Bella wurde das erstemal mit viereinhalb
Monaten zu mir zur Behandlung gebracht. Ins Säuglingsheim war sie im Alter von
fünfzehn Tagen gekommen. Die drei Erwachsenen, die sie begleiteten (Erzieherin,
Stationsschwester und Säuglingsschwester) haben mir in ihrer Anwesenheit die
folgenden Einzelheiten berichtet:
Bella
wurde in der 41. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von 3450 Gramm
geboren. Sie blieb sechs Tage auf der Entbindungsstation, am siebten Tag begann
sie, so stark zu erbrechen, daß sie für eine Woche auf die Neugeborenen-Abteilung
verlegt werden mußte. In ihrer Patientenakte wird erwähnt, sie hätte vor dem
Verlassen der Entbindungsstation ihr erstes Lächeln gezeigt, und auch, daß sich
im Krankenhaus eine Krankenschwester ganz allein sehr intensiv um sie gekümmert
und ihr ein Plüschtier geschenkt habe.
Mit
fünfzehn Tagen wurde Bella ins Säuglingsheim gebracht, weil die Mutter anonym
entbunden hatte, da die Schwangerschaft von ihr nicht gewünscht war. Weiterhin
ist von der Mutter bekannt, daß sie drogenabhängig und seit vier Jahren mit dem
Aidsvirus infiziert ist. Auch Bella ist HIV-positiv' und das Erbrechen mit
Gefahr der Austrocknung (Dehydration) am siebten Tag wurde als ein
Entzugssyndrom interpretiert und auch so behandelt. Die Mutter hat ihr Kind
nach der Geburt zwar sehen wollen, aber sehr schnell darum gebeten, daß man es
wieder wegbringe. Man weiß nicht, ob sie mit ihm gesprochen hat; der Vorname ist
von der Hebamme ausgewählt worden, die ihrer Schönheit wegen fand, daß »Bella«
gut zu ihr paßte. Vom Vater kennt man nur die Nationalität und weiß, daß er
nicht mit der Mutter verheiratet ist, die allein lebt.
Bella
wurde somit als Mündel des Staates anerkannt. Der gesetzlich vorgeschriebene
Zeitraum von drei Monaten, während dem die Eltern die Möglichkeit haben, das
Kind anzuerkennen, war verstrichen. Bella war demnach eigentlich zur Adoption
frei. Die HIV-Tests fielen sehr bald negativ aus, wurden aber regelmäßig
wiederholt. Der Familienrat hatte dennoch beschlossen, noch einige Monate
abzuwarten, bis man sie zur Adoption freigab.
Der
Grund für eine therapeutische Konsultation war folgender: In den viereinhalb
Monaten ihres Lebens hatte Bella bereits dreimal mit dem Notarzt in ein
Krankenhaus gebracht werden müssen. Das Personal des Säuglingsheims war daher
der Ansicht, daß eine psychoanalytische Behandlung für sie von großem Nutzen
wäre.
Mit
fünf Wochen mußte Bella wegen des Bruchs eines Eierstocks (dem verstecktesten
Zeichen ihrer zukünftigen Weiblichkeit) einer Notoperation unterzogen werden,
und der Chirurg war gezwungen, diesen zu entfernen. Einen Tag nach dem Eingriff
wurde sie ins Säuglingsheim zurückgebracht, und die Säuglingsschwestern fanden
sie weit ruhiger, wie »erleichtert« (liegt das nur daran, daß sie nicht mehr
litt?).
Mit
zwei Monaten mußte sie wieder ins Krankenhaus gebracht werden, dieses Mal für
die Dauer von vierzehn Tagen wegen einer asthmatischen Bronchitis mit
Ateminsuffizienz und Diarrhöe. Dabei ist aufgefallen, daß das Datum und die
Dauer der Krankenhausaufenthalte exakt mit den freien Tagen der ihr
zugewiesenen »Ersatzmutter« übereinstimmen. Da diese schon bald wieder für
einige Tage weg mußte, machte sie sich Sorgen darüber, daß ihre Abwesenheit
negative Folgen für Bellas Gesundheit haben könnte. Die medizinische Behandlung
war ziemlich aufwendig: Atemtherapie, Medikamente, Antirefluxbehandlung (die
eine ständige Betreuung erforderte, um sie Tag und Nacht in einer beinahe
aufrechten Lage zu halten).
