Dienstag, 6. Januar 2015

Ratschläge zum Üben von Achtsamkeit

Am Zentrum in Cambridge gebe ich meinen Schülern für ihre Achtsamkeitspraxis während des Alltags einen Handzettel mit folgenden Erinnerungen:


1. Wann immer möglich, machen Sie nur eine Sache auf einmal.

Der berühmte Ratschlag im Zen lautet: „Wenn du sitzt, dann sitze. Wenn du gehst, dann gehe. Schwanke nicht hin und her.“ Es ist immer sinnvoll, sich zu fragen: Was ist meine primäre Aktivität in dieser Situation? Wenn Sie das Geschirr spülen, dann spülen Sie nur. Wenn Sie Auto fahren, dann fahren Sie nur. (Dieser Aspekt des achtsamen Lebens scheint heute besonders notwendig, da viele Fahrer vorbeirauschen, während sie eine Zigarette rauchen, Kaffee trinken, Radio hören und sich über das Autotelefon unterhalten. Und ein Aufkleber auf der Stoßstange sagt: „Ich würde lieber Golf spielen.“ Manchmal fragt man sich, wer eigentlich am Steuer sitzt.) Manchmal mag eine Handlung in einem größeren Kontext geschehen, jemand spricht mit Ihnen, während Sie am Steuer sitzen, aber im allgemeinen ist offensichtlich, welches die primäre Aktivität ist. Betrachten Sie den gegenwärtigen Moment, sehen Sie, um welche Aktivität es sich handelt, und konzentrieren Sie sich darauf.
Es mag sein, daß die Situation, in der Sie sich befinden, chaotisch und verwirrend ist. Wenn das so ist, dann seien Sie bei der Verwirrung. Betrachten Sie sie genau, auch wenn etwas Angst dabei entstehen mag. Aber wenn Sie der Unsicherheit erlauben, dazusein, und der Versuchung widerstehen können, zu handeln, nur weil Sie die Unsicherheit nicht ertragen können, dann besteht eine größere Chance, daß Sie Klarheit gewinnen. Ihr eigenes Chaos kann Sie zur Klarheit führen, wenn Sie der Erfahrung bewußt begegnen können. Der Atem kann in einer solchen Situation hilfreich sein, indem er als Bremse für die Tendenz des Geistes funktioniert, impulsiv zu handeln und jede Art von Handeln der Angst vorzuziehen, welche die Unsicherheit begleitet. Manchmal besteht Weisheit gerade darin, nicht zu handeln.
Die Leute fragen manchmal: „Wie kann ich je etwas zustande bringen, wenn ich nur eine Tätigkeit auf einmal ausführe?“ In der Tat können wir dann effektiver sein. Wenn wir nur eine Sache machen, herrscht eine bessere Aufmerksamkeit und weniger Spannung, und dadurch gewinnen wir mehr Zeit als dadurch, daß wir mehrere Dinge gleichzeitig tun.
Manchmal bekomme ich auch den Einwand zu hören, daß diese Eine-Sache-auf-einmal-Regel das soziale Leben ruinieren würde. Ich will Sie nicht etwa dazu anhalten, daß Sie bei einem Fest mit Freunden Ihr Essen nehmen, sich damit in eine Ecke des Raumes verziehen und sich dort ausschließlich darauf konzentrieren. Große Familienfeiern erfordern von uns, daß wir mit einer panoramaartigen Aufmerksamkeit essen, trinken, sprechen und hören, wie eine solche Situation es erfordert. Samâdhi in Aktion muß sowohl stetig als auch geschmeidig sein. Einmal liegt die Aufmerksamkeit auf einer Person, dann auf einem Bissen Essen, dann nimmt sie einen weites Spektrum auf, wie eine Weitwinkellinse, das eine Anzahl von Menschen umfaßt – weniger präzise im Detail, aber vollkommen wach für die Situation.
Der größte Teil unseres Lebens ist aber nicht sehr kompliziert oder braucht es nicht zu sein, wenn wir nur eine Sache auf einmal tun. Die Anforderungen einer Situation sind im allgemeinen offensichtlich und klar. Kam Ihr Kind gerade ins Haus gerannt, um Ihnen etwas zu sagen? Hören Sie zu!


