Samstag, 13. Dezember 2014

Die Erkenntnisse der Psychoanalyse können auch der Politik nutzen

Warum flammen bei politischen und wirtschaftlichen Krisen immer wieder längst überwunden geglaubte Konflikte auf? Psychoanalytiker haben eine Antwort darauf - und Politiker täten gut daran, ihnen zuzuhören, meint die Therapeutin Astrid von Friesen. Denn nur so kann politisches Handeln weiser werden.

"Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen, Parteien, Völkern die Regel", schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche.

Wir schauen mit Entsetzen auf das Geschehen in der Ukraine und fragen uns verstört, warum Nachbarn, Mitglieder eines Staates und einer Religion sich plötzlich bekriegen, erschlagen und morden. Und warum die Nato und die EU, als sie ihre Fühler Richtung Osteuropa ausstreckten, nicht auf die Expertise von Historikern und Analytikern zurückgriffen, die ihnen die Muster eines sich anbahnenden Konfliktes hätten vorhersagen können.

Denn es geht, wie immer, um die Identität von Großgruppen, die in normalen Zeiten wenig wahrgenommen, in Krisenzeiten jedoch vehement verteidigt werden muss.

mehr:
- Krisen und Kriege – Warum Nachbarn aufeinander schießen (Astrid von Friesen, Deutschlandradio Kultur, 24.09.2014)
Zitat:
Bei wirtschaftlichen oder politischen Krisen tritt das "Ich" zurück, um sich unter dem "Zeltdach" des "Wir"-Gefühls zu versammeln. Das Individuum unterwirft sich, aus Angst alleine nicht zu überleben, und verändert sich ebenso wie die Gruppe, die immer stärker der Realitätsverzerrung anheimfällt.
Opfer und Aggressoren empfinden sich gleichermaßen als ausgeliefert, gedemütigt und hilflos. Sie greifen an, weil sie sich angegriffen fühlen. Eine neue Moral etabliert sich, wobei die Feinde zunehmend paranoid entmenschlicht, zu Tieren und zu Freiwild erklärt werden. Was Menschen als Einzelne nie getan hätten, tun sie nun als Mitglieder einer Gruppe: sie differenzieren nicht mehr, ihre Nächstenliebe nimmt rapide ab.
Warum also nutzen Politiker nicht die Expertise eines Analytikers wie Vamik Volkan? Er könnte ihnen historisch entstandene Mythen, Selbstbilder, Minderwertigkeitsgefühle und Traumata erklären. Auf dass politisches Handeln weiser und Friedrich Nietzsches Verdikt über den Irrsinn der Völker weniger zynisch wirken würde!

siehe auch:
Vamik D. Volkan: Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte (Post, 12.12.2014)
Melancholia and Ukrainian National Identity (Post, 11.12.2014)
Chosen trauma and the inabilty to mourn (Post, 09.12.2014)

siehe ferner:
- Flüchtlinge: Manchmal hilft ein Lied oder ein Rezept aus der Heimat (Daniel Jakubowski, ZON, 14.04.2017)
- „Atmen, wo jemand Feuer legt“ (Interview mit Vamik Volkan, Bettina Schötz, Waltraud Schwab, taz, 1.12.2015)
- Regierung muss Traumata bei Geflüchteten bedenken (Adelheid Wedel, Deutschlandfunk, 11.12.2015)
- Bevölkerungsverhalten und Möglichkeiten des Krisenmanagements und Katastrophenmanage­ ments in multikulturellen Gesellschaften (Elke M. Geenen, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2010, PDF)
- Identity and Group Conflict (Morton Deutsch, Catarina Kinnwall, What is Political Psychology in: Kristen Renwick Monroe (Ed.), Political Psychology, Lawrence Erlbaum Ass., London, 2008, S. 30ff., GoogleBooks)
- Die Machtlosigkeit der Psychoanalyse und das Versagen der Diplomatie (Paul Parin, in: Parin Paul & Goldy Parin-Matthèy: Subjekt im Widerspruch. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2000, PDF)

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