Während
man mir von ihr erzählt, hält sich Bella gut auf dem Schoß ihrer
»Ersatzmutter«, schaut mich an, betrachtet alle anwesenden Personen, lächelt
ihnen zu, brabbelt viel und lange. Kurz, sie entwickelt ihren ganzen Charme,
und alle finden sie bezaubernd und versuchen, sie noch mehr zum Lächeln zu
bringen. Umso überraschter bin ich daher über meine eigene Reaktion: denn
zunächst einmal finde ich sie nicht besonders anziehend, und dann empfinde ich
… ganz einfach nichts: Weder die anonyme Geburt noch die Tatsache, daß sie
HIV-positiv ist, noch die Entzugserscheinungen, noch der dramatische Bericht
ihrer Krankenhausaufenthalte rufen in mir das geringste Gefühl hervor. Da ich
bereits Olivier, Zoé, Fleur und viele andere Kinder in Behandlung hatte, ist
mir meine unterschiedliche Reaktion sehr genau bewußt. Aber als ich mich direkt
an Bella wende, schiebe ich diesen Mangel an Gefühl beiseite und mobilisiere
meine Erfahrung, um ihr das zu sagen, was ich in einer derartigen Situation zu
sagen wichtig finde: daß sie ihre leibliche Mutter, die sie lebendig auf die
Welt gebracht und für sie gewünscht hat, sie solle in einer anderen Familie
aufgezogen werden, niemals wiedersehen wird; daß ihr erster
Krankenhausaufenthalt in Zusammenhang stand mit den Drogen, die ihre Mutter
(und damit auch sie) während der Schwangerschaft genommen hat; und daß es
vielleicht leichter sei, den Drogenentzug zu kurieren als den Entzug der
Mutter; daß ich sie gerne wiedersehen würde, um mit ihr gemeinsam zu verstehen
zu suchen, warum sie so große Mühe hat, ihren Körper anzunehmen, während sie
selbst doch auf Eltern wartet, die sie annehmen. Während der eigentlich
ziemlich kurzen Zeit, in der ich zu ihr spreche, läßt Bella sich zurücksinken,
wendet ihren Blick von mir ab und fixiert mit leeren Augen ihre
Säuglingsschwester, bis ich zu reden aufhöre. Sobald ich verstumme, setzt sie
sich wieder auf und zeigt ihr charmantes Lächeln. Das nächste Treffen wird
vereinbart. Ich fühle mich schrecklich unwohl und habe den Eindruck, daß ich
mit einer Art vorgefertigtem Wissen zu ihr gesprochen habe und nicht fähig war,
etwas (was auch immer) Neues von diesem kleinen Mädchen verstanden zu haben.
Ja, ich frage mich sogar, ob ich nicht besser den Beruf wechseln sollte.
Am
Tag des vereinbarten Treffens ruft mich die Stationsvorsteherin des
Säuglingsheims an, um mir mitzuteilen, daß Bella einige Tage nach der ersten
Sitzung eine sehr schwerwiegende Bronchitis bekommen habe und deswegen ins
Krankenhaus gebracht werden mußte. Ihr Zustand habe sich innerhalb von drei
Tagen so sehr verschlechtert, daß sie mit dem Notarzt in die Intensivstation
eines anderen Krankenhauses habe verlegt werden müssen. Dort werde sie
künstlich beatmet. Da die Stationsleiterin sie noch am selben Tag besuchen
will, fragt sie mich, was sie ihr sagen soll. Trotz der ängstlichen Erwartung
der Schwester greife ich auch dieses Mal auf meine vergangenen Erfahrungen
zurück und weigere mich, mir über meine fehlenden Gefühle Rechenschaft
abzulegen. Das bringt mich für den Augenblick völlig aus der Fassung.
