Der siebte, der letzte Tag. Die Tradition schreibt vor, daß Rohatsu mit einer Party endet. Rupert hatte keine Vorbereitungen für die Party getroffen, deshalb nahm ich an, daß wir außerhalb feiern würden. Ich freute mich auf das letzte Läuten der Glocke. Es würde langsam verklingen, wir würden noch eine Minute auf unseren Sitzen verharren und darauf warten, daß der Jikki die Halle verließe. Dann würden wir, zum letztenmal, antreten und ordentlich hinausgehen. Aber draußen wären wir frei, frei, zu lachen und zu scherzen und uns auf die Schultern zu klopfen. Und dann würden wir irgendwo anders sein, um zu essen und zu trinken. Die letzte Periode kam, und ich tat mein Bestes, um sie nicht zu vergeuden. Die plötzliche Stimme des Jikki schreckte mich auf. »Heute abend wird es keine Party geben«, sagte Rupert. »Peter will, daß wir das Schweigen bis morgen früh fortsetzen. Wir werden alle um neun Uhr am Grab des alten Meisters erwartet. Danach gibt es ein gemeinsames Frühstück.« Er hustete. Ich wartete auf den Rest der Botschaft, aber das Schweigen lastete wieder auf dem Zendo. Edgar, mein Nachbar, blies durch seinen Schnurrbart. ›Mahlzeit‹, dachte ich. ›Keine Party. Schrecklich.‹ Doch als die Woge der Enttäuschung vorüber war, grinste ich.
Keine Party. Na und? Die Party war mir eigentlich egal. Es gab andere schöne Dinge, an die man denken konnte. Rohatsu war vorbei, und ich konnte gemütlich Kaffee trinken, schönen starken Kaffee mit einem Schuß Büchsenmilch. Und hinterher unter meine Decken tauchen. Und am nächsten Morgen lange schlafen. Ich brauchte nicht vor acht Uhr aufzustehen. Und nach dem Frühstück würde ich einen Spaziergang im Wald oder am Strand machen. Ich könnte mir die Schwertschwänze ansehen und die Eichelhäher füttern. Und ich hatte ein gutes Gewissen. Ich hatte mein Bestes getan, natürlich hätte es besser sein können, aber trotzdem, diesmal hatte ich mich wirklich bemüht. Ich schätzte, daß uns noch fünf Minuten blieben, und verstärkte wieder meine Konzentration. Das vertraute Rascheln von Peters seidenem Kimono holte meine Aufmerksamkeit wieder in die Halle zurück. Er hatte Rohatsu eröffnet, nun würde er die Woche beschließen. Ich lauschte, zweifellos würde er die richtigen Worte wählen. Er hatte den Altar erreicht und wandte sich uns zu. »Ich möchte euch die Geschichte von der kleinen weißen Maus erzählen.« Eine Woge des Glücks durchströmte mich. Die weiße Maus. Hätte er einen besseren Titel aussuchen können? Das kleine Tierchen mit seinem langen Schwanz, das in einem Glaskasten wohnt und Tunnel durch das Sägemehl gräbt, um als Höhepunkt seiner Aktivitäten in einem aus einer Zigarrenkiste gezimmerten Rad zu laufen. In dem Moment, in dem Peter die Worte die weiße Maus aussprach, wußte ich, daß meine Zweifel an der Lehre und an der allgemeinen Ausbildung, an der ich teilgenommen hatte, gegenstandslos waren. Ich lebte schließlich doch in der Welt Han-Shans und seines Freundes Shih-te, der verrückten kleinen Burschen, die vor tausend Jahren auf ihrem Kalten Berg herumliefen. Ich hatte getan, was ich hatte tun müssen, als ich nach Japan gegangen war. Blitzschnell zogen eine Reihe weit zurückliegender Szenen an meinem Auge vorbei, die ersten Anzeichen der Befreiung, die ich an diesem Abenteuer schließlich finden würde. Ich erinnerte mich, wie ich schon als ganz kleines Kind gewußt hatte, daß die Aufregung, die Ängste und die Sorgen der Erwachsenen in meiner unmittelbaren Umgebung keine wirkliche Grundlage besaßen. Ich erkannte es blitzartig, aber es gelang den anderen immer, mich davon zu überzeugen, daß ich unrecht hatte, und dann fühlte ich mich wieder schuldig oder ängstlich - oder beides. Die menschliche Natur hat keine wirkliche Verbindung mit den Gefühlen Schuld oder Angst - sie ist frei. Und ich wußte auch, daß diese Entdeckung nichts mit irgendeiner spezifischen Religion, nicht einmal mit dem Lächeln der Buddhastatue, zu tun hatte. Buddha entdeckte, was lange vor ihm bekannt gewesen war. Die auf sein Erlebnis gegründete Religion hatte mit dem plötzlichen Befreiungsblitz, den ich an jenem Abend im Zendo verspürte, nicht das Geringste zu tun. Ich begriff jetzt, warum der Meister im Tempel von Kioto sich geweigert hatte, mich zum Buddhisten zu machen. Wer sich fanatisch an irgendeinen Glauben bindet, versperrt sich den Weg nach draußen.
