Im Juli 1885 wurde ein neunjähriger französischer Junge namens Joseph Meister von einem tollwütigen Hund übel gebissen, so dass ihm der Tod so gut wie sicher war. Stattdessen aber schrieb der junge Meister Medizingeschichte: als erster menschlicher Patient Pasteurs, der mit einem Tollwutimpfstoff behandelt wurde und überlebte. Nun geben Berichte in englischer und französischer Sprache dieser Erzählung seit mehr als einem halben Jahrhundert ein dramatisches Ende: 1940, 55 Jahre nachdem ihm das Leben gerettet worden war, arbeitete Meister als Pförtner am Pasteur-Institut in Paris. Als die Wehrmacht im Juni jenes Jahres Paris besetzte, marschierten Soldaten am Institut vor und verlangten Zugang zu Pasteurs Gruft. Statt die letzte Ruhestätte seines Retters den Nazis preiszugeben, tötete sich der 64-jährige Meister selbst – so die Geschichte. […]
Nach der verbreiteten Erzählung tötete sich Meister am 14. oder 16. Juni kurz nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich. Wollman schreibt jedoch am 24. Juni, zehn Tage nach der Besetzung von Paris: "Heute morgen wurde Meister tot aufgefunden." Oft wird erzählt, dass er sich selbst erschossen hätte, doch Wollman sagt aus, dass er sich "mit Gas" getötet habe. Manche Quellen geben an, dass Meister sich umbrachte, weil er die Vorstellung nicht ertragen hatte, die Nazis könnten Pasteurs Grab entweihen. Wollman erwähnt nichts dergleichen. Stattdessen weist er daraufhin, dass Meister "sehr depressiv" gewesen sei und seine Frau und Kinder abgereist waren. Wie Millionen andere Menschen flohen sie vor den anrückenden deutschen Truppen aus Paris. […]
Er dachte offensichtlich, dass seine Familie in einem feindlichen Bombenangriff ums Leben gekommen war, und wurde von Schuldgefühlen überwältigt, weil er sie weggeschickt hatte. In den chaotischen Tagen nach dem Zusammenbruch Frankreichs war es nahezu unmöglich, Nachrichten von Angehörigen zu bekommen, weshalb Meister nicht wusste, dass sie in Sicherheit waren. Tatsächlich kehrten seine Frau und Töchter just am selben Tag nach Paris zurück, an dem er sich tötete. "Das Leben kann manchmal von ausgesuchter Grausamkeit sein", notierte Wollman.
Die Geschichte eines verzweifelten Mannes, der sich wenige Stunden vor Heimkehr seiner irrtümlich für tot gehaltenen Familie mit Hilfe eines Gasofens das Leben nimmt, ist tragisch. Doch hat sie wenig mit dem Mythos zu tun, laut dem ein kleiner Angestellter die Pläne von Invasoren hintertreibt.
mehr:
- Wissenschaftsgeschichte – Große Mythen sterben langsam (Héloise Dufour, Sean Carroll
, Spektrum, 14.10.2013)
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