Die uns geläufige Erfahrung, daß wir unser Selbst
vergessen, wenn wir beispielsweise einen Wasserhahn reparieren, läßt sich
durchaus als ein Modell dessen auffassen, was wir Zazen nennen – die
Meditationspraxis des Zenschülers. Bevor wir jedoch auch nur den geringsten
Grad der Selbstvergessenheit erreichen können, ist ein gewisses Maß an Vertrauen
notwendig. So könnte etwa ein Kunstspringer, der bei jedem Sprung vom
Zehnmeterturm alles Störende von sich abstreift, seinen Sport gar nicht
ausüben, hätte er nicht ein bestimmtes Vertrauen entwickelt, ein Vertrauen, das
parallel zu dem Grad seiner Könnerschaft wächst. Dieses »Loslassen« läßt sich
allerdings nicht willkürlich erzwingen. Der Kunstspringer ist eins geworden mit
der Praxis seiner sportlichen Aktivität – er ist frei und zugleich einem hohen
Maß an Disziplin unterworfen.
Aber selbst Kunstspringer der höchsten Kategorie treten
noch nicht in Kontakt mit ihren tiefsten Möglichkeiten, solange sie nur immer
wieder üben, vom Zehnmeterturm aus möglichst elegant ins Wasser zu springen.
Ein angemesseneres Modell haben wir in einem der Archetypen des Zazen, und zwar
in der Figur des Mañjushrī,
die auf dem Altar des Zendō
(das heißt der Meditationshalle) den zentralen Platz einnimmt. Mañjushrī hält eine Schriftrolle in der
Hand, ein Symbol der Weisheit, und ein Schwert, mit dem er unsere begrifflichen
Fixierungen zertrümmert. Er sitzt auf einem ruhenden Löwen, und sowohl Mañjushrī als auch der Löwe wirken sehr
entspannt. Die Kraft des Löwen ist indessen nicht verschwunden, und die Stimme,
mit der Mañjushrī spricht,
ist die Stimme des Löwen. Vollkommen frei und zugleich vollkommen kontrolliert!
Der Zen-Novize muß sich zunächst mit dem Löwen befreunden und diesen zähmen,
bevor er den Löwensitz einnehmen kann. Dazu sind Zeit und Geduld vonnöten.
Am Anfang scheint diese innere »Kreatur« eher ein Affe als
ein Löwe zu sein; gierig ergreift sie die buntschillernden Objekte der Außen-
und Innenwelt und springt von einem Ding zum andern. Viele Menschen tadeln sich
selbst, ja verachten sich wegen ihres sprunghaften Verhaltens. Aber wenn wir
uns selbst ablehnen, so lehnen wir auch das Agens jeglicher Erkenntnis ab. Deshalb
müssen wir mit uns selbst Freundschaft schließen. Freuen wir uns daher, und
versöhnen wir uns mit uns selbst. Lächeln wir uns selbst zu. Dann können wir
Vertrauen zu uns entwickeln.
Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Ich möchte hier nicht
den Weg des Stolzes und der Selbstbezogenheit propagieren. Vielmehr verweise
ich auf Bashos Weg, der sich selbst und seine Freunde ohne jegliche Überheblichkeit
liebte:
Hier in unserem Mondbegaffer-Club
ist ein schön’ Gesicht nicht anzutreffen.
Ich habe diese Zeilen bereits an anderer Stelle
kommentiert. Dort sagte ich: »Was für einfältige Idioten wir doch sind, die wir
hier im Mondlicht sitzen«. Diese Form einer humorvoll-selbstironischen Freude
an sich selbst ist das wahre Fundament jeglicher Verantwortung, der Fähigkeit
nämlich, zu antworten. Wenn wir einen
Fehler machen, so können wir uns anschließend entweder selbst bestrafen oder
nur lächelnd den Kopf schütteln und aus unserem Fehlverhalten lernen. Falls wir
uns jedoch selbst verdammen, so erzielen wir im Grunde genommen nur ein
Ergebnis: Wir vergeuden unsere Zeit und entfernen uns nur wieder von der Praxis
des Zen. Beschließen wir hingegen, unseren Irrtum einfach abzuhaken und es beim
nächsten Mal besser zu machen, dann stellen wir unsere Bereitschaft unter
Beweis, in diese Praxis tatsächlich »einzutauchen«.
Hätte Shakyamuni Buddha sich unentwegt nur mit seinen
eigenen Unzulänglichkeiten befaßt statt mit der Frage nach dem Ursprung des
Leidens in dieser Welt, so hätte er niemals erkannt, daß alles bereits seit
Anbeginn in bester Ordnung ist. Zazen ist nicht die Praxis der
Neukonditionierung des eigenen Selbst, einem Seminar vergleichbar, in dem man lernt,
Freunde zu gewinnen oder andere Menschen zu beeinflussen. Ernsthaftes Zazen
bewirkt zwar eine Veränderung des Charakters, allerdings nicht im Sinne einer
Ich-Anpassung. Vielmehr bedeutet es, das eigene Selbst zu vergessen.
Yamada Kôun Roshi (Bild von zen-kontemplation.de) |
Yamada Roshi hat erklärt: »Zen zu praktizieren heißt, im
Akt der Vereinigung mit etwas das eigene Selbst zu vergessen.« Das bedeutet
jedoch nicht, daß wir versuchen sollten, unser Selbst loszuwerden. Das ist
nicht möglich, es sei denn durch Selbstmord, und Selbstmord ist das bedauerlichste
Schicksal überhaupt, denn jeder von uns – wie überhaupt alle Wesen im Universum
– ist einmalig, und in unserer individuellen Gestalt kommt der Tathāgata als unser Wesen zum
Vorschein.
Das eigene Selbst zu vergessen heißt, die eigene
Einmaligkeit zum Ausdruck zu bringen. Man muß nur einmal beobachten, wie sehr
er selbst der Pantomime Marcel Marceau wird, wenn er sich selbst in seiner
Arbeit vergißt. Und das ist seine Arbeit. Wir alle sind besonders dann wir
selbst, wenn wir uns beim Wechsel eines Autoreifens oder bei einer sonstigen
Tätigkeit selbst vergessen. Diese Selbstvergessenheit bezeichnet den Akt des
reinen Tuns, eines Tuns, dem nicht die geringste Spur eines Selbstbewußtseins
anhaftet.
aus Robert Aitken, Zen als Lebenspraxis, Diederichs Gelbe Reihe München, 1988, S. 27ff.
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