Sonntag, 30. November 2014

Hilft Wissen?

Für die meisten Menschen in der heutigen Welt hat das Leben viel mit Verbalisieren zu tun – mit Reden, Lesen, Schreiben, Denken, Sich-Vorstellen. Sprache ist eine großartige menschliche Erfindung (auch wenn andere Spezies gut ohne sie auszukommen scheinen), aber sie ist so in unser Bewußtsein eingebettet, daß uns nicht klar ist, wieviel sich um sie dreht. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, daß wir Sprache geradezu anbeten oder daß wir süchtig nach ihr sind. Wir setzen sie mit dem Leben selbst gleich.

Ein anderer Aspekt im Leben der meisten Menschen – der offensichtlich mit dem Sprechen in Zusammenhang steht – ist irgendeine Art von Handlung. Dinge tun. Etwas erschaffen. Dinge bewegen, sie anhäufen und ordnen. Den Körper in einer physischen Aktivität einsetzen, manchmal einfach nur, um unsere Körperlichkeit in der Freizeit zu genießen.
In diesen beiden Bereichen ist unsere westliche Kultur – im Vergleich zu anderen heutigen Kulturen, und insbesondere im Vergleich zu Kulturen der Vergangenheit – reich. Wir besitzen mehr Dinge und haben mehr Dinge zu tun, wir gebrauchen Gedanken und Sprache in vielfältigerer Weise, als es zu irgendeiner Zeit in der menschlichen Geschichte der Fall war. Wir sind mehr als reich. Wir leben in außerordentlicher Fülle.

Innerlich jedoch sind wir verarmt. Unsere Kehle ist ausgedörrt und unser spiritueller Körper abgemagert. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum wir so viele äußere Dinge haben. Wir verwenden sie, um einen Hunger zu stillen, der nie aufzuhören scheint. Er scheint unstillbar zu sein.

Wir haben ein ähnlich heftiges Verlangen nach Beziehung. Ich kenne zum Beispiel jemanden, der sich sehr für das Bergsteigen interessiert und der mir vor kurzem die Wunder des Internets gepriesen hat. Am Abend zuvor hatte er mit einem Bergsteiger in Sibirien gechattet. Das ist wunderbar, sagte ich. Aber hast du in letzter Zeit auch mit deiner Frau gesprochen? Und mit deinen Kindern? Wir haben diese wunderbare Technologie, aber sie scheint uns nicht bei dem Leben direkt vor unserer Nase zu helfen. Ich habe keinen Zweifel daran, daß mein Freund die Polizei gerufen hätte, wenn der sibirische Bergsteiger in seinem Vorgarten aufgetaucht wäre. Er wollte ihn auf dem Bildschirm kennenlernen, nicht von Angesicht zu Angesicht.

Ich will damit die Technologie nicht herabwürdigen. Der Computer ist genau wie die Sprache eine wunderbare menschliche Erfindung. Ich schreibe dieses Kapitel auf einem Computer. Ich bezweifle überhaupt nicht, daß das Internet ein wunderbares Hilfsmittel ist; es ist so, als hätte man die größte Bibliothek der Welt zur Hand. Aber wenn sich anhäufende Informationen uns retten könnten, dann hätten wir das schon vor langer Zeit geschafft.
Die Nachteile einer solchen Art von Wissen wurden mir vor mehr als zwanzig Jahren deutlich, als ich in Korea war und mich unter einem Mönch namens Byok Jo Sunim schulte, der einer der denkwürdigsten Menschen war, denen ich je begegnet bin. Er glühte geradezu innerlich und strahlte die Freude aus, die die Übung ihm brachte. Er war außerordentlich liebevoll und besaß einen wunderbaren Sinn für Humor – und er war ein totaler Analphabet. Er konnte nicht einmal seinen Namen schreiben.

Während ich mich eines Tages mittels eines Dolmetschers mit ihm unterhielt, stellte ich fest, daß er glaubte, die Welt sei eine flache Scheibe. Ich war perplex und beschloß natürlich, ihn aufzuklären. Ich ging zu meinen Schulkenntnissen in den Naturwissenschaften zurück und brachte all die klassischen Argumente vor: Wenn die Welt flach ist, wie können wir sie dann umsegeln? Wie kommt es, daß ein Schiff nicht über den Rand fällt? Er lachte einfach nur. Er war unerbittlich. Ich kam bei ihm einfach nicht an.

Schließlich sagte er: „Okay. Vielleicht habt ihr Westler recht. Ich bin nur ein alter Mann, der nicht lesen und nicht schreiben kann. Die Welt ist rund, und du weißt das, und ich bin zu dumm, um es zu kapieren. Aber hat dieses Wissen euch irgendwie glücklicher gemacht? Hat es euch geholfen, eure Lebensprobleme zu lösen?“

Tatsächlich hat es das nicht. Es hat uns bei unseren Problemen überhaupt nicht geholfen. Kein Wissen hat uns dabei geholfen.

Bei allem, was wir gelernt haben, haben wir Menschen nicht einmal das Problem des Zusammenlebens gelöst. Wir haben unglaubliche Technologien, die uns in Kontakt mit Menschen auf der anderen Seite der Erde bringen können, aber wir wissen nicht, wie wir mit den Menschen in unserer Nachbarschaft, ja nicht einmal mit denen in unserem eigenen Haus auskommen sollen.