Am
Ende meines langen Behandlungstages, an dem mit den Säuglingen, die zu mir
gebracht wurden, alles ohne Zwischenfälle abgelaufen war – und nachdem ich mit
Kollegen über meine Verwirrung gesprochen habe –, sage ich mir, daß es
vielleicht doch besser sei, den Versuch zu machen zu verstehen, was sich bei
diesem Kind abspielt, als – sofort und auf der Stelle – den Beruf zu wechseln.
Ich nehme mir also die Patientenakte vor und versuche, mich daran zu erinnern,
was ich in der besagten Behandlungsstunde gedacht habe. Im Verhalten des
Personals des Säuglingsheims gab es nichts besonderes: Sie waren präsent, sehr
beunruhigt und redeten offen mit mir. Bellas Geschichte rührte, soweit ich
wußte, an keine schwierige Stelle meiner persönlichen Geschichte. Ich hatte
notiert: Bella ist sehr »kommunikativ«; dieser Terminus, den ich sonst nicht
gebrauche, war mir von der Stationsschwester suggeriert worden. Als ich mich
bemühe, mir die Situation zu vergegenwärtigen, erinnere ich mich, daß mir Bella
um einiges älter vorkam, als sie in Wirklichkeit war, denn sie saß während des
ganzen Gesprächs ohne Stütze, und vor allem brabbelte, lächelte und spielte sie
während der ganzen Stunde ohne jede Unterbrechung. Das Bild einer Puppe drängte
sich mir auf, das Bild einer Puppe ohne Authentizität. Ich verstand sogleich
mein mangelndes Interesse, denn leblose Puppen interessieren mich schon seit
langem nicht mehr. Ich hatte zwar den kurzen Augenblick des Zurücksinkens
wahrgenommen, als ich zu ihr sprach, aber ich habe dies nicht angesprochen,
genausowenig wie ich es gewagt habe, mir meine Distanz zu ihr bewußt zu machen
oder diese gar zu äußern. Ich habe mich im Gegenteil gezwungen, so zu
reagieren, wie ich es sonst auch getan habe, war aber zugleich davon überzeugt,
daß mein Mangel an gefühlsmäßiger Reaktion mich in meinen Fähigkeiten
vollständig in Frage stellte. Keinen Augenblick wäre ich auf den Gedanken
gekommen, daß es sich um einen Gegenübertragungseffekt[i]
handeln könnte.
Als
ich mir diese eher mißratene Behandlungsstunde noch einmal ins Gedächtnis
zurückhole, empfinde ich zum erstenmal Mitgefühl für dieses kleine Mädchen:
Körperlich von ihrer Mutter seit ihrer Geburt getrennt, hat sie mit ihrer
Schönheit eine Hebamme beeindruckt, so daß sich der Symbolisierungsprozeß, der
durch die Benennung eingeleitet wird, wahrscheinlich um ihren Vornamen
kristallisiert hat. Da ein nur allzu fragiles Band sie mit ihrer allzu
ephemeren Lebensquelle verband, hat sie sich vielleicht verpflichtet gefühlt,
ihren Vornamen mit ihrem Körper auszudrücken, so daß sie zu einer Art Roboter
wurde.
Bella
hatte sich bereits als Säugling dem, was sie an verführerischen Erwartungen in
ihrer Umgebung wahrnahm, angepaßt und hatte sich zu leben gezwungen, aber in
einer falschen Art: Wie ich später erfahren sollte, lächelte sie so strahlend,
daß alle Erwachsenen, selbst wenn sie sie von Ferne sahen, ein Vergnügen darin
fanden, zu ihr zu kommen, um sie noch mehr zum Lächeln zu bringen. Sie
begeisterten sich an ihrer offensichtlichen Lebensfreude, die im Einklang mit
ihrer Schönheit stand, und das war sicher dazu angetan, sie noch in ihrer
Verhaltensweise zu bestätigen. Ihren inneren Widerstand oder ihr allzu großes
Leid konnte sie nur äußern, indem sie ganz unvermittelt sehr krank wurde. Dies
war der einzige Zustand, in dem sie es sich erlaubte, »wahr« zu sein, das
heißt, ihren Körperfunktionen freien Lauf zu lassen. Allerdings konnte sie auch
dabei sicher sein, dieses Mal durch die Pflege, die Aufmerksamkeit aller auf
sich zu ziehen. Man hatte mir von Bella als einem entweder »sehr
kommunikativen« oder »sehr kranken« Kind gesprochen, aber dazwischen gab es …
nichts.