Ich erinnerte mich, daß der alte Lehrer, in den mehr als zwanzig Jahren seines Meister-Daseins, es immer abgelehnt hatte, die Wörter Buddhismus oder Zen zu gebrauchen. Er hatte immer überrascht gelächelt, wenn ein SchüleI Buddha zitierte, um etwas zu beweisen.
»Eine kleine weiße Maus«, wiederholte Peter. »In Japan ist eine weiße Maus ein gutes Omen. Wenn man eine weiße Maus sieht, kann man mit ein bißchen Glück rechnen. Sie ist ein Zeichen für Gesundheit, viel Geld, Erfolg.
Eines Tages nahmen ein Vater und sein Sohn in ihrem kleinen Haus ihren Abendreis zu sich. ›Vater«, sagte der Sohn, ›sieh dich jetzt nicht plötzlich um, hinter dir läuft ein kleiner Gast, jemand, der uns Glück bringen wird.‹ Der Vater blickte vorsichtig über seine Schulter. Er sah eine kleine weiße Maus. Vater und Sohn lächelten. Still beobachteten sie die Maus, die auf den Reisstrohmatten hin und her lief. Aber dann schüttelte sich die Maus und wurde mit dieser Bewegung zu einer gewöhnlichen grauen Maus. Eine graue Maus, die zufällig in die Mehlbüchse gefallen war.«
» Seid nicht wie die kleine weiße Maus. Es ist eine harte Woche gewesen. Eine schwierige Übung. Wenn ihr euch jetzt schüttelt, werdet ihr so grau sein wie am Anfang von Rohatsu. Paßt auf und bleibt weiß. Eines Tages werdet ihr vielleicht wirklich weiß sein.« Er verbeugte sich und verließ den Zendo. Rupert läutete seine Glocke zum letztenmal.
Vielleicht hast du jetzt Satori erfahren. Die große Erfahrung, von der die Zen-Bücher sprechen. Ist es wichtig, was genau du erfahren hast? Natürlich nicht. Nichts ist wichtig. Auch Satori ist nicht wichtig. Vergiß das Wort. Lebe, als ob du es nie gehört hättest.
aus Janwillem van de Wetering, Ein Blick ins Nichts
GEFÜHLE – Zufriedenheit lässt sich trainieren. Nur wie? 180 Männer und Frauen in der Schweiz trainierten Charakterstärken. Damit steigerten sie ihr Wohlbefinden, so eine Studie der Universität Zürich. Die Teilnehmer waren heiterer und häufiger positiver Stimmung. „Die Teilnehmer waren Menschen, die sagten: ‚Mein Leben ist eigentlich ganz ok, ich möchte aber wissen, wie es noch besser werden kann’“, sagt Rene Proyer, Psychologe an der Universität Zürich.
Die Männer und Frauen trainierten Dankbarkeit, Optimismus, Humor, Neugier, Enthusiasmus, Sinn für das Schöne, Kreativität, Freundlichkeit, Liebe zum Lernen und Weitsicht. Dahinter steht die Annahme, dass Menschen, die solche Charakterstärken einsetzen, mehr Positive Gefühle erleben. Sie sehen mehr Sinn im Leben, haben bessere Beziehungen und Handlungsoptionen, so die Studiel1autoren. Auf die positive Seite des Lebens wechseln Die Frauen und Männer trafen sich 14-täglich, bekamen eine Stärke vorgestellt und übten sie in der Gruppe. „Als es um Dankbarkeit ging, mussten sie sich zum Beispiel mit ihrem Sitznachbarn darüber austauschen, wie sie in eineibestimmten Situation Dankbarkeit erlebt hatten“, sagt Proyer. Als Hausaufgabe sollten die Teilnehmer einem Menschen einen Dankbarkeitsbrief schreiben, ihm diesen vorlesen und die Reaktion beobachten.