Ein Teil unserer Kultur steigt rasant schnell in den Himmel auf, und ein anderer Teil hat kaum das Kriechen gelernt. Wir sind in einer Illusion gefangen, einem wunderbaren Zaubertrick, der uns vorgaukelt, daß die Dinge, die wir produzieren, uns glücklich machen werden. Wir sind nicht nur selbst das Publikum für diesen Trick, sondern wir sind auch die Zauberer. Wir haben uns selbst etwas vorgemacht.


Wir müssen viel tiefer in unseren Geist hineingehen. Es ist, als wären wir von weiten Feldern und fruchtbarem Boden umgeben, soweit das Auge reicht, hätten aber nur ein winziges Stück davon bebaut. Wir haben auf diesem winzigen Fleckchen Wunderbares geleistet, aber wir müssen noch sämtliche Felder darum herum erforschen. Wir müssen von all dem Bauen und Tun, dem Kommen und Gehen, von dem Reden und Denken und Lesen und Schreiben wegkommen.

(aus Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt, 2. Auflage 2007, S. 256 ff.)


Freitag, 28. November 2014

Die Puppe Bella


Bella wurde das erstemal mit viereinhalb Monaten zu mir zur Behandlung gebracht. Ins Säuglingsheim war sie im Alter von fünfzehn Tagen gekommen. Die drei Erwachsenen, die sie begleiteten (Erzieherin, Stationsschwester und Säuglingsschwester) haben mir in ihrer Anwesenheit die folgenden Einzelheiten berichtet:

Bella wurde in der 41. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von 3450 Gramm geboren. Sie blieb sechs Tage auf der Entbindungsstation, am siebten Tag begann sie, so stark zu erbrechen, daß sie für eine Woche auf die Neugeborenen-Abteilung verlegt werden mußte. In ihrer Patientenakte wird erwähnt, sie hätte vor dem Verlassen der Entbindungsstation ihr erstes Lächeln gezeigt, und auch, daß sich im Krankenhaus eine Krankenschwester ganz allein sehr intensiv um sie gekümmert und ihr ein Plüschtier geschenkt habe.

Mit fünfzehn Tagen wurde Bella ins Säuglingsheim gebracht, weil die Mutter anonym entbunden hatte, da die Schwangerschaft von ihr nicht gewünscht war. Weiterhin ist von der Mutter bekannt, daß sie drogenabhängig und seit vier Jahren mit dem Aidsvirus infiziert ist. Auch Bella ist HIV-positiv' und das Erbrechen mit Gefahr der Austrocknung (Dehydration) am siebten Tag wurde als ein Entzugssyndrom interpretiert und auch so behandelt. Die Mutter hat ihr Kind nach der Geburt zwar sehen wollen, aber sehr schnell darum gebeten, daß man es wieder wegbringe. Man weiß nicht, ob sie mit ihm gesprochen hat; der Vorname ist von der Hebamme ausgewählt worden, die ihrer Schönheit wegen fand, daß »Bella« gut zu ihr paßte. Vom Vater kennt man nur die Nationalität und weiß, daß er nicht mit der Mutter verheiratet ist, die allein lebt.

Bella wurde somit als Mündel des Staates anerkannt. Der gesetzlich vorgeschriebene Zeitraum von drei Monaten, während dem die Eltern die Möglichkeit haben, das Kind anzuerkennen, war verstrichen. Bella war demnach eigentlich zur Adoption frei. Die HIV-Tests fielen sehr bald negativ aus, wurden aber regelmäßig wiederholt. Der Familienrat hatte dennoch beschlossen, noch einige Monate abzuwarten, bis man sie zur Adoption freigab.

Der Grund für eine therapeutische Konsultation war folgender: In den viereinhalb Monaten ihres Lebens hatte Bella bereits dreimal mit dem Notarzt in ein Krankenhaus gebracht werden müssen. Das Personal des Säuglingsheims war daher der Ansicht, daß eine psychoanalytische Behandlung für sie von großem Nutzen wäre.

Mit fünf Wochen mußte Bella wegen des Bruchs eines Eierstocks (dem verstecktesten Zeichen ihrer zukünftigen Weiblichkeit) einer Notoperation unterzogen werden, und der Chirurg war gezwungen, diesen zu entfernen. Einen Tag nach dem Eingriff wurde sie ins Säuglingsheim zurückgebracht, und die Säuglingsschwestern fanden sie weit ruhiger, wie »erleichtert« (liegt das nur daran, daß sie nicht mehr litt?).

Mit zwei Monaten mußte sie wieder ins Krankenhaus gebracht werden, dieses Mal für die Dauer von vierzehn Tagen wegen einer asthmatischen Bronchitis mit Ateminsuffizienz und Diarrhöe. Dabei ist aufgefallen, daß das Datum und die Dauer der Krankenhausaufenthalte exakt mit den freien Tagen der ihr zugewiesenen »Ersatzmutter« übereinstimmen. Da diese schon bald wieder für einige Tage weg mußte, machte sie sich Sorgen darüber, daß ihre Abwesenheit negative Folgen für Bellas Gesundheit haben könnte. Die medizinische Behandlung war ziemlich aufwendig: Atemtherapie, Medikamente, Antirefluxbehandlung (die eine ständige Betreuung erforderte, um sie Tag und Nacht in einer beinahe aufrechten Lage zu halten).

