Am Zentrum in Cambridge gebe ich
meinen Schülern für ihre Achtsamkeitspraxis während des Alltags einen
Handzettel mit folgenden Erinnerungen:
1.
Wann immer möglich, machen Sie nur eine Sache auf einmal.
Der berühmte Ratschlag im Zen
lautet: „Wenn du sitzt, dann sitze. Wenn du gehst, dann gehe. Schwanke nicht
hin und her.“ Es ist immer sinnvoll, sich zu fragen: Was ist meine primäre
Aktivität in dieser Situation? Wenn Sie das Geschirr spülen, dann spülen Sie
nur. Wenn Sie Auto fahren, dann fahren Sie nur. (Dieser Aspekt des achtsamen
Lebens scheint heute besonders notwendig, da viele Fahrer vorbeirauschen,
während sie eine Zigarette rauchen, Kaffee trinken, Radio hören und sich über
das Autotelefon unterhalten. Und ein Aufkleber auf der Stoßstange sagt: „Ich
würde lieber Golf spielen.“ Manchmal fragt man sich, wer eigentlich am Steuer
sitzt.) Manchmal mag eine Handlung in einem größeren Kontext geschehen, jemand
spricht mit Ihnen, während Sie am Steuer sitzen, aber im allgemeinen ist
offensichtlich, welches die primäre Aktivität ist. Betrachten Sie den
gegenwärtigen Moment, sehen Sie, um welche Aktivität es sich handelt, und
konzentrieren Sie sich darauf.
Es mag sein, daß die Situation, in der Sie sich befinden,
chaotisch und verwirrend ist. Wenn das so ist, dann seien Sie bei der
Verwirrung. Betrachten Sie sie genau, auch wenn etwas Angst dabei entstehen
mag. Aber wenn Sie der Unsicherheit erlauben, dazusein, und der Versuchung
widerstehen können, zu handeln, nur weil Sie die Unsicherheit nicht ertragen
können, dann besteht eine größere Chance, daß Sie Klarheit gewinnen. Ihr
eigenes Chaos kann Sie zur Klarheit führen, wenn Sie der Erfahrung bewußt
begegnen können. Der Atem kann in einer solchen Situation hilfreich sein, indem
er als Bremse für die Tendenz des Geistes funktioniert, impulsiv zu handeln und
jede Art von Handeln der Angst vorzuziehen, welche die Unsicherheit begleitet.
Manchmal besteht Weisheit gerade darin, nicht zu handeln.
Die Leute fragen manchmal: „Wie kann ich je etwas zustande
bringen, wenn ich nur eine Tätigkeit auf einmal ausführe?“ In der Tat können
wir dann effektiver sein. Wenn wir nur eine Sache machen, herrscht eine bessere
Aufmerksamkeit und weniger Spannung, und dadurch gewinnen wir mehr Zeit als
dadurch, daß wir mehrere Dinge gleichzeitig tun.
Manchmal bekomme ich auch den Einwand zu hören, daß diese
Eine-Sache-auf-einmal-Regel das soziale Leben ruinieren würde. Ich will Sie
nicht etwa dazu anhalten, daß Sie bei einem Fest mit Freunden Ihr Essen nehmen,
sich damit in eine Ecke des Raumes verziehen und sich dort ausschließlich
darauf konzentrieren. Große Familienfeiern erfordern von uns, daß wir mit einer
panoramaartigen Aufmerksamkeit essen, trinken, sprechen und hören, wie eine
solche Situation es erfordert. Samâdhi in Aktion muß sowohl stetig als auch
geschmeidig sein. Einmal liegt die Aufmerksamkeit auf einer Person, dann auf
einem Bissen Essen, dann nimmt sie einen weites Spektrum auf, wie eine
Weitwinkellinse, das eine Anzahl von Menschen umfaßt – weniger präzise im
Detail, aber vollkommen wach für die Situation.
