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Vom zufriedenen Parkbankbewohner zum
spirituellen Medienstar – Eckhart Tolle
Ein Interview mit Eckhart Tolle
(von Doris Iding, Mai 2004)
- © Doris Iding, Mai 2004 -
Seit Eckhart Tolle vor zwei Jahren das erste Mal in Deutschland einen Vortrag gehalten hat, ist sein Buch „Jetzt – Die Kraft der Gegenwart“ mittlerweile in 32 Sprachen übersetzt worden und stand sogar wochenlang in der New York Times Bestsellerliste auf Platz Nr. 1. Sogar der Focus (19/2004) berichtete unlängst über „Meister Eckhart“ und beschreibt ihn dort als Guru von Hollywood, da sein Buch auch von Schauspielern wie Meg Ryan, Dennis Quaid, Ursula Karven oder Musikern wie Cher gelesen wird. Neben dem erfolgreichen spirituellen Lehrer und Buchautor, dessen Bücher, Videos und Kartensets weltweit über 3 Millionen Mal verkauft wurden, gibt es aber auch den Menschen Eckhart Tolle, der alles andere als ein Medienstar ist.
Doris Iding: Wie geht es Ihnen?
Eckhart Tolle: Seit meinem letzten Besuch in Deutschland vor zwei Jahren ist viel passiert. Die Verbreitung des Buches ist sehr stark angestiegen. Während es früher nur in esoterischen Buchhandlungen zu kaufen war, ist es inzwischen in allen Buchgeschäften der USA erhältlich und sozusagen mainstream geworden. Das liegt daran, dass es mittlerweile in der New York Times auf Nummer 1 war.
Es war für mich selbst auch überwältigend, wie schnell alles angewachsen ist. Aber es ist auch wundervoll zu sehen – wenn nicht das schönste an dem Phänomen überhaupt - wie viele Menschen sich jetzt in einem Prozess der Bewusstseinswandlung befinden.
Darüber hinaus bin ich in letzter Zeit viel gereist und werde dies jetzt etwas reduzieren. Es scheint, als wenn jetzt ein Zyklus kommt, in dem ich etwas zurückgezogener leben werde.
D.I.: Es ist wirklich außergewöhnlich, dass Sie quasi vom Parkbankbewohner zum Medienstar geworden sind. Bleibt Ihr Ego wirklich verschwunden, auch jetzt, wo Sie so viel Ruhm erleben?
Eckhart Tolle: Solange ich nicht in die Illusion verfalle, dass ich für all dies verantwortlich bin, der das tut, ist das Ego nicht da. Nur wenn ich der Illusion verfalle, dass die Leute kommen, um mich zu sehen, könnte ein spirituelles Ego entstehen. Aber ich weise die Leute immer darauf hin, dass sie nicht kommen sollen, um mich zu sehen, sondern um ihr Selbst zu vertiefen. Sonst wäre es stressig.
Ich bin von Natur aus eher jemand, der zurückgezogen lebt, fast so wie ein Einsiedler. Und das was jetzt passiert, ist eigentlich schon fast gegen meine Natur. Trotzdem begebe ich mich dort hinein und dann geht es auch ganz gut. Die Aufmerksamkeit, die jetzt von allen Seiten auf mich zukommt, ist etwas seltsam. Es sind natürlich auch die Projektionen, die von anderen Menschen auf mich übertragen werden. In diesem Falle ist es besonders wichtig für den spirituellen Lehrer, diese Projektionen nicht als Wahrheit zu betrachten, denn sonst glaubt man den Projektionen, die andere auf einen richten. Ich habe einige Lehrer gesehen, die dies getan haben. Sie haben nach einiger Zeit geglaubt, etwas Besonderes zu sein. Alle Menschen glauben nämlich, dass der spirituelle Lehrer etwas Besonderes ist, was allerdings gar nicht der Fall ist. Der spirituelle Lehrer ist eigentlich weniger besonders als der normale Mensch. Und nur aus dem Grund kommt etwas zum Vorschein, was tiefer liegt als bei anderen. Sobald man aber glaubt, etwas Besonderes zu sein, wird es wieder verdeckt.
D.I.: Freuen Sie sich über das, was Sie erleben?
Eckhart Tolle: Ja, besonders darüber, dass eine so große Bewusstseinswandlung im Gange ist. Im Fernsehen sieht man es noch kaum, vor allem nicht in den Nachrichten, aber auch die Tausende von Briefen und Emails, die ich erhalte, bezeugen, dass eine Veränderung im Gange ist. Natürlich sind meine Bücher nur ein Aspekt der Bewusstseinsveränderung. Es gibt ja noch wundervolle Bücher von anderen spirituellen Lehrern, die alle ein Teil des Wandlungsprozesses sind.
D.I.: Wen würden Sie nennen?
Eckhart Tolle: Byron Katie und Gangaji zum Beispiel. Es freut mich auch besonders, dass mehr und mehr Frauen zu spirituellen Lehrern werden. Es werden auch noch mehr werden.
D.I.: Sie haben gesagt, dass Sie von Natur aus eher zurückgezogen leben. Aber stattdessen reisen Sie immer wieder. Warum tun Sie sich diese Tortour an?
Eckhart Tolle: Ich lehne sowieso schon einen Großteil der Einladungen ab, die auf mich zukommen. Es sind höchstens fünf Prozent, die ich annehme. Und auch das wird sich jetzt noch reduzieren.
Ich habe diese Reisen und Veranstaltungen bisher gemacht, weil ich nicht anders konnte. Sie kamen an mich heran. Ich habe sie nie gesucht. Zum Glück hat das Buch mittlerweile eine eigene Energie. Es hat jetzt ein eigenes Leben. Ich sehe es sogar wie einen eigenen Energieraum. Ich habe auch gar nicht mehr das Gefühl, dass es mein Buch ist. Es ist jetzt erwachsen und arbeitet im kollektiven Bewusstsein der Menschen aktiv mit. Dann gibt es auch noch die Videos und Retreats und es alles arbeitet weiter. Schließlich ist es jetzt in fast allen Ländern der Welt zu kaufen.