Während man mir von ihr erzählt, hält sich Bella gut auf dem Schoß ihrer »Ersatzmutter«, schaut mich an, betrachtet alle anwesenden Personen, lächelt ihnen zu, brabbelt viel und lange. Kurz, sie entwickelt ihren ganzen Charme, und alle finden sie bezaubernd und versuchen, sie noch mehr zum Lächeln zu bringen. Umso überraschter bin ich daher über meine eigene Reaktion: denn zunächst einmal finde ich sie nicht besonders anziehend, und dann empfinde ich … ganz einfach nichts: Weder die anonyme Geburt noch die Tatsache, daß sie HIV-positiv ist, noch die Entzugserscheinungen, noch der dramatische Bericht ihrer Krankenhausaufenthalte rufen in mir das geringste Gefühl hervor. Da ich bereits Olivier, Zoé, Fleur und viele andere Kinder in Behandlung hatte, ist mir meine unterschiedliche Reaktion sehr genau bewußt. Aber als ich mich direkt an Bella wende, schiebe ich diesen Mangel an Gefühl beiseite und mobilisiere meine Erfahrung, um ihr das zu sagen, was ich in einer derartigen Situation zu sagen wichtig finde: daß sie ihre leibliche Mutter, die sie lebendig auf die Welt gebracht und für sie gewünscht hat, sie solle in einer anderen Familie aufgezogen werden, niemals wiedersehen wird; daß ihr erster Krankenhausaufenthalt in Zusammenhang stand mit den Drogen, die ihre Mutter (und damit auch sie) während der Schwangerschaft genommen hat; und daß es vielleicht leichter sei, den Drogenentzug zu kurieren als den Entzug der Mutter; daß ich sie gerne wiedersehen würde, um mit ihr gemeinsam zu verstehen zu suchen, warum sie so große Mühe hat, ihren Körper anzunehmen, während sie selbst doch auf Eltern wartet, die sie annehmen. Während der eigentlich ziemlich kurzen Zeit, in der ich zu ihr spreche, läßt Bella sich zurücksinken, wendet ihren Blick von mir ab und fixiert mit leeren Augen ihre Säuglingsschwester, bis ich zu reden aufhöre. Sobald ich verstumme, setzt sie sich wieder auf und zeigt ihr charmantes Lächeln. Das nächste Treffen wird vereinbart. Ich fühle mich schrecklich unwohl und habe den Eindruck, daß ich mit einer Art vorgefertigtem Wissen zu ihr gesprochen habe und nicht fähig war, etwas (was auch immer) Neues von diesem kleinen Mädchen verstanden zu haben. Ja, ich frage mich sogar, ob ich nicht besser den Beruf wechseln sollte.

Am Tag des vereinbarten Treffens ruft mich die Stationsvorsteherin des Säuglingsheims an, um mir mitzuteilen, daß Bella einige Tage nach der ersten Sitzung eine sehr schwerwiegende Bronchitis bekommen habe und deswegen ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Ihr Zustand habe sich innerhalb von drei Tagen so sehr verschlechtert, daß sie mit dem Notarzt in die Intensivstation eines anderen Krankenhauses habe verlegt werden müssen. Dort werde sie künstlich beatmet. Da die Stationsleiterin sie noch am selben Tag besuchen will, fragt sie mich, was sie ihr sagen soll. Trotz der ängstlichen Erwartung der Schwester greife ich auch dieses Mal auf meine vergangenen Erfahrungen zurück und weigere mich, mir über meine fehlenden Gefühle Rechenschaft abzulegen. Das bringt mich für den Augenblick völlig aus der Fassung.

Am Ende meines langen Behandlungstages, an dem mit den Säuglingen, die zu mir gebracht wurden, alles ohne Zwischenfälle abgelaufen war – und nachdem ich mit Kollegen über meine Verwirrung gesprochen habe –, sage ich mir, daß es vielleicht doch besser sei, den Versuch zu machen zu verstehen, was sich bei diesem Kind abspielt, als – sofort und auf der Stelle – den Beruf zu wechseln. Ich nehme mir also die Patientenakte vor und versuche, mich daran zu erinnern, was ich in der besagten Behandlungsstunde gedacht habe. Im Verhalten des Personals des Säuglingsheims gab es nichts besonderes: Sie waren präsent, sehr beunruhigt und redeten offen mit mir. Bellas Geschichte rührte, soweit ich wußte, an keine schwierige Stelle meiner persönlichen Geschichte. Ich hatte notiert: Bella ist sehr »kommunikativ«; dieser Terminus, den ich sonst nicht gebrauche, war mir von der Stationsschwester suggeriert worden. Als ich mich bemühe, mir die Situation zu vergegenwärtigen, erinnere ich mich, daß mir Bella um einiges älter vorkam, als sie in Wirklichkeit war, denn sie saß während des ganzen Gesprächs ohne Stütze, und vor allem brabbelte, lächelte und spielte sie während der ganzen Stunde ohne jede Unterbrechung. Das Bild einer Puppe drängte sich mir auf, das Bild einer Puppe ohne Authentizität. Ich verstand sogleich mein mangelndes Interesse, denn leblose Puppen interessieren mich schon seit langem nicht mehr. Ich hatte zwar den kurzen Augenblick des Zurücksinkens wahrgenommen, als ich zu ihr sprach, aber ich habe dies nicht angesprochen, genausowenig wie ich es gewagt habe, mir meine Distanz zu ihr bewußt zu machen oder diese gar zu äußern. Ich habe mich im Gegenteil gezwungen, so zu reagieren, wie ich es sonst auch getan habe, war aber zugleich davon überzeugt, daß mein Mangel an gefühlsmäßiger Reaktion mich in meinen Fähigkeiten vollständig in Frage stellte. Keinen Augenblick wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß es sich um einen Gegenübertragungseffekt[i] handeln könnte.

