In seinem Roman Siddhartha
läßt HERMANN HESSE den Fluß vom Geheimnis der Zeit erzählen. Der Fluß lehrt es
Vasudeva, den Fährmann, und von diesem erfährt es der Wanderer Siddhartha am
Ende seiner Lebensreise. Er gibt es weiter an Govinda, den Bettelmönch. Diese
drei Menschen am Fluß stehen für die verschiedenen Wege: Vasudeva für den des
Hausvaters, Govinda für den klassischen Klosterweg und Siddhartha selbst für
den des individuellen Suchers. Alle drei erlangen sie Befreiung im Durchschauen
des Zeitflusses.
Siddhartha blieb bei dem Fährmann und lernte das Boot
bedienen, und wenn nichts an der Fähre zu tun war, arbeitete er mit Vasudeva im
Reisfelde, sammelte Holz, pflückte die Früchte der Pisangbäume. Er lernte ein
Ruder zimmern, und lernte das Boot ausbessern, und Körbe flechten, und war
fröhlich über alles, was er lernte, und die Tage und Monate liefen schnell
hinweg. Mehr aber, als Vasudeva ihn lehren konnte, lehrte ihn der Fluß. Von ihm
lernte er unaufhörlich. Vor allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen
mit stillem Herzen, mit wartender, geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne
Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung.
Freundlich lebte er neben Vasudeva, und zuweilen tauschten
sie Worte miteinander, wenige und lang bedachte Worte. Vasudeva war kein Freund
der Worte, selten gelang es Siddhartha, ihn zum Sprechen zu bewegen.
»Hast du«, so fragte er ihn einst, »hast auch du vom
Flusse jenes Geheime gelernt: daß es keine Zeit gibt?«
Vasudevas Gesicht überzog sich mit hellem Lächeln.
»Ja, Siddhartha«, sprach er. »Es ist doch dieses, was du
meinst: daß der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am
Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall,
zugleich, und daß es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Zukunft?«
»Dies ist es«, sagte Siddhartha. »Und als ich es gelernt
hatte, da sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluß, und es war der Knabe
Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Siddhartha nur durch Schatten getrennt,
nicht durch Wirkliches. Es waren auch Siddharthas frühere Geburten keine
Vergangenheit, und sein Tod und seine Rückkehr zu Brahma keine Zukunft. Nichts
war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.«
Siddhartha sprach mit Entzücken, tief hatte diese Erleuchtung
ihn beglückt. Oh, war denn nicht alles Leiden Zeit, war nicht alles Sichquälen
und Sichfürchten Zeit, war nicht alles Schwere, alles Feindliche in der Welt
weg und überwunden, sobald man die Zeit überwunden hatte, sobald man die Zeit
wegdenken konnte? Entzückt hatte er gesprochen. Vasudeva aber lächelte ihn
strahlend an und nickte Bestätigung, schweigend nickte er, strich mit der Hand über
Siddharthas Schulter und wandte sich zu seiner Arbeit zurück.
Und wieder einmal, als eben der Fluß in der Regenzeit geschwollen
war und mächtig rauschte, da sagte Siddhartha: »Nicht wahr, o Freund, der Fluß
hat viele Stimmen, sehr viele Stimmen? Hat er nicht die Stimme eines Königs, und
eines Kriegers, und eines Stieres, und eines Nachtvogels, und einer Gebärenden,
und eines Seufzenden, und noch tausend andere Stimmen?«
»Es ist so«, nickte Vasudeva, »alle Stimmen der Geschöpfe
sind in seiner Stimme.«
»Und weißt du«, fuhr Siddhartha fort, »welches Wort er spricht,
wenn es dir gelingt, alle seine zehntausend Stimmen zugleich zu hören?«
Glücklich lachte Vasudevas Gesicht, er neigte sich gegen Siddhartha
und sprach ihm das heilige Om ins Ohr. Und ebendies war es, was auch Siddhartha
gehört hatte.