2. Schenken Sie dem, was Sie tun, Ihre volle Achtsamkeit.

Wenn nichts zwischen uns und der Aufgabe steht, die sich vor uns befindet, dann schenken wir ihr unsere volle Achtsamkeit. Wenn Sie vor einem Spülbecken voll schmutzigen Geschirrs stehen und Ihr Geist ist von Widerwillen über diese Aufgabe erfüllt, voller Ungeduld, wie lange es wohl dauern wird, den Abwasch zu erledigen, und Sie über den Film nachdenken, den Sie an diesem Abend sehen werden, dann sind Sie getrennt von dem, was Sie tun. Die Hände spülen, aber der Geist nicht. Auf diese Art gespalten zu sein bedeutet, daß Sie weniger als vollkommen lebendig sind.
Uns der Aufgabe mit unserem ganzen Körper und Geist zu widmen, ungeteilt und in intimem Kontakt mit unserer Handlung zu sein, das ist es, was die chinesischen Meister „dem Leben Leben geben“ nannten. Das kann manchmal ein „täterloses Tun“ sein, so tiefgründig wie die Erleuchtung selbst, der erwachte Geist in Aktion. Die Fähigkeit, unser Leben in den Mittelpunkt zu stellen, steht uns jederzeit zur Verfügung, sowohl in routinemäßigen wie in dramatischen Situationen.
Schauen Sie das nächste Mal, wenn Sie eine einfache Tätigkeit verrichten, ob zusätzliches Denken Ihr Handeln begleitet. Das heißt natürlich nicht, daß Denken falsch ist, nur daß es in dieser Situation nicht hilfreich sein mag. Wenn Sie sich in einer Situation befinden, die Denken erfordert, dann denken Sie! Wenn Sie Ihre Steuererklärung ausfüllen, dann füllen Sie sie aus. Addieren Sie Ihre Zahlen richtig.


3. Wenn Ihr Geist von dem abschweift, was Sie tun, bringen Sie ihn zurück.

Manchmal wandert der Geist so sehr, daß Sie Ihrer Aufgabe nicht länger gerecht werden. Zu anderen Zeiten ist das Wandern subtiler. Durch die Übung werden Sie mit der Zeit viel empfindsamer für das Denken und dafür, wie es Sie davon abhält, voll und ganz bei einer Tätigkeit zu sein. Versuchen Sie nicht, mit Gewalt oder durch Willensanstrengung bei der Handlung zu sein, sondern sehen Sie einfach die Trennung, und dieses Sehen wird die Ganzheit der Handlung wiederherstellen. Das Denken verbrennt in einer Flamme von Achtsamkeit, und Sie bleiben nur mit dem zurück, was Sie gerade tun.


4. Wiederholgen Sie den dritten Schritt unzählige Male.

Es ist wichtig, sanft und ohne Urteil von Ihrer Ablenkung zurückzukehren. Die Übung besteht nicht nur darin, daß Sie bei dem Objekt bleiben. Zu Übung gehört auch, daß Sie sehen, daß Sie abgeschweift sind, und auf eine würdevolle Weise zurückkehren.