D.I.: Dann ist Ihr Buch ist ja fast so verbreitet wie die Bibel.
Eckhart Tolle: Ja, das schreiben auch einige Menschen: Das Buch ist jetzt meine Bibel. Sie haben es auf dem Nachttisch liegen und lesen immer wieder darin. Es ist ja nicht so, dass man das Buch nach mehrmaligem Lesen noch der Information wegen liest, sondern um durch das Lesen in den Bewusstseinszustand der Gegenwärtigkeit einzutreten. Denn das ist ja das Energiefeld, das in dem Buch wirkt. Und das ist noch wichtiger als die Information, die durch das Buch vermittelt wird. Es sind also zwei Ebenen, durch die das Buch wirkt. Die zweite Ebene ist die wichtigere. Wie das Energiefeld in den Text einfloss, kann ich nicht sagen. Es war nicht beabsichtigt. Und wenn jemand das Buch aufmacht und die innere Offenheit dafür da ist,
spirituellen Medienstar – Eckhart Tolle
Ein Interview mit Eckhart Tolle
(von Doris Iding, Mai 2004)
- © Doris Iding, Mai 2004 -
Seit Eckhart Tolle vor zwei Jahren das erste Mal in Deutschland einen Vortrag gehalten hat, ist sein Buch „Jetzt – Die Kraft der Gegenwart“ mittlerweile in 32 Sprachen übersetzt worden und stand sogar wochenlang in der New York Times Bestsellerliste auf Platz Nr. 1. Sogar der Focus (19/2004) berichtete unlängst über „Meister Eckhart“ und beschreibt ihn dort als Guru von Hollywood, da sein Buch auch von Schauspielern wie Meg Ryan, Dennis Quaid, Ursula Karven oder Musikern wie Cher gelesen wird. Neben dem erfolgreichen spirituellen Lehrer und Buchautor, dessen Bücher, Videos und Kartensets weltweit über 3 Millionen Mal verkauft wurden, gibt es aber auch den Menschen Eckhart Tolle, der alles andere als ein Medienstar ist.
Doris Iding: Wie geht es Ihnen?
Eckhart Tolle: Seit meinem letzten Besuch in Deutschland vor zwei Jahren ist viel passiert. Die Verbreitung des Buches ist sehr stark angestiegen. Während es früher nur in esoterischen Buchhandlungen zu kaufen war, ist es inzwischen in allen Buchgeschäften der USA erhältlich und sozusagen mainstream geworden. Das liegt daran, dass es mittlerweile in der New York Times auf Nummer 1 war.
Es war für mich selbst auch überwältigend, wie schnell alles angewachsen ist. Aber es ist auch wundervoll zu sehen – wenn nicht das schönste an dem Phänomen überhaupt - wie viele Menschen sich jetzt in einem Prozess der Bewusstseinswandlung befinden.
Darüber hinaus bin ich in letzter Zeit viel gereist und werde dies jetzt etwas reduzieren. Es scheint, als wenn jetzt ein Zyklus kommt, in dem ich etwas zurückgezogener leben werde.
D.I.: Es ist wirklich außergewöhnlich, dass Sie quasi vom Parkbankbewohner zum Medienstar geworden sind. Bleibt Ihr Ego wirklich verschwunden, auch jetzt, wo Sie so viel Ruhm erleben?
Eckhart Tolle: Solange ich nicht in die Illusion verfalle, dass ich für all dies verantwortlich bin, der das tut, ist das Ego nicht da. Nur wenn ich der Illusion verfalle, dass die Leute kommen, um mich zu sehen, könnte ein spirituelles Ego entstehen. Aber ich weise die Leute immer darauf hin, dass sie nicht kommen sollen, um mich zu sehen, sondern um ihr Selbst zu vertiefen. Sonst wäre es stressig.
Ich bin von Natur aus eher jemand, der zurückgezogen lebt, fast so wie ein Einsiedler. Und das was jetzt passiert, ist eigentlich schon fast gegen meine Natur. Trotzdem begebe ich mich dort hinein und dann geht es auch ganz gut. Die Aufmerksamkeit, die jetzt von allen Seiten auf mich zukommt, ist etwas seltsam. Es sind natürlich auch die Projektionen, die von anderen Menschen auf mich übertragen werden. In diesem Falle ist es besonders wichtig für den spirituellen Lehrer, diese Projektionen nicht als Wahrheit zu betrachten, denn sonst glaubt man den Projektionen, die andere auf einen richten. Ich habe einige Lehrer gesehen, die dies getan haben. Sie haben nach einiger Zeit geglaubt, etwas Besonderes zu sein. Alle Menschen glauben nämlich, dass der spirituelle Lehrer etwas Besonderes ist, was allerdings gar nicht der Fall ist. Der spirituelle Lehrer ist eigentlich weniger besonders als der normale Mensch. Und nur aus dem Grund kommt etwas zum Vorschein, was tiefer liegt als bei anderen. Sobald man aber glaubt, etwas Besonderes zu sein, wird es wieder verdeckt.
D.I.: Freuen Sie sich über das, was Sie erleben?
Eckhart Tolle: Ja, besonders darüber, dass eine so große Bewusstseinswandlung im Gange ist. Im Fernsehen sieht man es noch kaum, vor allem nicht in den Nachrichten, aber auch die Tausende von Briefen und Emails, die ich erhalte, bezeugen, dass eine Veränderung im Gange ist. Natürlich sind meine Bücher nur ein Aspekt der Bewusstseinsveränderung. Es gibt ja noch wundervolle Bücher von anderen spirituellen Lehrern, die alle ein Teil des Wandlungsprozesses sind.
D.I.: Wen würden Sie nennen?
Eckhart Tolle: Byron Katie und Gangaji zum Beispiel. Es freut mich auch besonders, dass mehr und mehr Frauen zu spirituellen Lehrern werden. Es werden auch noch mehr werden.
D.I.: Sie haben gesagt, dass Sie von Natur aus eher zurückgezogen leben. Aber stattdessen reisen Sie immer wieder. Warum tun Sie sich diese Tortour an?