Und von Mal zu Mal ward sein Lächeln dem des Fährmanns
ähnlicher, ward beinahe ebenso strahlend, beinahe ebenso von Glück durchglänzt,
ebenso aus tausend kleinen Falten leuchtend, ebenso kindlich, ebenso
greisenhaft. Viele Reisende, wenn sie die beiden Fährmänner sahen, hielten sie
für Brüder. Oft saßen sie am Abend gemeinsam beim Ufer auf dem Baumstamm, schwiegen
und hörten beide dem Wasser zu, welches für sie kein Wasser war, sondern die Stimme
des Lebens, die Stimme des Seienden, des ewig Werdenden. Und es geschah
zuweilen, daß beide beim Anhören des Flusses an dieselben Dinge dachten, an ein
Gespräch von vorgestern, an einen ihrer Reisenden, dessen Gesicht und Schicksal
sie beschäftigte, an den Tod, an ihre Kindheit, und daß sie beide im selben
Augenblick, wenn der Fluß ihnen etwas Gutes gesagt hatte, einander anblickten,
beide genau dasselbe denkend, beide beglückt über dieselbe Antwort auf dieselbe
Frage …
»Neige dich zu mir!« flüsterte Siddhartha leise in
Govindas Ohr. »Neige dich zu mir her! So, noch näher! Ganz nahe! Küsse mich auf
die Stirn, Govinda!«
Während aber Govinda verwundert, und dennoch von großer
Liebe und Ahnung gezogen, seinen Worten gehorchte, sich nahe zu ihm neigte und
seine Stirn mit den Lippen berührte, geschah ihm etwas Wunderbares. Während
seine Gedanken noch bei Siddharthas wunderlichen Worten verweilten, während er
sich noch vergeblich und mit Widerstreben bemühte, sich die Zeit hinwegzudenken,
sich Nirwana und Sansara als eines vorzustellen, während sogar eine gewisse
Verachtung für die Worte des Freundes in ihm mit einer ungeheuren Liebe und
Ehrfurcht stritt, geschah ihm dieses:
Er sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er
sah statt dessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden
Fluß von Gesichtern, von Hunderten, von Tausenden, welche alle kamen und
vergingen, und doch alle zugleich dazusein schienen, welche alle sich beständig
veränderten und erneuerten, und welche doch alle Siddhartha waren. Er sah das
Gesicht eines Fisches, eines Karpfens, mit unendlich schmerzvoll geöffnetem
Maule, eines sterbenden Fisches, mit brechenden Augen – er sah das Gesicht eines
neugeborenen Kindes, rot und voll Falten, zum Weinen verzogen – er sah das
Gesicht eines Mörders, sah ihn ein Messer in den Leib eines Menschen stechen – er
sah, zur selben Sekunde, diesen Verbrecher gefesselt knien und sein Haupt vom
Henker mit einem Schwertschlag abgeschlagen werden – er sah die Körper von Männern
und Frauen nackt in Stellungen und Kämpfen rasender Liebe – er sah Leichen
ausgestreckt, still, kalt, leer – er sah Tierköpfe, von Ebern, von Krokodilen,
von Elefanten, von Stieren, von Vögeln – er sah Götter, sah Krischna, sah Agni
– er sah alle diese Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander,
jede der andern helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu
gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich schmerzliches
Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch, jede verwandelte sich
nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein neues Gesicht, ohne daß doch
zwischen einem und dem anderen Gesicht Zeit gelegen wäre – und alle diese
Gestalten und Gesichter ruhten, flossen, erzeugten sich, schwammen dahin und
strömten ineinander, und über alle war beständig etwas Dünnes, Wesenloses,
dennoch Seiendes, wie ein dünnes Glas oder Eis gezogen, wie eine durchsichtige Haut,
eine Schale oder Form oder Maske von Wasser, und diese Maske lächelte, und
diese Maske war Siddharthas lächelndes Gesicht, das er, Govinda, in eben diesem
selben Augenblick mit den Lippen berührte. Und, so sah Govinda, dies Lächeln
der Maske, dies Lächeln der Einheit über den strömenden Gestaltungen, dies
Lächeln der Gleichzeitigkeit über den tausend Geburten und Toden, dies Lächeln Siddharthas
war genau dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche, vielleicht
gütige, vielleicht spöttische, weise tausendfältige Lächeln Gotamas, des Buddha,
wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht gesehen hatte. So, das wußte Govinda,
lächelten die Vollendeten.
Nicht mehr wissend, ob es Zeit gebe, ob diese Schauung
eine Sekunde oder hundert Jahre gewährt habe, nicht mehr wissend, ob es einen
Siddhartha, ob es einen Gotama, ob es Ich und Du gebe, im Innersten wie von einem
göttlichen Pfeil verwundet, dessen Verwundung süß schmeckt, im Innersten
verzaubert und aufgelöst, stand Govinda noch eine kleine Weile, über Siddharthas
stilles Gesicht gebeugt, das er soeben geküßt hatte, das soeben Schauplatz
aller Gestaltungen, alles Werdens, alles Seins gewesen war. Das Antlitz war
unverändert, nachdem unter seiner Oberfläche die Tiefe der Tausendfältigkeit
sich wieder geschlossen hatte, er lächelte still, lächelte leise und sanft,
vielleicht sehr gütig, vielleicht sehr spöttisch, genau, wie er gelächelt
hatte, der Erhabene. Tief verneigte sich Govinda, Tränen liefen, von welchen er
nichts wußte, über sein altes Gesicht, wie ein Feuer brannte das Gefühl der innigsten
Liebe, der demütigsten Verehrung in seinem Herzen. Tief verneigte er sich, bis
zur Erde, vor dem regungslos Sitzenden, dessen Lächeln ihn an alles erinnerte,
was er in seinem Leben jemals geliebt hatte, was jemals in seinem Leben ihm
wert und heilig gewesen war … Vasudeva nahm Siddharthas Hand, führte ihn zum
Sitz am Ufer, setzte sich mit ihm nieder, lächelte dem Flusse zu. »Du hast ihn
lachen hören«, sagte er. »Aber du hast nicht alles gehört. Laß uns lauschen, du
wirst mehr hören.«
Sie lauschten. Sanft klang der vielstimmige Gesang des
Flusses. Siddhartha schaute ins Wasser, und im ziehenden Wasser erschienen ihm
die Bilder: sein Vater erschien, einsam, um den Sohn trauernd, er selbst
erschien, einsam, auch er mit den Banden der Sehnsucht an den fernen Sohn gebunden;
es erschien sein Sohn, einsam auch er, der Knabe, begehrlich auf der brennenden
Bahn seiner jungen Wünsche stürmend, jeder auf sein Ziel gerichtet, jeder vom
Ziel besessen, jeder leidend. Der Fluß sang mit einer Stimme des Leidens,
sehnlich sang er, sehnlich floß er seinem Ziele zu, klagend klang seine Stimme.