Um Neugier zu fördern, schlugen die Forscher verschiedene Aktivitäten vor, etwa, sich über die Küche eines anderen Landes zu informieren und ein Gericht nachzukochen. „Die Leute sollten etwas Neues kennenlernen und beobachten, ob es ihnen Spaß macht“, sagt Proyer. Die Männer und Frauen mit dem Stärketraining fühlten sich anschließend besser, waren heiterer. Wer auf Dauer freundlicher mit Nachbarn oder Kollegen umgeht, der bekomme eher positive Rückmeldungen und fühle sich besser, sagt Psychologe Proyer.
„Sie werden durch so ein Training nicht plötzlich von einem unglücklichen Menschen zu einem glücklichen“, sagt Prof. Michael Eid, Psychologe an der Freien Universität Berlin. Aber es gebe Effekte. Es sei möglich, durch solches Training das Wohlbefinden zu steigern.
aus der Beilage der Welt am Sonntag vom 28.10.2012
Europa verdankt den Griechen viele Mythen. So
den von Narziss, dem jungen Mann, der sich erst verlieben konnte, als er im
Wasser sein Spiegelbild sah. Narziss war so von sich eingenommen, dass er alle zurückwies,
die seine Zuneigung wünschten. Als eine Nymphe daher die Götter anrief, er möge
niemals glücklich sein, erhörte sie die Rachegöttin Nemesis und strafte Narziss
mit eiern Fluch der Selbstliebe.
Heute ist unsere Gesellschaft narzisstisch,
diagnostiziert der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz („Die narzisstische Gesellschaft, Ein
Psychogramm“, Verlag Beck, 2012): Sie lenkt sich ab mit Konsum, giert nach
Bewunderung und will eigenes Unglück nicht sehen.
Von einer narzisstischen Störung sprechen wir
Psychotherapeuten, wenn sich bei einem Menschen Streben nach Großartigkeit mit
Überempfindlichkeit gegenüber Kritik, Selbstbezogenheit und Mangel an Einfühlung in andere paart.
Bekommt ein Kind nicht die Anerkennung, die
es braucht, kann es keinen gesunden Narzissmus, kein Selbstwertgefühl entwickeln. Narzissten, meint Buchautor Maaz, haben Liebesmangel
erlebt und wollen an ihn nicht erinnert werden. Daher sperren sie sich zu
fühlen und haben Angst vor der Liebe. Sie wähnen sich großartig, größer, als sie
sind, oder auch klein und minderwertig.
Um ihr schwaches Selbstwertgefühl zu stärken,
streben Narzissten nach Perfektion. Sie versuchen, andere Menschen dazu zu bringen, sie zu bewundern, und durch
Erfolg, Schönheit, Macht die lebensnotwendige Aufmerksamkeit zu erlangen.
Gelingt ihnen dies, bringen sie es leicht zu großer Anerkennung, während die
innere Leere bleibt. US-Popstar Michael Jackson ist ein tragisches Beispiel.
Beschäftigt mit sich selbst, sieht der Narzisst die Mängel der anderen, nicht
die eigenen. Er entwertet andere Menschen und wertet sich selbst auf. Er
kritisiert, aber darf nicht kritisiert werden. „Die Kränkbarkeit ist die
Achillesferse der narzisstischen Störung“, schreibt Maaz. An Politikern
beobachtet er, dass sie Kränkungen abwehren, indem sie alles, was sie tun, zum
Erfolg erklären und andere Parteien abwerten.
Den frühen Mangel des Narzissten können
heilsame Beziehungen ausgleichen, zum Beispiel wenn,eine aufopfernde
Frau ihren narzisstischen Mann erträgt. Zur Therapie kommt dieser nur, wenn er
von seinem Gefühl von Grandiosität in eine Depression kippt oder wenn er
leidet, weil andere sich ihm entziehen.
Ein Narzisst hat es äußerst schwer, ehrlich
zu sich selbst sein. Denn dazu muss er seiner Wut und seinem Schmerz begegnen.
Und Milde und
Einfühlung gegenüber sich und anderen Menschen lernen.
Prof. Ulfried Geuter in der Beilage zur Welt am Sonntag
vom 28.10.2012 (auch hier zu finden: - Narziss oder die Angst vor der Liebe, Gesund-Magazin, 24.10.2012)
(3sat) delta vom 10.01.08: Narzissmus im Alltag
[5:13]
Veröffentlicht am 03.03.2012
Narcissistic Personality Disorder: A Portrait
[12:07]
Hochgeladen am 12.09.2011
Clinical psychologist Joseph Burgo uses film clips to illustrate the prominent symptoms of narcissistic personality disorder. Burgo is the author of THE NARCISSIST YOU KNOW: DEFENDING YOURSELF AGAINST EXTREME NARCISSISTS IN AN ALL-ABOUT-ME AGE.