Eckhart Tolle: Ich lehne sowieso schon einen Großteil der Einladungen ab, die auf mich zukommen. Es sind höchstens fünf Prozent, die ich annehme. Und auch das wird sich jetzt noch reduzieren.
Ich habe diese Reisen und Veranstaltungen bisher gemacht, weil ich nicht anders konnte. Sie kamen an mich heran. Ich habe sie nie gesucht. Zum Glück hat das Buch mittlerweile eine eigene Energie. Es hat jetzt ein eigenes Leben. Ich sehe es sogar wie einen eigenen Energieraum. Ich habe auch gar nicht mehr das Gefühl, dass es mein Buch ist. Es ist jetzt erwachsen und arbeitet im kollektiven Bewusstsein der Menschen aktiv mit. Dann gibt es auch noch die Videos und Retreats und es alles arbeitet weiter. Schließlich ist es jetzt in fast allen Ländern der Welt zu kaufen.
D.I.: Dann ist Ihr Buch ist ja fast so verbreitet wie die Bibel.
Eckhart Tolle: Ja, das schreiben auch einige Menschen: Das Buch ist jetzt meine Bibel. Sie haben es auf dem Nachttisch liegen und lesen immer wieder darin. Es ist ja nicht so, dass man das Buch nach mehrmaligem Lesen noch der Information wegen liest, sondern um durch das Lesen in den Bewusstseinszustand der Gegenwärtigkeit einzutreten. Denn das ist ja das Energiefeld, das in dem Buch wirkt. Und das ist noch wichtiger als die Information, die durch das Buch vermittelt wird. Es sind also zwei Ebenen, durch die das Buch wirkt. Die zweite Ebene ist die wichtigere. Wie das Energiefeld in den Text einfloss, kann ich nicht sagen. Es war nicht beabsichtigt. Und wenn jemand das Buch aufmacht und die innere Offenheit dafür da ist,
kann es die Wirkung haben, dass es
den gleichen Bewusstseinszustand im Leser hervorruft, aus dem das Buch
geschrieben wurde. Und das ist fast ein Wunder.
D.I.: Das heißt, ich könnte mir das Buch auch unter das Kopfkissen legen.
Eckhart Tolle: Fast. Die meisten Menschen sagen, dass sie nur ein paar Zeilen lesen und dann in die Gegenwärtigkeit kommen. Sie werden sich der Energie in ihrem Körper bewusst etc.
D.I.: Eigentlich ist doch alles in dem Buch „JETZT“ enthalten. Warum dann die vielen anderen Bücher? Wird Ihre Botschaft dadurch nicht oberflächlicher?
Eckhart Tolle: Im Grunde genommen ist es immer nur eine Lehre. Es ist nichts Neues, aber es gibt viele Perspektiven, von denen aus man über diese Wahrheit sprechen kann. Und es gibt viele Perspektiven, die auf diese Wahrheit hinweisen können. Deshalb schreibe ich weiter. Darüber hinaus gibt es bestimmte Dinge, von denen ich jetzt schreibe, über die ich vorher nicht gesprochen habe. Sie haben sich organisch durch die Vorträge in den letzten drei bis vier Jahren entwickelt. Und für viele Menschen waren die neuen Perspektiven auch sehr hilfreich.
D.I.: Wenn man Ihren Namen hört, dann wird er ja immer mit „JETZT“ in Verbindung gebracht. Gibt es daneben auch noch einen Privatmenschen Eckhart Tolle?
Eckhart Tolle: Ja natürlich. Es gibt den ganz normalen Menschen, der all die Dinge des Alltags tut.
D.I.: Schauen Sie sich auch schon mal ein Fußballspiel im Fernsehen an?
Eckhart Tolle: Nein, dass nicht gerade. Fußball und Sport interessieren mich nicht. Aber manchmal fahre ich mit dem Fahrrad, trinke ein Glas Bier, kaufe im Supermarkt ein oder fahre Auto. Manche Menschen sind über die Tatsache, dass ich Auto fahre, erstaunt. (lacht) Ich weiß nicht warum.
D.I.: Manchmal frage ich mich, ob jemand, der so im gegenwärtigen Moment lebt wie Sie und anscheinend nichts mehr braucht, trotzdem ab und zu ein Restaurant besucht, um sich dort kulinarisch verwöhnen zu lassen?
Eckhart Tolle: Ja. Ich genieße es. Ich bin aber auch zufrieden, wenn ich jeden Tag das gleiche esse. Je aufmerksamer man ist und je mehr man im gegenwärtigen Moment lebt, desto mehr genießt man ihn. Manchmal schaue ich auch Fernsehen, wenn auch nicht für lange Zeit.
D.I.: Sie haben ja auch eine Lebensgefährtin. Gibt es im JETZT auch Streitpunkte oder Beziehungsprobleme?
Eckhart Tolle: Jede Lebenssituation hat ihre Herausforderungen. Es ist eine Situation, die entsteht, die eine neue Anforderung an den Menschen stellt. Zum Beispiel war es für mich eine große Herausforderung, so bekannt zu werden. Jede Herausforderung bringt auch neue Beschränkungen mit sich. Und natürlich gibt es in jeder Beziehung Dinge, die man besprechen muss, emotionale Schwankungen. Die meisten Menschen haben noch einen Schmerzkörper und der wird in einer Beziehung natürlich aktiviert. Die besondere Herausforderung einer Beziehung ist, den emotionalen Zustand des Partners sowie die eigenen Emotionen zuzulassen und gleichzeitig zu erkennen, dass es neben den Emotionen noch einen tiefen Raum gibt. Wenn einem das gelingt, ist man nicht vollständig gefangen von seinen eigenen Emotionen. Dieser weite Raum ist der Schlüssel für die Herausforderungen in den persönlichen Beziehungen. Man könnte auch sagen, dass man versucht, diese Emotion zu entpersonifizieren. Denn jede Emotion ist nur eine menschliche Emotion und eigentlich gar nichts persönliches.