»Hörst du?« fragte Vasudevas stummer Blick. Siddhartha
nickte.
»Höre besser!« flüsterte Vasudeva.
Siddhartha bemühte sich, besser zu hören. Das Bild des Vaters,
sein eigenes Bild, das Bild des Sohnes flossen ineinander, auch Kamalas Bild
erschien und zerfloß, und das Bild Govindas, und andere Bilder, und flossen
ineinander über, wurden alle zum Fluß, strebten alle als Fluß dem Ziele zu,
sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses Stimme klang voll Sehnsucht, voll
von brennendem Weh, voll von unstillbarem Verlangen. Zum Ziele strebte der
Fluß, Siddhartha sah ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus
allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser
eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der
Stromschnelle, dem Meere, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein
neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Regen und
stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward Bach, ward Fluß, strebte aufs
neue, floß aufs neue. Aber die sehnliche Stimme hatte sich verändert. Noch tönte
sie, leidvoll, suchend, aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr, Stimmen der
Freude und des Leides, gute und böse Stimmen, lachende und trauernde, hundert
Stimmen, tausend Stimmen.
Siddhartha lauschte. Er war nun ganz Lauscher, ganz ins
Zuhören vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, daß er nun das
Lauschen zu Ende gelernt habe. Oft schon hatte er all dies gehört, diese vielen
Stimmen im Fluß, heute klang es neu. Schon konnte er die vielen Stimmen nicht
mehr unterscheiden, nicht frohe von weinenden, nicht kindliche von männlichen,
sie gehörten alle zusammen, Klage der Sehnsucht und Lachen des Wissenden,
Schrei des Zorns und Stöhnen der Sterbenden, alles war eins, alles war
ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles
zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles
Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluß des
Geschehens, war die Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem
Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch
auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und
mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm,
dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das
hieß Om: die Vollendung. »Hörst du?« fragte wieder Vasudevas Blick.
Hell glänzte Vasudevas Lächeln, über all den Runzeln
seines alten Antlitzes schwebte es leuchtend, wie über all den Stimmen des
Flusses das Om schwebte. Hell glänzte sein Lächeln, als er den Freund
anblickte, und hell glänzte nun auch auf Siddharthas Gesicht dasselbe Lächeln
auf. Seine Wunde blühte, sein Leid strahlte, sein Ich war in die Einheit geflossen.
In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal
zu kämpfen, hörte auf zu leiden, auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des
Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das
einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll
Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegen, der Einheit zugehörig.
Als Vasudeva sich von dem Sitz am Ufer erhob, als er in
Siddharthas Augen blickte und die Heiterkeit des Wissens darin strahlen sah,
berührte er dessen Schulter leise mit der Hand, in seiner behutsamen und zarten
Weise, und sagte: »Ich habe auf diese Stunde gewartet, Lieber. Nun sie gekommen
ist, laß mich gehen. Lange habe ich auf diese Stunde gewartet, lange bin ich
der Fährmann Vasudeva gewesen. Nun ist es genug. Lebe wohl, Hütte, lebe wohl,
Fluß, lebe wohl, Siddhartha.«
Siddhartha verneigte sich tief vor dem Abschiednehmenden.
»Ich habe es gewußt«, sagte er leise. »Du wirst in die Wälder gehen?«
»Ich gehe in die Wälder, ich gehe in die Einheit«, sprach
Vasudeva strahlend.
Strahlend ging er hinweg; Siddhartha blickte ihm nach. Mit
tiefer Freude, mit tiefem Ernst blickte er ihm nach, sah seine Schritte voll
Frieden, sah sein Haupt voll Glanz, sah seine Gestalt voll Licht.