Ich
erwartete den Telephonanruf der Stationsschwester mit großer Ungeduld; als ich
mit ihr über Bella sprach, ist sie endlich für mich lebendig geworden, was sich
im Ton und im Sprechtempo meiner Überlegungen äußerte, die ich der Schwester
mitteilte. Es war mir plötzlich ein dringliches Bedürfnis, daß diese nochmals
nach ihr schaute, und ich war bewegt, als ich erfuhr, daß Bella ihre Hand fest
gedrückt hat, als sie mit ihr am selben Tag über mich gesprochen hatte.
Vor
diesem zweiten Besuch hatte Bella das Beatmungsgerät abgenommen werden können.
Man berichtete mir, daß sie die Stationsschwester mit einem breiten Lächeln
»bis hinter beide Ohren« begrüßt habe. Diese ließ sie wissen, daß sie nicht
unbedingt lächeln müsse, damit man sich mit ihr beschäftige, und Bella hat
daraufhin aufgehört zu lächeln. Dann hat sie noch hinzugefügt, daß sie sich
nicht unbedingt schwer krank machen müsse, um ihren Kummer auszudrücken: man
könne sie verstehen und mit ihr zusammen sein, auch wenn sie traurig sei. Bella
hat angefangen zu weinen, was sie sonst niemals tat, und eineinhalb Stunden
lang geweint. Die Stationsschwester hat nicht versucht, sie zu trösten, ist
aber bei ihr geblieben und hat weiter mit großer Einfühlsamkeit zu ihr
gesprochen.
Die
folgende Entwicklung, die weder glatt noch wunderbar verlief, sei etwas kürzer
dargestellt. In den nächsten Monaten hat Bella eine für sie sehr heilsame,
harmlose Krankheit bekommen, die Windpocken, die ihr Gesicht für einige Zeit so
entstellten, daß niemand mehr Gefallen daran fand, zu ihr zu kommen, um sie zu
betören. Die Ferien ihrer »Ersatzmutter« sind gut vorbereitet worden; während
ihrer Abwesenheit war Bella zu einigen ergänzenden Untersuchungen im
Krankenhaus. Bei ihrer Rückkehr hat sie eine Otitis (Ohrenentzündung) und eine
leichte Lungenentzündung bekommen, die aus medizinischer Sicht nicht bedenklich
waren, so daß sie im Säuglingsheim behandelt werden konnte. Diese Krankheiten
sind von Bedeutung, denn bis zu diesem Zeitpunkt brachte Bella ihre wahre
Persönlichkeit zum Ausdruck, indem sie sich nahe der Selbstvernichtung
(Aphanisis) bewegte, und ich besaß keinen Hinweis darüber, ob für sie »wahr«
sein nicht gar tot sein bedeutete.
Nach
äußerst komplizierten Untersuchungen gelangten die Ärzte zu der
Schlußfolgerung, daß bei ihr Teilchen der Nahrung einen falschen Weg nehmen
(statt durch die Speiseröhre gehen sie durch die Luftröhre), was medizinisch
nicht nachweisbar ist, aber eine permanente Infektionsquelle für ihre Lunge
sein kann. Sie haben ihr unter anderem eine schnelle Umstellung von
Flaschennahrung auf festere Nahrung verordnet. Dieser Verordnung fügte sich
Bella, wie zu erwarten war, ohne Probleme.
Koinzidenz?
Auch für die Ärzte hatte Bella etwas Falsches: sie machte den Eindruck, ihre
Fläschchen sehr gut zu trinken, verschluckte sich niemals, aber die Nahrung
nahm einen falschen Weg, genauso wie sie selbst einen falschen Weg nahm, indem
sie pausenlos lächelte.