D.I.: Das heißt, dass dann auch Wut oder Traurigkeit auftauchen kann?
Eckhart Tolle: Wütend bin ich sehr, sehr selten. Aber es kommt vor, dass auch Tränen kommen. Jede Emotion ist ein Teil des Lebens, der Lebendigkeit, des manifestierten Lebens.
D.I.: Sie haben geschrieben, dass Sie zwei Jahre gebraucht haben, Ihre Erfahrung zu integrieren. Ich höre aber immer wieder, dass es viel länger dauert, bis eine so tiefgehende Erfahrung integriert ist, bzw. dass die wirkliche Arbeit erst nach der Erfahrung beginnt.
Eckhart Tolle: Natürlich war diese Erfahrung noch nicht vollkommen integriert. Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich überhaupt etwas tun konnte.
D.I.: An welchem Punkt der Integration sehen Sie sich jetzt - wenn man überhaupt von einem Punkt sprechen kann.
Eckhart Tolle: Es ist sehr schwer, sich selbst von der Perspektive der Totalität aus zu sehen. Eine erste Integration dauerte Jahre, dann kam eine Vertiefung. Durch das Buch und durch das Lehren kam ebenfalls eine Intensivierung. Welchen Platz das jetzige Stadium im Ganzen hat, kann ich nicht sagen. Auch wenn es so scheint, dass es sich um etwas Persönliches handelt, ist es eher ein universaler Prozess, in dem wir uns gerade befinden. Es ist unmöglich, mit dem Verstand zu erfassen, wo genau wir uns innerhalb des Prozesses befinden, denn mit dem Verstand können wir nur einen winzigen Bruchteil erkennen. Aber jeder von uns ist ein untrennbarer Teil dieses Prozesses und das ist das wunderbare daran. Ich stelle mir überhaupt keine Fragen, ob noch mehr kommt, oder ob es genügt, sondern ich gebe mich vollkommen dem gegenwärtigen Moment hin und auch das ist schon wieder die Vertiefung.
D.I.: Dann kommen ja auch täglich wieder neue Überraschungen auf Sie zu!
Eckhart Tolle: Ja, und das ist das Schöne daran. Durch die Herausforderungen kommen auch sehr oft die Vertiefungen auf mich zu. Das heißt, dass man zum Beispiel das begrüßt, was man vorher mit dem Verstand verurteilt hat. Zum Beispiel, dass etwas schief geht. Die Welt der Formen ist nun mal nicht sehr stabil. Auch der menschliche Körper besitzt nur eine kurzlebige Form. Oft beurteilt der Verstand eine Situation und sagt: „Es geht schief!“. Dabei ist jede Erfahrung eine wundervolle Herausforderung.
Man kann durch die Weise, wie man einer solchen Herausforderung begegnet, bestimmen, ob man durch sie bewusster wird oder unbewusster. Jedes Mal, wenn irgendetwas passiert, besteht die Möglichkeit, dass man entweder in ein altes Reaktionsmuster, wie eine egoistische Verhaltensweise, herabgezogen oder aber aufmerksamer und gegenwärtiger wird.
Ich kenne zum Beispiel einige Menschen, die unheilbar krank sind. Sie haben vielleicht vom Arzt erfahren, dass sie nur noch wenige Monate zu leben haben. Aber in diesen Menschen hat sich ein unglaublicher Bewusstseinswandel vollzogen, weil sie ihrer Krankheit erlaubt haben, sie in den gegenwärtigen Moment zu zwingen. Wenn man keine Zukunft mehr hat, wo soll man dann hingehen? In die Vergangenheit zurückzugehen ist für viele sehr schmerzhaft. Dann bleibt zwangsläufig nur noch der gegenwärtige Moment, wo es zu einer enormen Vertiefung des Bewusstseins kommen kann. Bei manchen Menschen, die dies tun, sehe ich, dass sie von innen heraus richtig strahlen. Sie erkennen dann selbst, dass die Krankheit das Beste war, was ihnen passiert ist. Aber natürlich können auch kleine Herausforderungen das Bewusstsein vertiefen.
D.I.: Sie haben gerade gesagt, dass man entweder bewusster oder unbewusster durch eine Herausforderung werden kann. Kann ich denn überhaupt unbewusster werden, wenn ich einen bestimmten Grad an Bewusstheit erreicht habe?
Eckhart Tolle: Wahrscheinlich nicht permanent, aber man kann zeitweise in die Unbewusstheit zurückfallen. Das beobachte ich sehr oft an Menschen, die einen bestimmten Grad an Gegenwärtigkeit erreicht haben. Sie werden durch bestimmte Ereignisse in ihrem Leben, sehr oft sind es Konflikte in ihren engeren Beziehungen, wieder für eine Zeit unbewusster, wachen dann aber wieder auf. Es geht schließlich nicht ständig nach oben, sondern die spirituelle Entwicklung ist eher wie der Verlauf einer Spirale. Die meisten Menschen müssen sich damit abfinden, dass sie sich hin- und herbewegen zwischen dem alten unbewussten Verhalten und dem neuen Bewusstsein der Gegenwärtigkeit. Wichtig daran ist, dass man immer wieder aus dem alten unbewussten Zustand aufwacht. Es ist nicht so wichtig, wie lange man in der Gegenwärtigkeit ist, denn das kommt mit der Zeit ganz von alleine. In dem Moment, in dem man erkennt, dass man identifiziert ist mit Gedanken oder Emotionen, ist schon wieder das gegenwärtige Bewusstsein da. Dann besteht natürlich die Gefahr, dass der Verstand eingreift und sagt: „Du kannst nicht bewusst bleiben!“ oder „Du bist wieder gescheitert.“ Dabei muss man darauf achten, dass man sich selbst nicht wieder verurteilt, dass man unbewusst geworden ist. Der unbewusste Zustand ist nichts Persönliches. Es ist auch kein Fehler, unbewusst zu sein.