Als ich mir diese eher mißratene Behandlungsstunde noch einmal ins Gedächtnis zurückhole, empfinde ich zum erstenmal Mitgefühl für dieses kleine Mädchen: Körperlich von ihrer Mutter seit ihrer Geburt getrennt, hat sie mit ihrer Schönheit eine Hebamme beeindruckt, so daß sich der Symbolisierungsprozeß, der durch die Benennung eingeleitet wird, wahrscheinlich um ihren Vornamen kristallisiert hat. Da ein nur allzu fragiles Band sie mit ihrer allzu ephemeren Lebensquelle verband, hat sie sich vielleicht verpflichtet gefühlt, ihren Vornamen mit ihrem Körper auszudrücken, so daß sie zu einer Art Roboter wurde.

Bella hatte sich bereits als Säugling dem, was sie an verführerischen Erwartungen in ihrer Umgebung wahrnahm, angepaßt und hatte sich zu leben gezwungen, aber in einer falschen Art: Wie ich später erfahren sollte, lächelte sie so strahlend, daß alle Erwachsenen, selbst wenn sie sie von Ferne sahen, ein Vergnügen darin fanden, zu ihr zu kommen, um sie noch mehr zum Lächeln zu bringen. Sie begeisterten sich an ihrer offensichtlichen Lebensfreude, die im Einklang mit ihrer Schönheit stand, und das war sicher dazu angetan, sie noch in ihrer Verhaltensweise zu bestätigen. Ihren inneren Widerstand oder ihr allzu großes Leid konnte sie nur äußern, indem sie ganz unvermittelt sehr krank wurde. Dies war der einzige Zustand, in dem sie es sich erlaubte, »wahr« zu sein, das heißt, ihren Körperfunktionen freien Lauf zu lassen. Allerdings konnte sie auch dabei sicher sein, dieses Mal durch die Pflege, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Man hatte mir von Bella als einem entweder »sehr kommunikativen« oder »sehr kranken« Kind gesprochen, aber dazwischen gab es … nichts.


Ich erwartete den Telephonanruf der Stationsschwester mit großer Ungeduld; als ich mit ihr über Bella sprach, ist sie endlich für mich lebendig geworden, was sich im Ton und im Sprechtempo meiner Überlegungen äußerte, die ich der Schwester mitteilte. Es war mir plötzlich ein dringliches Bedürfnis, daß diese nochmals nach ihr schaute, und ich war bewegt, als ich erfuhr, daß Bella ihre Hand fest gedrückt hat, als sie mit ihr am selben Tag über mich gesprochen hatte.

Vor diesem zweiten Besuch hatte Bella das Beatmungsgerät abgenommen werden können. Man berichtete mir, daß sie die Stationsschwester mit einem breiten Lächeln »bis hinter beide Ohren« begrüßt habe. Diese ließ sie wissen, daß sie nicht unbedingt lächeln müsse, damit man sich mit ihr beschäftige, und Bella hat daraufhin aufgehört zu lächeln. Dann hat sie noch hinzugefügt, daß sie sich nicht unbedingt schwer krank machen müsse, um ihren Kummer auszudrücken: man könne sie verstehen und mit ihr zusammen sein, auch wenn sie traurig sei. Bella hat angefangen zu weinen, was sie sonst niemals tat, und eineinhalb Stunden lang geweint. Die Stationsschwester hat nicht versucht, sie zu trösten, ist aber bei ihr geblieben und hat weiter mit großer Einfühlsamkeit zu ihr gesprochen.

Die folgende Entwicklung, die weder glatt noch wunderbar verlief, sei etwas kürzer dargestellt. In den nächsten Monaten hat Bella eine für sie sehr heilsame, harmlose Krankheit bekommen, die Windpocken, die ihr Gesicht für einige Zeit so entstellten, daß niemand mehr Gefallen daran fand, zu ihr zu kommen, um sie zu betören. Die Ferien ihrer »Ersatzmutter« sind gut vorbereitet worden; während ihrer Abwesenheit war Bella zu einigen ergänzenden Untersuchungen im Krankenhaus. Bei ihrer Rückkehr hat sie eine Otitis (Ohrenentzündung) und eine leichte Lungenentzündung bekommen, die aus medizinischer Sicht nicht bedenklich waren, so daß sie im Säuglingsheim behandelt werden konnte. Diese Krankheiten sind von Bedeutung, denn bis zu diesem Zeitpunkt brachte Bella ihre wahre Persönlichkeit zum Ausdruck, indem sie sich nahe der Selbstvernichtung (Aphanisis) bewegte, und ich besaß keinen Hinweis darüber, ob für sie »wahr« sein nicht gar tot sein bedeutete.