5. Untersuchen Sie, was Sie ablenkt.

Wenn Ihr Geist immer wieder zu etwas anderem wandert, mag es hilfreich sein, das, was auftaucht, zu betrachten. Vielleicht versucht es Ihnen etwas über Ihr Leben zu sagen, etwas, das Sie tun oder lassen müssen. Das Leben bahnt sich seinen Weg in unser Bewußtsein, wenn wir nicht adäquat auf die Dinge eingehen. Wenn Sie sich der Ablenkung zuwenden – vorausgesetzt, Ihre Situation erlaubt es Ihnen –, machen Sie diese zum Objekt Ihrer Aufmerksamkeit. Schenken Sie ihr etwas Zeit, und kehren Sie dann zu Ihrer primären Aufgabe zurück.
Die ganze Kunst, die Praxis ins tägliche Leben zu integrieren, besteht darin, zu lernen, die Richtung der Achtsamkeit auf diese Weise ständig zu ändern. Wenn Sie eine Sache machen, dann machen Sie sie voll und ganz; aber seien Sie anpassungsfähig. Wenn ein Kind mit einem blutigen Knie ins Haus gerannt kommt und schreit, dann tritt das als primäres Objekt an die Stelle des Wischens des Küchenfußbodens. Schenken Sie dem Kind Ihre volle Aufmerksamkeit.
Die Kunst des achtsamen Lebens erfordert starkes Interesse und lebenslanges, sanftes und entschlossenes Bemühen. Immer wieder schläft man ein, und immer wieder erinnert man sich daran, zu erwachen. Zu oft beginnen Meditierende die Praxis mit einer grimmigen, freudlosen und ehrgeizigen Haltung, aber auf diese Art zu üben bedeutet „Ketten und einen eisernen Ring zu tragen“, wie der chinesische Meister Wu Men sagte. Man muß sich um die Kunst des achtsamen Lebens bemühen, aber dieses Bemühen sollte man nicht mit Vergleichen und Selbstverurteilung beladen. Tatsächlich macht Achtsamkeit Ihren Geist leichter und freier.
Die Entwicklung dieser Art von Einfachheit schränkt Ihr Leben nicht ein, wie manche Menschen befürchten. In der Tat macht sie Ihr Leben voller. Wir haben über die Notwendigkeit gesprochen, auf dem Kissen eine einfache Weise des Seins zu entdecken, aber dies ist im alltäglichen Leben genauso notwendig. Wirkliche Befriedigung finden wir nicht dadurch, daß wir unablässig nach immer neuen Zielen streben, sondern indem wir uns an den kleinen Dingen erfreuen, die tatsächlich unser Leben ausmachen.
Meine Großmutter pflegte eine alte jüdische Geschichte zu erzählen, die diese Art von Freude illustriert. Sie handelte von einem Mann namens Buncha Zweig. Buncha war ein guter Mann gewesen, jedem gegenüber sehr gütig und großzügig. Er hatte stets hart gearbeitet und sich um seine Familie gekümmert, und so kam er in den Himmel, als er starb. Bei seiner Ankunft begrüßten ihn die Engel und sagten: „Gratuliere, Buncha. Du hast ein wundervolles, tugendhaftes Leben geführt. Jetzt bist du im Himmel und kannst alles haben, was du möchtest. Was hättest du gern?“
Buncha sann einige Momente über diese Frage nach, aber es kam ihm nichts in den Sinn.
„Es ist in Ordnung, Buncha“, sagten die Engel. „Dies ist der Himmel. Das ist deine Belohnung für all die tugendhaften Jahre, in denen du immer zuerst an andere gedacht hast. Sag uns einfach, was du gern hättest.“
Diesmal hielt Buncha eine ganze Weile inne, grübelte über die Frage nach, aber es fiel ihm immer noch nichts ein.
„Na komm schon, Buncha“, sagten die Engel. „Dies ist bereits das Paradies. Das Land, wo Milch und Honig fließt. Alles, was ein Mensch wollen könnte, findet sich hier, man muß nur danach fragen. Es muß dir doch möglich sein, an etwas zu denken.“
Noch eine Weile länger saß Buncha stumm da. Schließlich sprach er. „Also gut“, sagte er. „Denkt ihr, es wäre euch möglich, mir jeden Morgen ein Brötchen und eine Tasse Kaffee zu bringen?“

(aus Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt, 2. Auflage 2007, S. 236 ff.)
siehe auch:
- Achtsamkeit in der Behandlung von persönlichkeitsgestörten und traumatisierten PatientInnen (Luise Reddemann, Lindauer Psychotherapiewochen, Archiv, 23.04.2010, PDF)

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