Man muss sich bewusst sein, dass das Ego versucht, die Oberhand zu behalten, denn es hat eine Intelligenz. Es weiß, welches die verführerischen Gedanken sind, die den Menschen wahrscheinlich wieder in die Identifizierung zurückbringen. Jeder Gedanke hat magnetische Anziehungskraft und versucht die Aufmerksamkeit des menschlichen Geistes an sich zu ziehen, um zu wachsen. Ist man aufmerksam, sieht man, dass die Gedanken wollen, dass man sie wichtig nimmt und sich mit ihnen identifiziert. „Gib mir deine Aufmerksamkeit!“ ruft jeder Gedanke. „Ich bin der wichtigste Gedanke!“ (lacht wieder herzlich)
D.I.: Sie geben in Ihren Büchern zahlreiche Hinweise und genaue Anleitungen, in die Gegenwärtigkeit zu kommen. Aber den Zustand, in dem Sie sich befinden, haben Sie durch Gnade erreicht. Den kann man ja nicht machen. Dieser Zustand ist bei Ihnen auch ohne einen Lehrer passiert. Ist es denn dann nicht auch für andere Menschen Gnade, dorthin zu kommen?
Eckhart Tolle: Ja, das seltsame an meiner Wandlung war, dass es so plötzlich kam. Und es kam auch ohne Lehrer. Es war Gnade. Aber, um überhaupt erreicht werden zu können, muss ein Boden da sein. Es gibt nämlich genügend Menschen, die ein spirituelles Buch aufmachen und das, was darin steht, ist für sie vollkommen bedeutungslos. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen vielleicht weniger intelligent sind, sondern das, was die Wahrheit einer Lehre erkennen könnte, ist noch verdeckt. Man könnte es Gnade nennen, wenn eine Offenheit da ist, die Wahrheit zu erkennen, die in einer geistigen Lehre enthalten ist. Hat jemand die Offenheit noch nicht, muss man warten, bis der Mensch innerlich reif genug ist und sich etwas in ihm öffnet – was dann natürlich auch wieder Gnade ist. Es hat aber auch etwas mit dem menschlichen Leid zu tun, da es letztendlich das menschliche Leid ist, welches die Schale des Ego aufbricht. Ist diese Schale dann aufgebrochen, ist eine gewisse Offenheit da. Somit verbirgt sich die Gnade im menschlichen Leid selbst. Es wird zwar vom Ego hervorgerufen, aber paradoxerweise ist es auch so, dass das menschliche Leid das Ego am Ende zerstört. Das Ego zerstört sich am Ende durch selbsthervorgerufenes Leid. Darum ist es auch nicht gut, das Ego als negativ zu bewerten. Es ist sowohl als auch. Es ist ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Entwicklung. Die Wandlung, die dann nach der Öffnung geschieht, ist ein Prozess. Es ist kein einmaliges Erlebnis, sondern alle Menschen erleben es so.
Natürlich wird der Prozess beschleunigt, wenn der Mensch mit einer lebendigen geistigen Lehre oder einem geistigen Lehrer in Kontakt kommt. Der Mensch würde zwar ohne den Kontakt auch dahin kommen, aber so geht es dann schneller. Man könnte sagen, dass man dadurch Zeit spart.
D.I.: Haben Sie selbst einen Lehrer?
Eckhart Tolle: Nach meiner Bewusstseinswandlung habe ich mehrere Jahre damit verbracht, alle Lehrer, die ich finden konnte, zu besuchen und mit ihnen zu sprechen. Denn zu der Zeit verstand ich noch nicht, was geschehen war. Ich wusste nur, dass ein innerer Zustand des Friedens da war. Wie und was passiert war, wusste ich nicht. Ich hatte das starke Bedürfnis, mehr über meinen inneren Zustand zu lernen. Ich habe mit Buddhisten und allen anderen Lehrern gesprochen. Dann habe ich auch angefangen zu lesen. Gewisse Lehrer haben mir sehr geholfen, meinen eigenen Zustand zu erkennen und zu verstehen. So hat mir zum Beispiel ein Mönch gesagt, dass Zen damit zu tun hat, dass die Gedanken aufhören. Und in dem Moment erkannte ich zum ersten Mal, warum der Zustand des inneren Friedens da war. Das war nach drei, vier Jahren. Da erst realisierte ich, dass ich gar nicht mehr viel denke, dass das zwanghafte Denken nicht mehr da ist. Dieses Denken hatte bei mir früher diesen schrecklichen inneren Zustand hervorgerufen. Jeder Gedanke war schmerzhaft. Zu jener Zeit sah ich bei meiner Mutter eine Bibel und zum ersten Mal wusste ich genau, was mit den Worten Jesu gemeint war, als er sagte, dass die Blumen auf dem Feld blühen und sich nicht darum kümmern. Als ich das las, sah ich die Tiefe. Und mir wurde bewusst, dass es jeden Sonntag in der Kirche gelesen, aber die gewaltige Tiefe der Sätze nicht erkannt und gelebt wird. Und somit warfen Gespräche mit Lehrern oder Schriften Licht auf meinen Zustand und durch das konnte ich auch gleichzeitig die Lehre verstehen. Ich fühlte mich auch sehr zum Buddhismus hingezogen, zu der Erkenntnis des Buddha, der sagt, dass das Selbstgefühl, die Identität, eine Illusion ist. Und auch das war neu für mich.
D.I.: In einem Buch gehen Sie auf die Sutren ein und schreiben, dass Sie an die Sutren, die Lehren Buddhas etc. anschließen. Dann stellen Sie sich ja mit Buddha und Jesus auf eine Stufe. Das finde ich ganz schön gewagt.
Eckhart Tolle: In Wirklichkeit gibt es keinen Buddha und keinen Jesus, sondern nur das Bewusstsein, dass durch manche Menschen hindurchscheint und manchmal die Form von Worten annimmt. Mehr nicht. In Wirklichkeit ist es eine Illusion zu glauben, dass da ein Mensch ist, der eine bestimmte Stufe erreicht hat. Die Wahrheit ist, dass da ein Mensch ist, der durchscheinend genug ist. Der als Person so unbedeutend geworden ist, dass das Bewusstsein durch ihn durchscheinen kann und sich dann als Ausstrahlung oder durch Worte auszeichnet. Aber man darf es nicht gleichsetzen mit einer Person.