Nach äußerst komplizierten Untersuchungen gelangten die Ärzte zu der Schlußfolgerung, daß bei ihr Teilchen der Nahrung einen falschen Weg nehmen (statt durch die Speiseröhre gehen sie durch die Luftröhre), was medizinisch nicht nachweisbar ist, aber eine permanente Infektionsquelle für ihre Lunge sein kann. Sie haben ihr unter anderem eine schnelle Umstellung von Flaschennahrung auf festere Nahrung verordnet. Dieser Verordnung fügte sich Bella, wie zu erwarten war, ohne Probleme.

Koinzidenz? Auch für die Ärzte hatte Bella etwas Falsches: sie machte den Eindruck, ihre Fläschchen sehr gut zu trinken, verschluckte sich niemals, aber die Nahrung nahm einen falschen Weg, genauso wie sie selbst einen falschen Weg nahm, indem sie pausenlos lächelte.

Als ich Bella in der darauffolgenden Zeit im Wartezimmer abhole, erwartet sie mich mit gerunzelter Stirn und ohne das geringste Anzeichen eines Lächelns! Zunächst weint sie mehrere Sitzungen hindurch, mit ziemlich feinen Unterschieden, die ich in Worte zu fassen versuche. In Zusammenhang mit ihren körperlichen Reaktionen (einem Fieberschub genau vor der Sitzung zum Beispiel), mit ihren Atembeschwerden (pfeifende oder andere Geräusche beim Atmen) sowie mit der ärztlichen Diagnose kann ich das Problem des falschen Weges ansprechen und entsprechend auch die »echten« Ursprünge des Bruches aufgreifen.

Mit zehn Monaten geht es Bella ausgesprochen gut: Sie wird (endlich!) wütend, wenn sie mit etwas nicht zufrieden ist, und hat absolut keine Angst mehr, ihren Säuglingsschwestern zu mißfallen. Sie weigert sich nun, etwas zu essen, was sie nicht mag, während man ihr früher egal was hätte geben können. Sie verteidigt ihr Spielzeug, da ihr jetzt etwas gehören darf. Auch kann sie nun liegend in ihrem Bett schlafen, da die Antirefluxbehandlung nicht mehr notwendig ist.

Dank dieser Entwicklung und der Beharrlichkeit der Sachbearbeiterin hat der Familienrat ihre Patientenakte früher als vorgesehen nochmals geprüft: So konnte Bella ihren ersten Geburtstag in ihrer Adoptivfamilie feiern.


Ich habe mich lange gefragt, warum es mich so sehr fasziniert, Säuglinge psychoanalytisch zu behandeln, während ich im alltäglichen Leben keine bestimmte Altersklasse bei Kindern bevorzuge, schon gar nicht Säuglinge, und ich zudem keine besondere Begabung habe, mich in ihre Empfindungen einzufühlen und sie zu verstehen. Erst kürzlich hat mich ein Freund, ein Choreograph, ganz zufällig im Laufe eines Gespräches auf den Schlüssel für mein Interesse gestoßen. Er liegt natürlich in meiner eigenen Kindheit. Wenn ich von Choreographie spreche, deute ich damit bereits an, daß für mich eine Beziehung zwischen einer bestimmten Ausdrucksform des Körpers und der Psychoanalyse besteht. Als kleines Mädchen hatte ich den weitverbreiteten Traum, Tänzerin zu werden, bevor ich meine Meinung dazu wegen einer sehr ernüchternden Bemerkung meiner Eltern änderte: »Wenn du Künstlerin werden willst, mußt du die beste sein!« Da ich auch noch andere Träume hatte, machte es mir keine allzu großen Probleme, das Tanzen als Berufswunsch aufzugeben. Aber ich habe dennoch weiterhin Tanzstunden genommen; ich empfinde dabei ein von jeglichem Ehrgeiz freies Vergnügen, das auf bewußter Ebene keinerlei Verbindung mit meiner psychoanalytischen Tätigkeit hat. Das Vergnügen ist sehr abhängig von der Qualität des Lehrers, denn was mir gefällt, ist weder die Choreographie noch das körperliche Training, noch die »Anmut«, sondern die Möglichkeit, sich eine Körperbewegung oder einen Bewegungsablauf soweit bewußt zu machen, bis diese in sich stimmig sind, – dabei aber einzig und allein von den Worten und nur den Worten des Lehrers geleitet zu werden. Wenn diese »stimmig« sind, ist ihre Wirkung auf den Körper unmittelbar, dauerhaft und vollständig anders als Korrekturen von der Art »halt dich gerade«, die nur eine sehr begrenzte Wirkung zeigen. Bei diesen nämlich handelt es sich nur darum, gerade zu erscheinen, nicht aber, sich gerade zu fühlen.

In dieser Hinsicht ist die Kinderanalyse den Tanzstunden weit überlegen! Besteht sie doch darin, sich seines eigenen Körpers zu bedienen, um die Wirkungen, die Worte und Geschehnisse auf den Körper des Kindes gehabt haben, nachzuempfinden, und diese Empfindungen dann in Worte zu fassen, damit diese Worte ihrerseits auf den Körper des Kindes einwirken können. In diesem Sinne ist es nicht der Körper, der spricht: Der Körper ist der Ort der Sprache.