Als
ich Bella in der darauffolgenden Zeit im Wartezimmer abhole, erwartet sie mich
mit gerunzelter Stirn und ohne das geringste Anzeichen eines Lächelns! Zunächst
weint sie mehrere Sitzungen hindurch, mit ziemlich feinen Unterschieden, die
ich in Worte zu fassen versuche. In Zusammenhang mit ihren körperlichen
Reaktionen (einem Fieberschub genau vor der Sitzung zum Beispiel), mit ihren
Atembeschwerden (pfeifende oder andere Geräusche beim Atmen) sowie mit der ärztlichen
Diagnose kann ich das Problem des falschen Weges ansprechen und entsprechend
auch die »echten« Ursprünge des Bruches aufgreifen.
Mit
zehn Monaten geht es Bella ausgesprochen gut: Sie wird (endlich!) wütend, wenn
sie mit etwas nicht zufrieden ist, und hat absolut keine Angst mehr, ihren
Säuglingsschwestern zu mißfallen. Sie weigert sich nun, etwas zu essen, was sie
nicht mag, während man ihr früher egal was hätte geben können. Sie verteidigt
ihr Spielzeug, da ihr jetzt etwas gehören darf. Auch kann sie nun liegend in
ihrem Bett schlafen, da die Antirefluxbehandlung nicht mehr notwendig ist.
Dank
dieser Entwicklung und der Beharrlichkeit der Sachbearbeiterin hat der
Familienrat ihre Patientenakte früher als vorgesehen nochmals geprüft: So
konnte Bella ihren ersten Geburtstag in ihrer Adoptivfamilie feiern.
Ich
habe mich lange gefragt, warum es mich so sehr fasziniert, Säuglinge
psychoanalytisch zu behandeln, während ich im alltäglichen Leben keine
bestimmte Altersklasse bei Kindern bevorzuge, schon gar nicht Säuglinge, und
ich zudem keine besondere Begabung habe, mich in ihre Empfindungen einzufühlen
und sie zu verstehen. Erst kürzlich hat mich ein Freund, ein Choreograph, ganz
zufällig im Laufe eines Gespräches auf den Schlüssel für mein Interesse
gestoßen. Er liegt natürlich in meiner eigenen Kindheit. Wenn ich von
Choreographie spreche, deute ich damit bereits an, daß für mich eine Beziehung
zwischen einer bestimmten Ausdrucksform des Körpers und der Psychoanalyse
besteht. Als kleines Mädchen hatte ich den weitverbreiteten Traum, Tänzerin zu
werden, bevor ich meine Meinung dazu wegen einer sehr ernüchternden Bemerkung
meiner Eltern änderte: »Wenn du Künstlerin werden willst, mußt du die beste
sein!« Da ich auch noch andere Träume hatte, machte es mir keine allzu großen
Probleme, das Tanzen als Berufswunsch aufzugeben. Aber ich habe dennoch
weiterhin Tanzstunden genommen; ich empfinde dabei ein von jeglichem Ehrgeiz
freies Vergnügen, das auf bewußter Ebene keinerlei Verbindung mit meiner
psychoanalytischen Tätigkeit hat. Das Vergnügen ist sehr abhängig von der
Qualität des Lehrers, denn was mir gefällt, ist weder die Choreographie noch
das körperliche Training, noch die »Anmut«, sondern die Möglichkeit, sich eine
Körperbewegung oder einen Bewegungsablauf soweit bewußt zu machen, bis diese in
sich stimmig sind, – dabei aber einzig und allein von den Worten und nur den
Worten des Lehrers geleitet zu werden. Wenn diese »stimmig« sind, ist ihre
Wirkung auf den Körper unmittelbar, dauerhaft und vollständig anders als
Korrekturen von der Art »halt dich gerade«, die nur eine sehr begrenzte Wirkung
zeigen. Bei diesen nämlich handelt es sich nur darum, gerade zu erscheinen, nicht aber, sich gerade zu fühlen.
