Samstag, 8. April 2006

Auf den Schultern eines Riesen …

Wir Deutschen und wir Psychotherapeuten tun uns mit unserem Kulturgestalter bzw. Übervater recht schwer. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod sind wir stolz drauf, wenn wir rausfinden, daß er irgendwo falsch gelegen oder Fehler gemacht hat. Und dies hat wohl nicht nur damit zu tun, daß wir schwer an der Kränkung zu tragen haben, die die Erkenntnis mit sich bringt, daß wir nicht Herr im eigenen Hause sind, obwohl gerade wir Psychotherapeuten genau damit unser Geld verdienen…

Im Sinne einer nachträglichen Reintegration und Anerkennung seiner Leistung wird an Sigmund Freud erinnert, der am 6. Mai 150 Jahre alt geworden wäre.

Zur Entwicklung der Psychoanalyse

Sigmund Freud war Wissenschaftler und Psychotherapeut, der sich mit größtem Ernst der Erforschung des menschlichen Seelenlebens zugewandt hat. Sein Einfluss auf die kulturelle Formation des 20. Jahrhunderts ist riesig, manche seiner Befunde werden erst heute von den Neurowissenschaften gewürdigt. Seine Schriften gehören zur seltenen Sorte stilistisch schöner wissenschaftlicher Prosa mit Sinn für Stil und Bildung. Seine Einsichten – etwa vom Unbewussten im Seelenleben und vom unbewussten Sinn klinischer Symptome – gehören zum festen Bestand eines durch ihn geschaffenen Menschenbildes ebenso wie die im Rahmen der Bindungsforschung bestens bestätigte Bedeutung früher Kindheit fürs spätere Leben. Dass er sich in manchen Dingen geirrt hat, seine Beobachtungen allzu sehr verallgemeinerte, dass er in einigen Punkten „überholt“ ist, spricht nicht gegen diese Würdigung – wäre dem so, hätte man im vergangenen Jahr weder Friedrich Schiller noch Albert Einstein würdigen dürfen. Auch diese Großen sind überholt in mancher Hinsicht, auch sie haben sich geirrt oder überzogen oder müssen als Kinder ihrer Zeit angesehen werden – aber wir anerkennen problemlos, was wir ihnen verdanken.

Ein persönliches Wort: Ich wurde als 17-Jähriger durch eine Lehrerin auf die Taschenbücher Freuds aufmerksam gemacht, die ich mir leisten konnte und dann verschlungen habe. Ihre Lektüre machte das Psychologiestudium leicht: Die Grundgedanken des klassischen und operanten Konditionierens etwa konnte ich problemlos mit Freuds Angsttheorie in Verbindung bringen und so wesentliche Teile der Lerntheorie verstehen. Denn die Angst des kleinen Hans vor den Pferden war verständlich – und die Theorie Pawlows von den bedingten Reflexen wiederholte das ja nur in einer etwas formalistischen Sprache. Nicht anders mit der Motivationsforschung, die sich des Hungers als Leitparadigma bediente – das machte Freud auch hier und da, um dann aus der Frustration von Bedürfnissen Aggression abzuleiten, wie es die Frustrations-Aggressions-Hypothese von Miller und Dollard behauptete. Diese beiden Autoren waren damals sehr prominent, dem Behaviorismus verpflichtet und studierten dennoch Freud mit dem empirischen Ergebnis, dass man Aggression tatsächlich als Folge von Frustration libidinöser Bedürfnisse auffassen könne. Die Redewendung, jemand sei „frustriert“, wenn er tatsächlich aggressiv war, hat sich seither eingebürgert.
mehr:
- Psychoanalyse: Wissenschaft und Lebenskunst (Michael B. Buchholz, Dtsch Arztebl 2006; 103(14): A-908 / B-775 / C-750 )



Nachdem ich die SPIEGEL-Titelgeschichte »Triebwerk im Keller der Seele« (Nr. 18/2006) gelesen hatte, war ich doch etwas desorientiert: Gar nicht SPIEGEL-like fand der Autor diesen angestaubten Wiener doch tatsächlich in vielen Punkten bestätigt.
Doch freudseidank hat zumindest der SPIEGEL-online zur alten Form wieder zurückgefunden und pinkelt wieder allem, was mit Autorität zu tun hat, freudig ans Bein (»Hosianna, sog i«):

»Der Überschätzte«

Hier findet man noch einiges über den »Dunklen Aufklärer«:

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