Das Gespräch, das kurz vor meiner Begegnung mit Bella stattgefunden hat, mag vielleicht erhellen, warum die erste Konsultation für mich eine so große Bedeutung angenommen hatte: Solange mir nicht klargeworden war, daß die Abwesenheit jeglichen Körpergefühls, das sich von dem kleinen Mädchen auf mich übertrug, Ausdruck einer Gegenübertragung war, konnte mir keine Theorie dabei helfen, was auch immer zu verstehen.

Doch warum habe ich mit anderen Säuglingen, wenn ich etwas empfand, so leicht Selbstvertrauen gewinnen können, mich aber total in Frage gestellt gefühlt, als ich nichts empfand? Eben wegen des Tanzes! Zwar ist es mir endlich gelungen, mich meines Körpers so zu bedienen, wie ich es beabsichtigte, und dadurch scheinbar zu vermeiden, mich mit der elterlichen Bemerkung, »die beste sein« zu müssen, zu konfrontieren; dennoch blieb eine Unsicherheit: Wenn mir etwas nicht glückte (hier: mit meinem Körper zu verstehen), so konnte das nur an mir liegen, war nur mein Fehler.

Beim ersten Gespräch mit Bella sind mir auch kurz eine Theorie und eine Erinnerung durch den Kopf gegangen: die Theorie von Winnicott, die sich auf die Ausbildung einer falschen Persönlichkeit, eines falschen »Selbst«, bezieht, das dazu dient, den authentischen Kern, das »Selbst« einer Person zu verbergen und zu schützen. Und der Anfangssatz der von Françoise Dolto dargestellten Psychoanalyse mit Dominique. Dieser Junge hatte ihr von vornherein folgendes gesagt: »Nämlich, ich bin nicht wie die anderen, manchmal beim Aufwachen denke ich, daß mir eine wahre Geschichte passiert ist.« Worauf Françoise Dolto sogleich geantwortet hat: »Die dich nicht wahr gemacht hat.«[ii] Aber erst nachdem ich meine eigenen Wahrnehmungen für mich analysiert hatte, ist es mir gelungen, »den Körper mit dem Wort zu verbinden« (um einen sehr glücklichen Ausdruck meines Freundes, des Psychoanalytikers Lucien Kokh zu gebrauchen), ein weiterer Beweis dafür, daß kein Analytiker weiter gehen kann, als seine inneren Widerstände es ihm erlauben.


Nicht alle Kinder eines Säuglingsheims werden psychoanalytisch behandelt: Das ist nicht möglich und auch nicht wünschenswert. Aber wenn die Allgemeinheit, aus welchen Gründen auch immer, für ein Kind die Verantwortung übernimmt, muß die Institution, die diese repräsentiert, die notwendigen Mindestbedingungen gewährleisten, damit aus dem Kind ein Mann oder eine Frau werden kann, deren Würde respektiert wird. Im Säuglingsheim von Antony, in dem seit langem die institutionelle Verantwortlichkeit Thema allgemeiner Überlegungen ist, werden zwei Grundideen vertreten: Die erste ist, daß die Unterbringung an sich nicht pathogen ist, sondern vielmehr »heilsam, wenn das Kind versteht, daß die Gesellschaft ihm gegenüber Pflichten hat und daß es selbst der Gesellschaft gegenüber die Pflicht hat, sich gegen etwas zu schützen, was es physisch oder psychisch vorzeitig sterben lassen würde«[iii].

Die zweite ist, daß das Kind, welchen Alters auch immer, Anspruch auf eine analytische Behandlung hat, wenn es leidet: Es darf aber nicht allein als Symptomträger der familiären Pathologie betrachtet werden, denn es ist selbst Subjekt. Es hat nicht nur das »Recht auf freie Meinungsäußerung«: Seine Äußerungen müssen auch gehört und in dem Sinne »behandelt« werden, wie man eine Information behandelt. Wenn es nicht oder noch nicht spricht, drückt sein Körper die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen aus. Der Körper ist nicht allein ein Ort, an dem sich eine physische Krankheit oder ein medizinisches Symptom äußern, an ihm zeigt sich vor allem das Leiden seiner Person.

Die Symptome, die zu einer therapeutischen Konsultation führen, betreffen körperliche Störungen (wie z. B. Atembeschwerden, Infektanfälligkeit, Verdauungsstörungen, Hautkrankheiten, motorische Rückstände) in gleichem Maße wie Verhaltensauffälligkeiten (z. B. mangelnde Vitalität, Beziehungsstö­rung, autistischer Rückzug, Aggressivität, Mutismus). Das zeugt von einer Haltung zwischen biologischem und psychoanalytischem Denken, die man nicht sehr häufig findet. Angesichts der Schwere der Erkrankungen kann man sich nicht damit begnügen zu sagen, daß die Hauptursache für die Krankheiten dieser Kinder darin besteht, daß sie nicht geliebt werden, oder daß die Liebe alles ins Lot bringen wird. Das Leiden dieser Kinder ist so groß, daß sie daran sterben können, oder zumindest, daß es jede Symbolisierung verhindert, trotz der Pflege, die man ihnen angedeihen läßt. Denn es entsteht vor allem aus der Unkenntnis der eigenen Ursprünge.