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Die Symptomatik besteht weniger In klar umschriebenen und vom Patienten benennbaren Symptomen, sondern mehr in vagen Gefühlen innerer Leere, Depression, Sinnlosigkeit und in einer starken Kränkbarkeit und Schamanfälligkeit, also in schweren Selbstwertstörungen. Zur Unterscheidung von ähnlichen Klagen bei klassischen Neurosen bedarf es jedoch des Studiums der spezifischen Übertragungsunterschiede und der anders gelagerten Gegenübertragungsgefühle, die im Analytiker hervorgerufen werden. Leitseil der Diagnose ist also weniger die deskriptive Symptomatik, sondern die Beziehungsfähigkeit des Patienten.
Kohut sieht diese Störung in einem primären Defekt der Selbstentwicklung, der in eine Fixierung an das archaische Größen-Selbst des Kindes bzw. in eine Fixierung an die archaisch idealisierte Eltern- Imago (s. Kap. C. 1d) mündet. Diese blockierten, nach Kohut aber an sich normalen Entwicklungsstadien des primitiven Narzißmus werden entweder verdrängt (horizontale Spaltung) oder durch Verleugnung vom Real-Selbst abgetrennt (vertikale Spaltung). Größenphantasien können dann neben tiefen Minderwertigkeitsgefühlen als scheinbar getrennte Persönlichkeitsanteile nebeneinander bestehen bleiben, zwar bewußt, aber ohne Einsicht in deren Widersprüchlichkeit, sukzessiv erlebt, aber jedesmal mit Absolutheitscharakter. Um sich vor dem Umschlag der Größenphantasie in das Gefühl innerer Leere defensiv zu schützen, bedarf der narzißtisch Gestörte in seinem ständigen Nachholbedarf nach Spiegelung, Widerhall und narzißtischer Zufuhr ständig bewundernder Außenobjekte zur Hebung seines Selbstwertgefühls, deren er sich genau so »egozentrisch« bedient, wie hierzu oft suchtartig ein Gehabe von Pseudovitalität, sexuellem Agieren in Form von Promiskuität und Perversion oder der Gebrauch von Drogen eingesetzt wird, was jedoch nur kurzzeitig die Depression und Apathie zu lindern vermag. Weniger defensiv als kompensatorisch können besondere Begabungen und Fähigkeiten in wissenschaftlicher oder künstlerischer Kreativität und Produktivität entwickelt und eingesetzt werden, die eine sozial akzeptable Verarbeitung ermöglichen, der aber – da es sich um Kompensationen handelt – oft die dauerhafte Freude und echte Befriedigung abgeht. Kohut unterscheidet narzißtische Persönlichkeitsstörungen von narzißtischen Verhaltensstörungen: bei ersteren geschieht das defensive Verdecken mehr autoplastisch durch Phantasien (Hypochondrie, Depression, Überempfindlichkeit gegen Mißachtung), bei letzteren mehr alloplastisch durch promiskuöses und sadistisches Verhalten, Perversion, Straffälligkeit oder Sucht.
Kernberg sieht diese Struktur ebenfalls in einer Störung des Selbstwertgefühls begründet, die auf einem pathologischen Größen-Selbst beruht. In Abhebung von Kohut sieht er jedoch darin nicht einfach eine persistierende normale, aber blockierte Entwicklungsstufe des Kindes, sondern ein komplexes pathologisches Verschmelzungsprodukt zwischen Anteilen des Real-Selbst, des Ideal-Selbst und der Idealobjekte, das unter dem Einfluß dominierender, kalter, narzißtischer und zugleich überfürsorglicher Mütter entstanden ist, die oft ein begabtes Kind zu ihrem Eigenbesitz hochstilisiert haben, ohne es als Eigenwesen wirklich zu lieben. Das Gefühl, im Grunde ungeliebt zu sein, wird daher vom Kind abgewehrt durch die Überzeugung, etwas Besonderes zu sein mit der entsprechenden Sucht nach Größe und Bewunderung durch andere bei gleichzeitiger verächtlicher Entwertungstendenz anderen gegenüber. Im Grunde muß das Größen-Selbst vor allem die frühkindlichen Wut- und Neidgefühle in Schach halten, erfüllt also eine Abwehrfunktion gegen die Gefühle der Ohnmacht. Kernberg sieht also den pathologischen Narzißmus durchaus in Zusammenhang mit Triebfaktoren, als Abwehr gegen oral-aggressive Impulse und als ein durch Triebimpulse, z. B. unneutralisierte Aggression verformtes Phänomen (Fehlentwicklung), das nicht einfach dem kindlichen Narzißmus entspricht und nur anachronistischen Charakter hat (Entwicklungs-Blockade).
