allegorie erzählt, wie ein Mönch sich auf
eine lange Pilgerreise begibt, um Buddha zu finden. Viele Jahre ist er auf der
Suche, und schließlich gelangt er in das Land, in dem Buddha lebt.
Er überquert einen Fluß, es ist ein breiter Fluß, und er
blickt um sich, während der Bootsmann ihn hinüberrudert.
Da schwimmt eine Leiche auf dem Wasser, und sie kommt
näher.
Der Mönch sieht hin. Die Leiche ist so nahe, daß er sie
berühren kann. Er erkennt die Leiche, es ist seine eigene.
Der Mönch verliert seine Selbstbeherrschung und beginnt zu wehklagen.
Da treibt er, tot. Nichts bleibt zurück.
Alles, was er je gewesen ist, je gelernt, je besessen hat,
treibt an ihm vorbei, still und leblos, in der trägen braunen Strömung des
breiten Flusses.
Das ist der erste Moment seiner Befreiung.
aus Janwillem
van de Wetering, Ein Blick ins Nichts
siehe auch:
- Outsider in Amsterdam (Kerstin Schoof, CulturMag, 02.08.2008)
- Janwillem van de Wetering by Stanley Moss (BomB Magazine, Summer 1996)
- A Good Read, Janwillem van de Wetering, Video MPBN)
siehe auch:
- Outsider in Amsterdam (Kerstin Schoof, CulturMag, 02.08.2008)
- Janwillem van de Wetering by Stanley Moss (BomB Magazine, Summer 1996)
- A Good Read, Janwillem van de Wetering, Video MPBN)
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