Der größte Teil unseres Lebens ist aber nicht sehr
kompliziert oder braucht es nicht zu sein, wenn wir nur eine Sache auf einmal
tun. Die Anforderungen einer Situation sind im allgemeinen offensichtlich und
klar. Kam Ihr Kind gerade ins Haus gerannt, um Ihnen etwas zu sagen? Hören Sie
zu!
2.
Schenken Sie dem, was Sie tun, Ihre volle Achtsamkeit.
Wenn nichts zwischen uns und der
Aufgabe steht, die sich vor uns befindet, dann schenken wir ihr unsere volle
Achtsamkeit. Wenn Sie vor einem Spülbecken voll schmutzigen Geschirrs stehen
und Ihr Geist ist von Widerwillen über diese Aufgabe erfüllt, voller Ungeduld,
wie lange es wohl dauern wird, den Abwasch zu erledigen, und Sie über den Film
nachdenken, den Sie an diesem Abend sehen werden, dann sind Sie getrennt von
dem, was Sie tun. Die Hände spülen, aber der Geist nicht. Auf diese Art
gespalten zu sein bedeutet, daß Sie weniger als vollkommen lebendig sind.
Uns der Aufgabe mit unserem ganzen Körper und Geist zu
widmen, ungeteilt und in intimem Kontakt mit unserer Handlung zu sein, das ist
es, was die chinesischen Meister „dem Leben Leben geben“ nannten. Das kann manchmal
ein „täterloses Tun“ sein, so tiefgründig wie die Erleuchtung selbst, der
erwachte Geist in Aktion. Die Fähigkeit, unser Leben in den Mittelpunkt zu
stellen, steht uns jederzeit zur Verfügung, sowohl in routinemäßigen wie in
dramatischen Situationen.
Schauen Sie das nächste Mal, wenn Sie eine einfache
Tätigkeit verrichten, ob zusätzliches Denken Ihr Handeln begleitet. Das heißt
natürlich nicht, daß Denken falsch ist, nur daß es in dieser Situation nicht
hilfreich sein mag. Wenn Sie sich in einer Situation befinden, die Denken
erfordert, dann denken Sie! Wenn Sie Ihre Steuererklärung ausfüllen, dann
füllen Sie sie aus. Addieren Sie Ihre Zahlen richtig.
3.
Wenn Ihr Geist von dem abschweift, was Sie tun, bringen Sie ihn zurück.
Manchmal wandert der Geist so
sehr, daß Sie Ihrer Aufgabe nicht länger gerecht werden. Zu anderen Zeiten ist
das Wandern subtiler. Durch die Übung werden Sie mit der Zeit viel empfindsamer
für das Denken und dafür, wie es Sie davon abhält, voll und ganz bei einer
Tätigkeit zu sein. Versuchen Sie nicht, mit Gewalt oder durch
Willensanstrengung bei der Handlung zu sein, sondern sehen Sie einfach die
Trennung, und dieses Sehen wird die Ganzheit der Handlung wiederherstellen. Das
Denken verbrennt in einer Flamme von Achtsamkeit, und Sie bleiben nur mit dem
zurück, was Sie gerade tun.
4.
Wiederholgen Sie den dritten Schritt unzählige Male.
Es ist wichtig, sanft und ohne
Urteil von Ihrer Ablenkung zurückzukehren. Die Übung besteht nicht nur darin,
daß Sie bei dem Objekt bleiben. Zu Übung gehört auch, daß Sie sehen, daß Sie
abgeschweift sind, und auf eine würdevolle Weise zurückkehren.
5.
Untersuchen Sie, was Sie ablenkt.
Wenn Ihr Geist immer wieder zu
etwas anderem wandert, mag es hilfreich sein, das, was auftaucht, zu
betrachten. Vielleicht versucht es Ihnen etwas über Ihr Leben zu sagen, etwas,
das Sie tun oder lassen müssen. Das Leben bahnt sich seinen Weg in unser
Bewußtsein, wenn wir nicht adäquat auf die Dinge eingehen. Wenn Sie sich der
Ablenkung zuwenden – vorausgesetzt, Ihre Situation erlaubt es Ihnen –, machen
Sie diese zum Objekt Ihrer Aufmerksamkeit. Schenken Sie ihr etwas Zeit, und
kehren Sie dann zu Ihrer primären Aufgabe zurück.