D.I.: Jetzt habe ich noch eine letzte Frage: Wenn Sie drei Wünsche hätten, was wären diese?
Eckhart Tolle: Da müsste ich sehr lange nachdenken. Und ich würde wahrscheinlich keine finden. Denn alles, was im Moment geschieht, könnte nicht besser sein.
D.I.: Herzlichen Dank für das Interview!
© Doris Iding, Mai 2004
http://www.weltinnenraum.de/informationen/tolle_interview_3.html
Bücher von Eckhart Tolle:
Jetzt – Die Kraft der Gegenwart
Verlag J.Kamphausen, Bielefeld
Finde die Stille in Dir ·
CDs der Vorträge im April 2002 ·
CDs und DVDs der Vorträge München, Mai 2004
Verlag J.Kamphausen, Bielefeld
Mailen Sie uns Ihre Adresse und wir benachrichtigen Sie bei Erscheinen. eMail: hgries@weltinnenraum.de
Stille spricht - Wahres Sein berühren
Arkana Verlag München, 2003
D.I.: Das heißt, ich könnte mir das Buch auch unter das Kopfkissen legen.
Eckhart Tolle: Fast. Die meisten Menschen sagen, dass sie nur ein paar Zeilen lesen und dann in die Gegenwärtigkeit kommen. Sie werden sich der Energie in ihrem Körper bewusst etc.
D.I.: Eigentlich ist doch alles in dem Buch „JETZT“ enthalten. Warum dann die vielen anderen Bücher? Wird Ihre Botschaft dadurch nicht oberflächlicher?
Eckhart Tolle: Im Grunde genommen ist es immer nur eine Lehre. Es ist nichts Neues, aber es gibt viele Perspektiven, von denen aus man über diese Wahrheit sprechen kann. Und es gibt viele Perspektiven, die auf diese Wahrheit hinweisen können. Deshalb schreibe ich weiter. Darüber hinaus gibt es bestimmte Dinge, von denen ich jetzt schreibe, über die ich vorher nicht gesprochen habe. Sie haben sich organisch durch die Vorträge in den letzten drei bis vier Jahren entwickelt. Und für viele Menschen waren die neuen Perspektiven auch sehr hilfreich.
D.I.: Wenn man Ihren Namen hört, dann wird er ja immer mit „JETZT“ in Verbindung gebracht. Gibt es daneben auch noch einen Privatmenschen Eckhart Tolle?
Eckhart Tolle: Ja natürlich. Es gibt den ganz normalen Menschen, der all die Dinge des Alltags tut.
D.I.: Schauen Sie sich auch schon mal ein Fußballspiel im Fernsehen an?
Eckhart Tolle: Nein, dass nicht gerade. Fußball und Sport interessieren mich nicht. Aber manchmal fahre ich mit dem Fahrrad, trinke ein Glas Bier, kaufe im Supermarkt ein oder fahre Auto. Manche Menschen sind über die Tatsache, dass ich Auto fahre, erstaunt. (lacht) Ich weiß nicht warum.
D.I.: Manchmal frage ich mich, ob jemand, der so im gegenwärtigen Moment lebt wie Sie und anscheinend nichts mehr braucht, trotzdem ab und zu ein Restaurant besucht, um sich dort kulinarisch verwöhnen zu lassen?
Eckhart Tolle: Ja. Ich genieße es. Ich bin aber auch zufrieden, wenn ich jeden Tag das gleiche esse. Je aufmerksamer man ist und je mehr man im gegenwärtigen Moment lebt, desto mehr genießt man ihn. Manchmal schaue ich auch Fernsehen, wenn auch nicht für lange Zeit.
D.I.: Sie haben ja auch eine Lebensgefährtin. Gibt es im JETZT auch Streitpunkte oder Beziehungsprobleme?
Eckhart Tolle: Jede Lebenssituation hat ihre Herausforderungen. Es ist eine Situation, die entsteht, die eine neue Anforderung an den Menschen stellt. Zum Beispiel war es für mich eine große Herausforderung, so bekannt zu werden. Jede Herausforderung bringt auch neue Beschränkungen mit sich. Und natürlich gibt es in jeder Beziehung Dinge, die man besprechen muss, emotionale Schwankungen. Die meisten Menschen haben noch einen Schmerzkörper und der wird in einer Beziehung natürlich aktiviert. Die besondere Herausforderung einer Beziehung ist, den emotionalen Zustand des Partners sowie die eigenen Emotionen zuzulassen und gleichzeitig zu erkennen, dass es neben den Emotionen noch einen tiefen Raum gibt. Wenn einem das gelingt, ist man nicht vollständig gefangen von seinen eigenen Emotionen. Dieser weite Raum ist der Schlüssel für die Herausforderungen in den persönlichen Beziehungen. Man könnte auch sagen, dass man versucht, diese Emotion zu entpersonifizieren. Denn jede Emotion ist nur eine menschliche Emotion und eigentlich gar nichts persönliches.
D.I.: Das heißt, dass dann auch Wut oder Traurigkeit auftauchen kann?
Eckhart Tolle: Wütend bin ich sehr, sehr selten. Aber es kommt vor, dass auch Tränen kommen. Jede Emotion ist ein Teil des Lebens, der Lebendigkeit, des manifestierten Lebens.
D.I.: Sie haben geschrieben, dass Sie zwei Jahre gebraucht haben, Ihre Erfahrung zu integrieren. Ich höre aber immer wieder, dass es viel länger dauert, bis eine so tiefgehende Erfahrung integriert ist, bzw. dass die wirkliche Arbeit erst nach der Erfahrung beginnt.
Eckhart Tolle: Natürlich war diese Erfahrung noch nicht vollkommen integriert. Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich überhaupt etwas tun konnte.
D.I.: An welchem Punkt der Integration sehen Sie sich jetzt - wenn man überhaupt von einem Punkt sprechen kann.