[i]   Gegenübertragung: »Gesamtheit der unbewussten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und in besonderer Weise auf dessen Übertragung.« Laplanche, J., und Pontalis, J.-B., Vocabulaire de la psychoanalyse, deutsche Ausgabe: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1989, S. 164.
[ii]   Dolto, F., Der Fall Dominique, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1973, S. 33.
[iii]   Dolto, F., Dialogues québécois, op. cit, S. 140.

aus Caroline Eliacheff, Das Kind, das eine Katze sein wollte – Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern


- Dich gibt es, du mußt lernen, daß du existierst Barbara Supp über die Baby-Analytikerin Caroline Eliacheff (Barbara Supp, SPIEGEL, 28.03.1994)
Am Anfang bestand die Welt aus Hunger, Schlafen, Warten und Schmerz. Da waren ein Gesicht und zwei Arme, die manchmal das Ende des Hungers bedeuteten, Sättigung und manchmal Angst und Qual. Dieselbe Quelle ließ ihn überleben und bedrohte sein Leben, von ihr kam alle Hoffnung und aller Schmerz.

- Caroline Eliacheff, Nathalie Heinich – Mütter und Töchter – Ein Dreicksverhältnis (Perlentaucher, Rezensionen)
Klappentext: Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Männer werden es vielleicht nicht wissen: Nicht über sie reden Frauen vor allem, wenn sie unter sich sind, sondern über die eigene Mutter. Auch wenn nicht alle Frauen selbst Mütter sind und auch nicht alle Mütter Töchter haben, so hat doch jede Frau eine Mutter. Und mit dieser müssen sich alle Frauen fast schon schicksalhaft auseinander setzen - ob sie es wollen oder nicht. Die vielen Spielarten und Facetten der Mutter-Tochter-Beziehung beleuchten die Autorinnen anhand von Schlüsselszenen berühmter Filme und literarischer Werke. Auf eindringliche Weise dokumentieren gerade Kunstwerke wie "Madame Bovary", "Effi Briest", "Herbstsonate", "Das Piano" oder "Die Klavierspielerin", in welcher Form von Generation zu Generation Rollen weitergegeben und weibliche Identitäten und Modelle der Selbstverwirklichung herausgebildet werden. Eindrucksvoll führen sie vor, wie die Rolle des Dritten - des Vaters oder anderer enger Bezugspersonen - maßgeblich darüber entscheidet, ob Ablösung gelingt und eine positive Tochteridentität entstehen kann.

La cause des Bébés


Donnerstag, 27. November 2014

Depression: Robin Williams – ein Feigling?

Ein US-Moderator bezeichnete Schauspieler Robin Williams nach seinem Tod als Feigling. Das erzürnt Menschen, die selbst von Depressionen betroffenen sind. Eine von ihnen spricht über ihren Leidensweg.

Schauspieler Robin Williams litt an Depressionen, nun nahm er sich das Leben. Bereits kurz nach dem Bekanntwerden seines Todes kursierten im Internet Verunglimpfungen des US-Stars, ein Moderator von Fox News nannte den Verstorbenen in einer TV-Sendung gar einen "Feigling". Anke Schulz* hat selbst unter einer Depression gelitten und wurde wütend: Bei Twitter veröffentlichte sie einen schonungslosen Text über den Kampf mit ihrer Depression. Im Interview spricht sie über die größten Missverständnisse und ihre Rettung.
mehr:
- "Schäm dich nicht, und hol dir Hilfe" (Jonas Hermann, Die Welt, 13.08.2014)