In
dieser Hinsicht ist die Kinderanalyse den Tanzstunden weit überlegen! Besteht
sie doch darin, sich seines eigenen Körpers zu bedienen, um die Wirkungen, die
Worte und Geschehnisse auf den Körper des Kindes gehabt haben, nachzuempfinden,
und diese Empfindungen dann in Worte zu fassen, damit diese Worte ihrerseits
auf den Körper des Kindes einwirken können. In diesem Sinne ist es nicht der
Körper, der spricht: Der Körper ist der Ort der Sprache.
Das
Gespräch, das kurz vor meiner Begegnung mit Bella stattgefunden hat, mag
vielleicht erhellen, warum die erste Konsultation für mich eine so große
Bedeutung angenommen hatte: Solange mir nicht klargeworden war, daß die Abwesenheit jeglichen Körpergefühls, das
sich von dem kleinen Mädchen auf mich übertrug, Ausdruck einer Gegenübertragung
war, konnte mir keine Theorie dabei helfen, was auch immer zu verstehen.
Doch
warum habe ich mit anderen Säuglingen, wenn ich etwas empfand, so leicht
Selbstvertrauen gewinnen können, mich aber total in Frage gestellt gefühlt, als
ich nichts empfand? Eben wegen des Tanzes! Zwar ist es mir endlich gelungen,
mich meines Körpers so zu bedienen, wie ich es beabsichtigte, und dadurch
scheinbar zu vermeiden, mich mit der elterlichen Bemerkung, »die beste sein« zu
müssen, zu konfrontieren; dennoch blieb eine Unsicherheit: Wenn mir etwas nicht
glückte (hier: mit meinem Körper zu verstehen), so konnte das nur an mir
liegen, war nur mein Fehler.
Beim
ersten Gespräch mit Bella sind mir auch kurz eine Theorie und eine Erinnerung
durch den Kopf gegangen: die Theorie von Winnicott, die sich auf die Ausbildung
einer falschen Persönlichkeit, eines falschen »Selbst«, bezieht, das dazu
dient, den authentischen Kern, das »Selbst« einer Person zu verbergen und zu
schützen. Und der Anfangssatz der von Françoise Dolto dargestellten
Psychoanalyse mit Dominique. Dieser Junge hatte ihr von vornherein folgendes
gesagt: »Nämlich, ich bin nicht wie die anderen, manchmal beim Aufwachen denke
ich, daß mir eine wahre Geschichte passiert ist.« Worauf Françoise Dolto
sogleich geantwortet hat: »Die dich nicht wahr gemacht hat.«[ii] Aber
erst nachdem ich meine eigenen Wahrnehmungen für mich analysiert hatte, ist es
mir gelungen, »den Körper mit dem Wort zu verbinden« (um einen sehr glücklichen
Ausdruck meines Freundes, des Psychoanalytikers Lucien Kokh zu gebrauchen), ein
weiterer Beweis dafür, daß kein Analytiker weiter gehen kann, als seine inneren
Widerstände es ihm erlauben.
Nicht
alle Kinder eines Säuglingsheims werden psychoanalytisch behandelt: Das ist
nicht möglich und auch nicht wünschenswert. Aber wenn die Allgemeinheit, aus
welchen Gründen auch immer, für ein Kind die Verantwortung übernimmt, muß die
Institution, die diese repräsentiert, die notwendigen Mindestbedingungen
gewährleisten, damit aus dem Kind ein Mann oder eine Frau werden kann, deren Würde
respektiert wird. Im Säuglingsheim von Antony, in dem seit langem die
institutionelle Verantwortlichkeit Thema allgemeiner Überlegungen ist, werden
zwei Grundideen vertreten: Die erste ist, daß die Unterbringung an sich nicht
pathogen ist, sondern vielmehr »heilsam, wenn das Kind versteht, daß die
Gesellschaft ihm gegenüber Pflichten hat und daß es selbst der Gesellschaft
gegenüber die Pflicht hat, sich gegen etwas zu schützen, was es physisch oder
psychisch vorzeitig sterben lassen würde«[iii].