Die ganze Kunst, die Praxis ins tägliche Leben zu
integrieren, besteht darin, zu lernen, die Richtung der Achtsamkeit auf diese
Weise ständig zu ändern. Wenn Sie eine Sache machen, dann machen Sie sie voll
und ganz; aber seien Sie anpassungsfähig. Wenn ein Kind mit einem blutigen Knie
ins Haus gerannt kommt und schreit, dann tritt das als primäres Objekt an die
Stelle des Wischens des Küchenfußbodens. Schenken Sie dem Kind Ihre volle
Aufmerksamkeit.
Die Kunst des achtsamen Lebens erfordert starkes Interesse
und lebenslanges, sanftes und entschlossenes Bemühen. Immer wieder schläft man
ein, und immer wieder erinnert man sich daran, zu erwachen. Zu oft beginnen
Meditierende die Praxis mit einer grimmigen, freudlosen und ehrgeizigen
Haltung, aber auf diese Art zu üben bedeutet „Ketten und einen eisernen Ring zu
tragen“, wie der chinesische Meister Wu Men sagte. Man muß sich um die Kunst
des achtsamen Lebens bemühen, aber dieses Bemühen sollte man nicht mit
Vergleichen und Selbstverurteilung beladen. Tatsächlich macht Achtsamkeit Ihren
Geist leichter und freier.
Die Entwicklung dieser Art von Einfachheit schränkt Ihr
Leben nicht ein, wie manche Menschen befürchten. In der Tat macht sie Ihr Leben
voller. Wir haben über die Notwendigkeit gesprochen, auf dem Kissen eine
einfache Weise des Seins zu entdecken, aber dies ist im alltäglichen Leben
genauso notwendig. Wirkliche Befriedigung finden wir nicht dadurch, daß wir
unablässig nach immer neuen Zielen streben, sondern indem wir uns an den
kleinen Dingen erfreuen, die tatsächlich unser Leben ausmachen.
Meine Großmutter pflegte eine alte jüdische Geschichte zu
erzählen, die diese Art von Freude illustriert. Sie handelte von einem Mann
namens Buncha Zweig. Buncha war ein guter Mann gewesen, jedem gegenüber sehr
gütig und großzügig. Er hatte stets hart gearbeitet und sich um seine Familie
gekümmert, und so kam er in den Himmel, als er starb. Bei seiner Ankunft
begrüßten ihn die Engel und sagten: „Gratuliere, Buncha. Du hast ein
wundervolles, tugendhaftes Leben geführt. Jetzt bist du im Himmel und kannst
alles haben, was du möchtest. Was hättest du gern?“
Buncha sann einige Momente über diese Frage nach, aber es
kam ihm nichts in den Sinn.
„Es ist in Ordnung, Buncha“, sagten die Engel. „Dies ist
der Himmel. Das ist deine Belohnung für all die tugendhaften Jahre, in denen du
immer zuerst an andere gedacht hast. Sag uns einfach, was du gern hättest.“
Diesmal hielt Buncha eine ganze Weile inne, grübelte über
die Frage nach, aber es fiel ihm immer noch nichts ein.
„Na komm schon, Buncha“, sagten die Engel. „Dies ist
bereits das Paradies. Das Land, wo Milch und Honig fließt. Alles, was ein
Mensch wollen könnte, findet sich hier, man muß nur danach fragen. Es muß dir
doch möglich sein, an etwas zu denken.“
Noch eine Weile länger saß Buncha stumm da. Schließlich
sprach er. „Also gut“, sagte er. „Denkt ihr, es wäre euch möglich, mir jeden
Morgen ein Brötchen und eine Tasse Kaffee zu bringen?“
siehe auch:
- Achtsamkeit in der Behandlung von persönlichkeitsgestörten und traumatisierten PatientInnen (Luise Reddemann, Lindauer Psychotherapiewochen, Archiv, 23.04.2010, PDF)
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