Eckhart Tolle: Es ist sehr schwer, sich selbst von der Perspektive der Totalität aus zu sehen. Eine erste Integration dauerte Jahre, dann kam eine Vertiefung. Durch das Buch und durch das Lehren kam ebenfalls eine Intensivierung. Welchen Platz das jetzige Stadium im Ganzen hat, kann ich nicht sagen. Auch wenn es so scheint, dass es sich um etwas Persönliches handelt, ist es eher ein universaler Prozess, in dem wir uns gerade befinden. Es ist unmöglich, mit dem Verstand zu erfassen, wo genau wir uns innerhalb des Prozesses befinden, denn mit dem Verstand können wir nur einen winzigen Bruchteil erkennen. Aber jeder von uns ist ein untrennbarer Teil dieses Prozesses und das ist das wunderbare daran. Ich stelle mir überhaupt keine Fragen, ob noch mehr kommt, oder ob es genügt, sondern ich gebe mich vollkommen dem gegenwärtigen Moment hin und auch das ist schon wieder die Vertiefung.
D.I.: Dann kommen ja auch täglich wieder neue Überraschungen auf Sie zu!
Eckhart Tolle: Ja, und das ist das Schöne daran. Durch die Herausforderungen kommen auch sehr oft die Vertiefungen auf mich zu. Das heißt, dass man zum Beispiel das begrüßt, was man vorher mit dem Verstand verurteilt hat. Zum Beispiel, dass etwas schief geht. Die Welt der Formen ist nun mal nicht sehr stabil. Auch der menschliche Körper besitzt nur eine kurzlebige Form. Oft beurteilt der Verstand eine Situation und sagt: „Es geht schief!“. Dabei ist jede Erfahrung eine wundervolle Herausforderung.
Man kann durch die Weise, wie man einer solchen Herausforderung begegnet, bestimmen, ob man durch sie bewusster wird oder unbewusster. Jedes Mal, wenn irgendetwas passiert, besteht die Möglichkeit, dass man entweder in ein altes Reaktionsmuster, wie eine egoistische Verhaltensweise, herabgezogen oder aber aufmerksamer und gegenwärtiger wird.
Ich kenne zum Beispiel einige Menschen, die unheilbar krank sind. Sie haben vielleicht vom Arzt erfahren, dass sie nur noch wenige Monate zu leben haben. Aber in diesen Menschen hat sich ein unglaublicher Bewusstseinswandel vollzogen, weil sie ihrer Krankheit erlaubt haben, sie in den gegenwärtigen Moment zu zwingen. Wenn man keine Zukunft mehr hat, wo soll man dann hingehen? In die Vergangenheit zurückzugehen ist für viele sehr schmerzhaft. Dann bleibt zwangsläufig nur noch der gegenwärtige Moment, wo es zu einer enormen Vertiefung des Bewusstseins kommen kann. Bei manchen Menschen, die dies tun, sehe ich, dass sie von innen heraus richtig strahlen. Sie erkennen dann selbst, dass die Krankheit das Beste war, was ihnen passiert ist. Aber natürlich können auch kleine Herausforderungen das Bewusstsein vertiefen.
D.I.: Sie haben gerade gesagt, dass man entweder bewusster oder unbewusster durch eine Herausforderung werden kann. Kann ich denn überhaupt unbewusster werden, wenn ich einen bestimmten Grad an Bewusstheit erreicht habe?
Eckhart Tolle: Wahrscheinlich nicht permanent, aber man kann zeitweise in die Unbewusstheit zurückfallen. Das beobachte ich sehr oft an Menschen, die einen bestimmten Grad an Gegenwärtigkeit erreicht haben. Sie werden durch bestimmte Ereignisse in ihrem Leben, sehr oft sind es Konflikte in ihren engeren Beziehungen, wieder für eine Zeit unbewusster, wachen dann aber wieder auf. Es geht schließlich nicht ständig nach oben, sondern die spirituelle Entwicklung ist eher wie der Verlauf einer Spirale. Die meisten Menschen müssen sich damit abfinden, dass sie sich hin- und herbewegen zwischen dem alten unbewussten Verhalten und dem neuen Bewusstsein der Gegenwärtigkeit. Wichtig daran ist, dass man immer wieder aus dem alten unbewussten Zustand aufwacht. Es ist nicht so wichtig, wie lange man in der Gegenwärtigkeit ist, denn das kommt mit der Zeit ganz von alleine. In dem Moment, in dem man erkennt, dass man identifiziert ist mit Gedanken oder Emotionen, ist schon wieder das gegenwärtige Bewusstsein da. Dann besteht natürlich die Gefahr, dass der Verstand eingreift und sagt: „Du kannst nicht bewusst bleiben!“ oder „Du bist wieder gescheitert.“ Dabei muss man darauf achten, dass man sich selbst nicht wieder verurteilt, dass man unbewusst geworden ist. Der unbewusste Zustand ist nichts Persönliches. Es ist auch kein Fehler, unbewusst zu sein.
Man muss sich bewusst sein, dass das Ego versucht, die Oberhand zu behalten, denn es hat eine Intelligenz. Es weiß, welches die verführerischen Gedanken sind, die den Menschen wahrscheinlich wieder in die Identifizierung zurückbringen. Jeder Gedanke hat magnetische Anziehungskraft und versucht die Aufmerksamkeit des menschlichen Geistes an sich zu ziehen, um zu wachsen. Ist man aufmerksam, sieht man, dass die Gedanken wollen, dass man sie wichtig nimmt und sich mit ihnen identifiziert. „Gib mir deine Aufmerksamkeit!“ ruft jeder Gedanke. „Ich bin der wichtigste Gedanke!“ (lacht wieder herzlich)
D.I.: Sie geben in Ihren Büchern zahlreiche Hinweise und genaue Anleitungen, in die Gegenwärtigkeit zu kommen. Aber den Zustand, in dem Sie sich befinden, haben Sie durch Gnade erreicht. Den kann man ja nicht machen. Dieser Zustand ist bei Ihnen auch ohne einen Lehrer passiert. Ist es denn dann nicht auch für andere Menschen Gnade, dorthin zu kommen?