Mittwoch, 26. November 2014

Den Atem im täglichen Leben nutzen

Thich Nhat Hanh ist derjenige Meister im Westen, der am meisten darüber gelehrt hat, wie man den Atem im täglichen Leben nutzen kann. Seine Bücher sind voll von praktischen Hinweisen. Buddhadasa sprach weniger vom täglichen Leben. Um sie nicht zu überfordern, empfehle ich meinen neuen Schülern, die Achtsamkeit zunächst nur in einer routinemäßigen Tätigkeit pro Tag zu entwickeln. Das kann alles sein: Duschen, Rasieren, Frühstück-Zubereiten, Frühstücken (jede Mahlzeit, die Sie stets allein essen, ist gut zum Üben geeignet). Wenn Sie sich dieser Tätigkeit hingeben und damit gute Erfahrungen machen, ermutigt Sie das dazu, auch anderen Situationen mit Achtsamkeit zu begegnen.
Die Methode dient nicht dazu, eine Art von Hyper-Aufmerksamkeit zu entwickeln. Sie soll sicherlich nicht Ihren Streß erhöhen, was immer Sie auch tun. Vielmehr sollte die Achtsamkeit, so wie es in der Sitzpraxis der Fall ist, zusätzliche Anstrengung eliminieren und die Aktivität leichter machen. Der Grundgedanke besteht darin, eine sanfte Aufmerksamkeit in das hineinzutragen, was Sie gerade tun, damit Sie dieses tun und nichts anderes.
Einer der besten Wege, Achtsamkeit zu üben, besteht darin, alle Arten zu sehen, wie Sie nicht achtsam sind – zu sehen, daß Sie nicht achtsam sind, während Sie das Bett machen, Ihren Tag planen, über etwas nachdenken, das gestern geschehen ist, oder sich in eine Phantasie verlieren. Genauso, wie Sie es tun, wenn Sie sitzen, sehen Sie einfach nur, daß Sie abgeschweift sind, und ohne daß Sie sich in irgendeiner Weise verurteilen, kommen Sie zurück zu der Tätigkeit des Bettenmachens, mit dem Atem im Hintergrund, wenn Ihnen das hilft. Tun Sie das so oft, wie Sie es tun müssen, ohne sich Sorgen darüber machen, wie gut Sie sind. Wenn Sie ihrer Unaufmerksamkeit auf diese Weise gewahr werden, wird das langsam eine Veränderung bewirken.
Manche Schüler mißverstehen die Anweisung, den Atem den ganzen Tag lang zu nutzen. Sie geben ihm ein unangemessenes Maß an Aufmerksamkeit, was so weit führen kann, daß sie weniger aufmerksam für die Welt um sie herum sind. Sie unterhalten sich mit einem Freund, und die Person fragt sie, ob sie überhaupt zuhören. „Na ja, nicht ganz“, erwidern sie. „Eigentlich habe ich auf meinen Atem geachtet.“ Das ist nicht der Sinn der Sache. Der Atem ist ein Tor zum gegenwärtigen Augenblick, und er soll unsere Achtsamkeit für ihn vergrößern, nicht verkleinern.
Es gibt Zeiten während des Tages, zu denen Sie Ihre Aufmerksamkeit nahezu ausschließlich der Atmung widmen können. Sie mögen auf einen Aufzug warten oder auf einen Schalterangestellten, um ein Formular in einem Büro auszufüllen, oder für einen Film anstehen. Für die meisten Menschen sind diese Momente verlorene Zeit, und sie werden in solchen Momenten noch zerstreuter und weniger präsent. Doch wenn Sie Ihre Achtsamkeit der Atmung zuwenden, selbst wenn es nur für wenige Atemzüge ist, dann können Sie ruhiger und zentrierter werden. Sie kommen mit einer gewissen Energie in Berührung, und aus dieser Begegnung gehen Sie erfrischt hervor.
Wir können all diese Momente, die wir üblicherweise als lästig ansehen, derart nutzen. Thich Nhat Hanh spricht davon, daß auch eine rote Ampel zu einer Achtsamkeitsglocke, wie sie in Klöstern angeschlagen wird, für uns werden kann. An vielen Orten, wo Buddhismus praktiziert wird, wird während der Arbeitsperioden in unregelmäßigen Abständen eine Glocke geschlagen, um die Leute zum gegenwärtigen Moment zurückzubringen. Die Übenden unterbrechen dann das, was sie gerade tun, für einen Zeitraum von drei Atemzügen, und kehren dann zu ihrer jeweiligen Arbeit zurück.

Viele Menschen reagieren verärgert, wenn sie vor einer roten Ampel anhalten müssen; das macht sie gereizt und ungeduldig. Aber es ist möglich, rote Ampeln als eine Gelegenheit zu nutzen, um zur Atmung zurückzukommen, sich zu zentrieren und sich davon erfrischen zu lassen (und sich daran zu erinnern, daß es sich nicht lohnt, derart in Eile zu sein). Auf die gleiche Weise können Sie das Läuten des Telefons benutzen. Lassen Sie es mehrere Male läuten, bevor Sie abheben, und richten Sie derweil Ihre Aufmerksamkeit auf die Atmung. Das wird nicht nur eine erholsame Pause für Sie sein (so daß Sie nicht immer automatisch auf äußere Reize reagieren und nach dem Telefon greifen, sobald es klingelt), sondern es wird Ihnen auch ermöglichen, in dem Gespräch, das Sie führen werden, stärker präsent zu sein.
In meinem Leben in Cambridge und Boston bin ich häufig mit der U-Bahn unterwegs. Viele Menschen behaupten, daß solche Begegnungen mit den Massen in öffentlichen Verkehrsmitteln sehr ermüdend und deprimierend sind. Ich aber lege oft lange Strecken damit zurück und nutze diese Gelegenheiten zum Meditieren: keine besonderen Gewänder, kein Kissen, keine Glocken oder Räucherstäbchen, nur ein Mann, der in einer U-Bahn sitzt. Ich lenke die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung und lebe diese Momente. Es ist überhaupt nicht deprimierend. Zeitspannen, die wir normalerweise verabscheuen, etwa das Warten am Flughafen oder beim Zahnarzt, können wir auf die gleiche Weise nutzen. Es gibt wirklich keine Zeit, die verloren sein muß. Mit Achtsamkeit können Sie Leben in alle diese Momente bringen.
Ich liebe es, zur Körperertüchtigung zu Fuß zu gehen, und meine Wege durch die Stadt sind für mich wundervolle Gelegenheiten, Achtsamkeit zu üben. Jedes Gehen kann eine Gehmeditation sein. Sie konzentrieren sich auf Ihre Schritte, auf Ihre Körperempfindungen oder auf den Atem selbst, was immer Ihnen hilft, in der Gegenwart zu sein. Während langer Spaziergänge beobachte ich häufig meinen Geist (neunte Kontemplation), was schon immer eine meiner Lieblingsübungen war. David Guy, der an diesem Buch mitgearbeitet hat, schwimmt zur Körperertüchtigung und findet darin eine ausgezeichnete Gelegenheit für die Übung von Achtsamkeit. Jede Art von körperlicher Tätigkeit, sei es Blätter fegen oder Rasen mähen, eignet sich.



(aus Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt, 2. Auflage 2007, S. 226 f.)