Daraus resultieren die beträchtlichen Störungen in den Objektbeziehungen: solche Menschen haben wenig Empathiefähigkeit für die Gefühle anderer, sind weitgehend liebesunfähig, mißtrauisch gegen Abhängigkeiten und im Verhalten oft ausbeuterisch und parasitär. Zu den von ihnen idealisierten Menschen besteht keine wirkliche Objektbeziehung: da diese nur als Erweiterung des Selbst erlebt und daher narzißtisch geliebt werden, also nur insoweit wichtig sind, als sie der Selbstliebe dienen, werden sie bei Enttäuschung fallen gelassen »wie eine heiße Kartoffel«. Die innere Formel solcher Menschen charakterisiert Kernberg so: »Ich brauche ja gar nicht zu fürchten, abgelehnt zu werden, weil ich meinem Idealbild so entspreche, wie ich es müßte, um von der Idealperson, an deren Liebe mir liegt, überhaupt geliebt werden zu können. Nein, diese ideale Person und mein eigenes Ideal und mein wirkliches Selbst sind ein und dasselbe; ich bin selbst mein Ideal, und damit bin ich viel besser als diese Idealperson, die mich hätte lieben sollen, und brauche niemanden.«
Im Gegensatz zu Borderline-Störungen, deren Selbst für eine stabile Übertragung nicht ausreicht, können narzißtische Störungen meist mit Psychoanalyse behandelt werden, da sie ein integriertes, wenn auch pathologisches Größen-Selbst ausgebildet haben. Kohut hat typische Übertragungsformen dieser Patienten beschrieben (narzißtische Übertragungen). Der Analytiker wird nicht wie bei den klassischen Neurosen als eigenständiges Gegenüber erlebt, sondern entweder über lange Zeit idealisiert (idealisierende Übertragung) oder als unabgegrenzter Teil des eigenen Selbst (Verschmelzungs- Übertragung), zumindest als wortlos seelenverwandt (Zwillings-Übertragung) oder als die gute Mutter der Kindheit (Spiegel-Übertragung) erlebt, jedoch als Eigenpersönlichkeit kaum wahrgenommen. Auch Kernberg betont die grundsätzliche Analysierbarkeit, sofern es sich nicht um eine narzißtische Persönlichkeit mit manifestem Borderline-Niveau handelt, für die dann eine modifizierte analytische Therapie in Kombination mit stützenden Verfahren notwendig wird.
aus Elhardt, Siegfried; Tiefenpsychologie, Eine Einführung, Urban Taschenbücher,
Die Sache mit der Überraschung Falls Sie planen, Ihre Frau mit einer Reise zu überraschen, sollten Sie sich das noch einmal gut überlegen. Zwar erwarten Frauen Spontaneität von Männern, aber die hört spätestens beim Urlaub auf. Eine neue Studie von British Airways hat ergeben: Die meisten britischen Frauen hassen solche Überraschungs-Trips – und das gilt wohl auch für Kontinentaleuropäerinnen. Die typische weibliche Reisende braucht demnach mindestens sieben Tage und elf Stunden Vorbereitungszeit für eine Reise – damit sie auch Zeit hat, dreimal einkaufen gehen zu können. Noch schlimmer: wenn der Mann auf die Idee kommt, heimlich für die Frau zu packen, damit die Überraschung perfekt ist. Das kann einfach nicht gut gehen. Denn, so die Studie, eine Frau braucht durchschnittlich neun komplette Reise-Outfits. Und eine Menge Schuhe. Aber das müssen Männer ja auch nicht verstehen.
Zen Meister Kenran Umeji und Karlfried Graf Dürckheim
Der Zen Meister tadelt Dürckheim wegen oberflächlichem Geschwätz.
Es war an
einem heißen Sommertag in Tokio, und ich erwartete Meister Kenran Umeji, meinen
Lehrer im Bogenschießen. Einige Wochen hatte ich für mich allein geübt und
freute mich darauf, dem Meister zu zeigen, daß ich meine Lektion gelernt hatte.
Ich war gespannt, welche Überraschung die heutige Stunde bringen würde; denn
jedesmal hatte es, wenn der Meister kam, eine Überraschung gegeben.
Das
Erlernen einer japanischen Kunst – handle es sich nun um das Bogenschießen oder
das Schwertfechten, das Blumenstecken oder Malen, das Schreiben der
Schriftzeichen oder die Kunst des Tees – ist voller Seltsamkeiten für Schüler
aus dem Westen. Wer zum Beispiel beim Bogenschießen meint, es käme aufs Treffen
an, ist in einem Irrtum befangen. Worauf soll es denn sonst ankommen? Nun – darüber
sollte ich heute wiederum sehr eindringlich belehrt werden.