Die
zweite ist, daß das Kind, welchen Alters auch immer, Anspruch auf eine
analytische Behandlung hat, wenn es leidet: Es darf aber nicht allein als
Symptomträger der familiären Pathologie betrachtet werden, denn es ist selbst
Subjekt. Es hat nicht nur das »Recht auf freie Meinungsäußerung«: Seine
Äußerungen müssen auch gehört und in dem Sinne »behandelt« werden, wie man eine
Information behandelt. Wenn es nicht oder noch nicht spricht, drückt sein
Körper die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen aus. Der Körper ist nicht
allein ein Ort, an dem sich eine physische Krankheit oder ein medizinisches
Symptom äußern, an ihm zeigt sich vor allem das Leiden seiner Person.
Die
Symptome, die zu einer therapeutischen Konsultation führen, betreffen
körperliche Störungen (wie z. B. Atembeschwerden, Infektanfälligkeit,
Verdauungsstörungen, Hautkrankheiten, motorische Rückstände) in gleichem Maße
wie Verhaltensauffälligkeiten (z. B. mangelnde Vitalität, Beziehungsstörung,
autistischer Rückzug, Aggressivität, Mutismus). Das zeugt von einer Haltung
zwischen biologischem und psychoanalytischem Denken, die man nicht sehr häufig
findet. Angesichts der Schwere der Erkrankungen kann man sich nicht damit
begnügen zu sagen, daß die Hauptursache für die Krankheiten dieser Kinder darin
besteht, daß sie nicht geliebt werden, oder daß die Liebe alles ins Lot bringen
wird. Das Leiden dieser Kinder ist so groß, daß sie daran sterben können, oder
zumindest, daß es jede Symbolisierung verhindert, trotz der Pflege, die man
ihnen angedeihen läßt. Denn es entsteht vor allem aus der Unkenntnis der
eigenen Ursprünge.
[i] Gegenübertragung: »Gesamtheit der unbewussten
Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und in besonderer
Weise auf dessen Übertragung.« Laplanche, J., und Pontalis, J.-B., Vocabulaire
de la psychoanalyse, deutsche Ausgabe: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M.
1989, S. 164.
[ii] Dolto, F., Der Fall Dominique, Suhrkamp
Verlag, Frankfurt/M. 1973, S. 33.
[iii] Dolto, F., Dialogues québécois, op. cit, S.
140.
aus Caroline Eliacheff, Das Kind, das eine Katze sein wollte – Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern
- Dich gibt es, du mußt lernen, daß du existierst Barbara Supp über die Baby-Analytikerin Caroline Eliacheff (Barbara Supp, SPIEGEL, 28.03.1994)
Am Anfang bestand die Welt aus Hunger, Schlafen, Warten und Schmerz. Da waren ein Gesicht und zwei Arme, die manchmal das Ende des Hungers bedeuteten, Sättigung und manchmal Angst und Qual. Dieselbe Quelle ließ ihn überleben und bedrohte sein Leben, von ihr kam alle Hoffnung und aller Schmerz.
- Caroline Eliacheff, Nathalie Heinich – Mütter und Töchter – Ein Dreicksverhältnis (Perlentaucher, Rezensionen)
Klappentext: Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Männer werden es vielleicht nicht wissen: Nicht über sie reden Frauen vor allem, wenn sie unter sich sind, sondern über die eigene Mutter. Auch wenn nicht alle Frauen selbst Mütter sind und auch nicht alle Mütter Töchter haben, so hat doch jede Frau eine Mutter. Und mit dieser müssen sich alle Frauen fast schon schicksalhaft auseinander setzen - ob sie es wollen oder nicht. Die vielen Spielarten und Facetten der Mutter-Tochter-Beziehung beleuchten die Autorinnen anhand von Schlüsselszenen berühmter Filme und literarischer Werke. Auf eindringliche Weise dokumentieren gerade Kunstwerke wie "Madame Bovary", "Effi Briest", "Herbstsonate", "Das Piano" oder "Die Klavierspielerin", in welcher Form von Generation zu Generation Rollen weitergegeben und weibliche Identitäten und Modelle der Selbstverwirklichung herausgebildet werden. Eindrucksvoll führen sie vor, wie die Rolle des Dritten - des Vaters oder anderer enger Bezugspersonen - maßgeblich darüber entscheidet, ob Ablösung gelingt und eine positive Tochteridentität entstehen kann.
La cause des Bébés