Eckhart Tolle: Ja, das seltsame an meiner Wandlung war, dass es so plötzlich kam. Und es kam auch ohne Lehrer. Es war Gnade. Aber, um überhaupt erreicht werden zu können, muss ein Boden da sein. Es gibt nämlich genügend Menschen, die ein spirituelles Buch aufmachen und das, was darin steht, ist für sie vollkommen bedeutungslos. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen vielleicht weniger intelligent sind, sondern das, was die Wahrheit einer Lehre erkennen könnte, ist noch verdeckt. Man könnte es Gnade nennen, wenn eine Offenheit da ist, die Wahrheit zu erkennen, die in einer geistigen Lehre enthalten ist. Hat jemand die Offenheit noch nicht, muss man warten, bis der Mensch innerlich reif genug ist und sich etwas in ihm öffnet – was dann natürlich auch wieder Gnade ist. Es hat aber auch etwas mit dem menschlichen Leid zu tun, da es letztendlich das menschliche Leid ist, welches die Schale des Ego aufbricht. Ist diese Schale dann aufgebrochen, ist eine gewisse Offenheit da. Somit verbirgt sich die Gnade im menschlichen Leid selbst. Es wird zwar vom Ego hervorgerufen, aber paradoxerweise ist es auch so, dass das menschliche Leid das Ego am Ende zerstört. Das Ego zerstört sich am Ende durch selbsthervorgerufenes Leid. Darum ist es auch nicht gut, das Ego als negativ zu bewerten. Es ist sowohl als auch. Es ist ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Entwicklung. Die Wandlung, die dann nach der Öffnung geschieht, ist ein Prozess. Es ist kein einmaliges Erlebnis, sondern alle Menschen erleben es so.
Natürlich wird der Prozess beschleunigt, wenn der Mensch mit einer lebendigen geistigen Lehre oder einem geistigen Lehrer in Kontakt kommt. Der Mensch würde zwar ohne den Kontakt auch dahin kommen, aber so geht es dann schneller. Man könnte sagen, dass man dadurch Zeit spart.
D.I.: Haben Sie selbst einen Lehrer?
Eckhart Tolle: Nach meiner Bewusstseinswandlung habe ich mehrere Jahre damit verbracht, alle Lehrer, die ich finden konnte, zu besuchen und mit ihnen zu sprechen. Denn zu der Zeit verstand ich noch nicht, was geschehen war. Ich wusste nur, dass ein innerer Zustand des Friedens da war. Wie und was passiert war, wusste ich nicht. Ich hatte das starke Bedürfnis, mehr über meinen inneren Zustand zu lernen. Ich habe mit Buddhisten und allen anderen Lehrern gesprochen. Dann habe ich auch angefangen zu lesen. Gewisse Lehrer haben mir sehr geholfen, meinen eigenen Zustand zu erkennen und zu verstehen. So hat mir zum Beispiel ein Mönch gesagt, dass Zen damit zu tun hat, dass die Gedanken aufhören. Und in dem Moment erkannte ich zum ersten Mal, warum der Zustand des inneren Friedens da war. Das war nach drei, vier Jahren. Da erst realisierte ich, dass ich gar nicht mehr viel denke, dass das zwanghafte Denken nicht mehr da ist. Dieses Denken hatte bei mir früher diesen schrecklichen inneren Zustand hervorgerufen. Jeder Gedanke war schmerzhaft. Zu jener Zeit sah ich bei meiner Mutter eine Bibel und zum ersten Mal wusste ich genau, was mit den Worten Jesu gemeint war, als er sagte, dass die Blumen auf dem Feld blühen und sich nicht darum kümmern. Als ich das las, sah ich die Tiefe. Und mir wurde bewusst, dass es jeden Sonntag in der Kirche gelesen, aber die gewaltige Tiefe der Sätze nicht erkannt und gelebt wird. Und somit warfen Gespräche mit Lehrern oder Schriften Licht auf meinen Zustand und durch das konnte ich auch gleichzeitig die Lehre verstehen. Ich fühlte mich auch sehr zum Buddhismus hingezogen, zu der Erkenntnis des Buddha, der sagt, dass das Selbstgefühl, die Identität, eine Illusion ist. Und auch das war neu für mich.
D.I.: In einem Buch gehen Sie auf die Sutren ein und schreiben, dass Sie an die Sutren, die Lehren Buddhas etc. anschließen. Dann stellen Sie sich ja mit Buddha und Jesus auf eine Stufe. Das finde ich ganz schön gewagt.
Eckhart Tolle: In Wirklichkeit gibt es keinen Buddha und keinen Jesus, sondern nur das Bewusstsein, dass durch manche Menschen hindurchscheint und manchmal die Form von Worten annimmt. Mehr nicht. In Wirklichkeit ist es eine Illusion zu glauben, dass da ein Mensch ist, der eine bestimmte Stufe erreicht hat. Die Wahrheit ist, dass da ein Mensch ist, der durchscheinend genug ist. Der als Person so unbedeutend geworden ist, dass das Bewusstsein durch ihn durchscheinen kann und sich dann als Ausstrahlung oder durch Worte auszeichnet. Aber man darf es nicht gleichsetzen mit einer Person.
D.I.: Jetzt habe ich noch eine letzte Frage: Wenn Sie drei Wünsche hätten, was wären diese?
Eckhart Tolle: Da müsste ich sehr lange nachdenken. Und ich würde wahrscheinlich keine finden. Denn alles, was im Moment geschieht, könnte nicht besser sein.
D.I.: Herzlichen Dank für das Interview!
© Doris Iding, Mai 2004
http://www.weltinnenraum.de/informationen/tolle_interview_3.html
Bücher von Eckhart Tolle:
Jetzt – Die Kraft der Gegenwart
Verlag J.Kamphausen, Bielefeld
Finde die Stille in Dir ·
CDs der Vorträge im April 2002 ·
CDs und DVDs der Vorträge München, Mai 2004
Verlag J.Kamphausen, Bielefeld
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Stille spricht - Wahres Sein berühren
Arkana Verlag München, 2003
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