Der Meister
erschien zur verabredeten Stunde – ein kurzes Gespräch bei einer Tasse Tee, und
dann ging es in den Garten, wo die Scheibe stand. Mit dieser Scheibe war die
erste Überraschung verknüpft, die ich gleich zu Beginn mit dem Bogenschießen
erfahren hatte: Es war ein Strohbündel von etwa 80 cm Durchmesser, in Augenhöhe
auf ein Holzgestell gelegt, und man kann sich vorstellen, daß ich nicht wenig
verwundert war, als ich hörte, daß der Schüler im Bogenschießen erst einmal
drei Jahre an dieser Scheibe zu Üben hat und zwar auf eine Entfernung von drei
Metern! Drei Jahre auf drei Meter Entfernung auf ein Strohbündel von 80 cm
Durchmesser schießen? Wird das nicht langweilig? Nein, im Gegenteil! Es wird,
je mehr man in den Sinn der Übung eindringt, von Tag zu Tag aufregender; denn
es kommt gar nicht aufs Treffen an – sondern auf die innere Haltung und durch
sie auf das Voranschreiten auf dem inneren Weg.
Ich trete
also an. Der Meister steht vor mir. Ich verbeuge mich, wie es die Sitte
gebietet, erst vor dem Meister, dann, mit einer Linksbewegung, vor der Scheibe,
nehme wieder Front zum Meister hin und vollziehe ruhig die ersten Bewegungen.
In gelassenem Fluß muß eine Bewegung aus der anderen hervorgehen. Ich stelle
den Bogen aufs linke Knie, nehme den einen der beiden gegen das rechte Knie
gelehnten Pfeile auf, lege ihn auf die Sehne; die linke Hand hält ihn zugleich
mit dem Bogen fest, und dann geht die rechte langsam in die Höhe, um – während
der Atem voll ausfließt – wieder niederzukommen. Die Hand greift in die Sehne,
und dann wird – langsam einatmend – endlich im Heben der Bogen allmählich
gespannt. Das ist die entscheidende Bewegung, die so still und stetig geschehen
muß, wie der Mond am abendlichen Himmel aufsteigt. Noch habe ich nicht die
volle Höhe erreicht, bei der dann der im voll ausgespannten Bogen liegende
Pfeil Ohr und Wange berührt – da durchfährt mich die Orgelstimme des Meisters:
»Halt!« Erstaunt und etwas unmutig Über diese Unterbrechung im Augenblick
höchster Sammlung lasse ich den Bogen herab. Der Meister nimmt ihn mir aus der
Hand, schlägt die Sehne einmal um die Bogenspitze herum und reicht ihn mir
lächelnd zurück. »Bitte, noch mal!« Ahnungslos beginne ich aufs neue. – Die
gleiche Bewegungsfolge läuft ab. Doch als es zum Spannen kommt, ist meine Kunst
schnell am Ende. Der Bogen hat die doppelte Spannung erhalten, und meine
Kraft reicht nicht mehr aus. Die Arme beginnen zu zittern, ich schwanke ohne
Halt hin und her, die mühsam gewonnene Form ist zerschlagen; – der Meister aber
fängt an zu lachen! Verzweifelt bemühe ich mich noch einmal. Es ist
aussichtslos. Nichts als ein klägliches Scheitern –
Ich mag
wohl recht ärgerlich dreingeschaut haben, denn der Meister fragt mich: »Worüber
sind Sie denn böse?« –
»Worüber?
Sie fragen mich noch? Wochenlang habe
ich geübt und in dem Augenblick, in dem es darauf ankommt, unterbrechen Sie mich,
noch ehe ich geschossen!« Der Meister lacht noch einmal hell auf; dann wird er
ernst und sagt etwa dieses: »Was wollen Sie eigentlich? Daß Sie die Form
erreicht hatten, die zu erringen in diesen Wochen Ihre Aufgabe war, erkannte
ich schon an der Weise, wie Sie mir die Haustür öffneten. Aber so ist das: Wenn
der Mensch eine Form seiner selbst, seines Lebens, seines Wissens oder seines
Werkes erreicht hat, um die er sich vielleicht lange bemühte, dann kann ihm nur
ein Unglück geschehen: daß ihm das Schicksal erlaubt, im Erreichten stehenzubleiben
und sich darin festzusetzen! Will das Schicksal ihm wohl, dann schlägt es
ihm das Gewordene, ehe es sich verhärtet, wieder aus der Hand. Dieses in der Übung
zu tun, ist Sache des wissenden Lehrers. Denn worauf kommt es denn an? Doch
nicht aufs Treffen! Beim Bogenschießen, sowenig wie beim Erlernen irgendeiner
anderen Kunst, geht es letzten Endes nicht um das, was herauskommt, sondern um
das, was herein kommt! Herein, d. h. in den Menschen herein. Auch das Sich-Üben
im Dienst an einer äußeren Leistung dient über sie hinaus dem Werden des
inneren Menschen. Und was gefährdet dies innere Werden des Menschen vor allem?
Das Stehenbleiben
im Gewordenen! Im Zunehmen bleiben muß der Mensch, im Zunehmen
bleiben ohne Ende!«
Die Stimme
des Meisters war ernst und eindringlich geworden – und in der Tat, dies
Bogenschießen ist etwas ganz anderes als ein vergnüglicher Sport, in dem man
miteinander im Treffen wetteifert. Es ist eine Lebensschule – oder, um einen
modernen Ausdruck zu gebrauchen, eine existentielle Praxis.
Anfangs
geht es natürlich stets darum, die äußere Technik zu lernen. Doch beherrscht
man dann endlich die äußere Form, dann fängt die eigentliche Arbeit erst an,
die unermüdliche Arbeit an sich selbst! Auch die Kunst des Bogenschießens ist
dann wie jede andere Kunst nur eine Gelegenheit, in die Tiefe des eigenen
Wesens zu dringen. Das aber gelingt nur auf dem harten Weg der Läuterung, d. h.
der Befreiung vom eitlen und ehrgeizigen Ich, das gerade dadurch, daß es so
sehr um das Gelingen der äußeren Leistung besorgt ist, die Vollkommenheit
dieser Leistung gefährdet. Erst wenn dieses Ich Überwunden ist, kann die rechte
Leistung gelingen. Dann aber gelingt sie nicht mehr auf Grund eines vom
ehrgeizigen Willen gesteuerten Könnens, sondern auf Grund eines neuen
inneren Seins. Die gelungene Leistung ist dann der Erfolg einer
Verfassung, in der eine tiefere, man kann sagen übernatürliche Kraft frei wird,
die nun gleichsam ohne unser Zutun die vollkommene Leistung vollbringt. Und
diese Verfassung, nicht die Leistung als solche, ist der Sinn der
Exerzitienpraxis des Zen. In seiner Verfassung bezeugt der Mensch, inwieweit er
in seiner kleinmenschlichen Wirklichkeit durchlässig geworden ist für
die Wirklichkeit eines größeren Lebens. Je nach der Reinheit seiner Verfassung
kann dieses durch ihn hindurch offenbar werden in der Welt – unter anderem auch
in einer vollkommenen Leistung.
Ronald Laing gehört zu den namhaftesten Vertretern
der sogenannten Antipsychiatrie. Er hat sich viel mit Schizophrenieforschung,
Kommunikations- und Interaktionstheorie beschäftigt. Aus der Philosophie
übernahm er vor allem phänomenologische, personalistische und
existentialistische Konzepte; Martin Buber, Jean-Paul Sartre, Ludwig Binswanger
und manche andere haben ihn tiefgreifend beeinflußt. Laings Rebellion gegen die
orthodoxe Psychiatrie ist im Grunde ein Aufstand der modernen Philosophie gegen
den naturwissenschaftlichen Dogmatismus der Psychiater und der
Psychoanalytiker. Laing ist durch seine neue Weise, die Probleme der Geisteskrankheit
zu interpretieren, berühmt geworden.
Er wurde am 7. 10. 1927 als Einzelkind in Glasgow
(Schottland) geboren. Seine Eltern entstammten dem unteren Mittelstand; beide
waren recht problematische Persönlichkeiten. So hatte Laing eine schwierige
Kindheit und Jugend, die ihn darauf vorbereiteten, sich später in komplizierte
Menschenseelen einzufühlen. Er litt in seinen Jugendjahren unter der
väterlichen Autorität, unter der Prüderie beider Eltern und unter seiner
Isolierung bezüglich sozialer Beziehungen. Aus irgendwe1chen Gründen ließen ihn
die Eltern nicht mit anderen Kindern spielen; so war er auf sich selbst
verwiesen und baute sich eine eigentümliche Phantasiewelt auf.
Schon in der Pubertät hatte er den Wunsch, Psychologie,
Philosophie und Theologie zu studieren. Aber er entschied sich dann doch für
ein Medizinstudium, das er in Glasgow absolvierte. Bald konzentrierte sich sein
Interesse auf die Psychiatrie, weil er das Gefühl hatte, dort den eigentlichen
Problemen des Menschen zu begegnen: Laing wurde hauptberuflich zum Psychiater.
Von 1951 bis 1953 war er Armeepsychiater, darauf
Anstaltsarzt in einer staatlichen Nervenklinik in Glasgow. Seit 1956 war er
Ausbildungskandidat am Britischen Institut für Psychoanalyse in London. Als
Lehranalytiker fungierten bei ihm Charles Rycroft und D. W. Winnicott, also
prominente psychoanalytische Autoren. Aber Laing scheint bereits früh
Vorbehalte gegen das Freudsche Gedankensystem gehabt zu haben; er las unter
anderem Sartre, und der Existentialismus und die Psychoanalyse lassen sich
nicht leicht auf einen Nenner bringen.
Weitere Anregungen empfing Laing an der Tavistock-Klinik in
London. Dort befaßte er sich mit Familienforschung, aber auch mit dem
Schizophrenieproblem.
Er publizierte 1960/61 die beiden Bücher Das geteilte Selbst und Das Selbst und die Anderen; beide Texte
bilden zusammen eine Einheit. Sie enthalten im wesentlichen Laings
Schizophrenietheorie, eine Deskription der menschlichen Phantasie und eine
phänomenologische Analyse des menschlichen In-der-Welt-Seins. Diese beiden
Bücher sind der Grundstein, über dem sich Laings übriges Schrifttum erhebt.
Er war in den folgenden Jahren literarisch sehr produktiv.
Mit seinen Kollegen A. Esterson publizierte er 1964 den Band Wahnsinn und Familie. Mit David Cooper
veröffentlichte er den Essayband Vernunft
und Gewalt. Drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950-1960 (1964), worin
u. a. Sartres zweites Hauptwerk Kritik
der dialektischen Vernunft eingehend gewürdigt wird. Kein Zweifel, Laing
ist ein genauer Kenner des Sartreschen Denkens, was der französische Philosoph
in seiner Einleitung zum genannten Text ausdrücklich bestätigt.
Um seine psychiatrischen Thesen zu verifizieren, gründete
Laing mit einigen Kollegen die sogenannte „Philadelphia Association”, die in
London einige Wohngemeinschaften schuf, in denen Ärzte und Schizophrene
zusammenwohnten.
1967 publizierte Laing sein Büchlein Phänomenologie der Erfahrung, worin er wiederum den Gesichtspunkt
einer personalistischen Psychiatrie leidenschaftlich vertritt. Er betont im
Anschluß an Martin Buber den ungeheuren Unterschied zwischen einer Ich-Du- und
Ich-Es-Beziehung; man kann und darf Personen nicht wie Dinge behandeln, und
gerade das ist das Erbübel der offiziellen Psychiatrie und Psychoanalyse.
1970 reiste Laing in den Fernen Osten, um sich dort mit
Meditation, Zen-Buddhismus und Yoga zu befassen. Er hatte offenbar eine
Vorliebe für das mystische Denken, vielleicht sogar für den Okkultismus.
Seit 1972 hatte er eine psychotherapeutische Praxis in
London. Aber so manche Reisen führten ihn in die USA, wo er Vorträge hielt und
Seminare veranstaltete. Seine Bücher wurden und werden viel beachtet und in
zahlreiche Sprachen übersetzt.
Aber Laing ist nicht nur der Verfasser von
wissenschaftlichen Texten, sondern auch Autor von quasi dichterischen
Mitteilungen, die stenogrammartig Lebensprobleme mehr andeuten als erklären. In
diesem Zusammenhang sind etwa Veröffentlichungen wie Knoten (1970), Die Tatsachen
des Lebens (1976) und Liebst du mich?
(1976) sowie auch Gespräche mit meinen
Kindern (1987) zu nennen.
Laing stand nicht allein, sondern war umgeben von einem Team
aus „Anti-Psychiatern”, unter denen etwa D. Cooper, A. Esterson, H. Philipson
und A. R. Lee bekannt geworden sind. Aber er selbst war der unermüdlichste Vorkämpfer
in dieser Gruppe; kürzlich hatte er noch die beiden Bücher Weisheit, Wahnsinn, Torheit – Werdegang eines Psychiaters
(1985) und Die Stimme der Erfahrung
(1982) publiziert.
Ronald Laing starb am 24. August 1989 in Saint-Tropez.
Das
geteilte Selbst
Laing
eröffnet seinen Angriff auf die Kraepelin-Bleulersche Tradition in der
Psychiatrie mit diesem Buch, das er eine „Studie über schizoide und
schizophrene Personen” nennt. Unter dem Begriff „Schizophrenie” versteht man
eine Geisteskrankheit, die ca. ein Prozent der Bevölkerung befällt; in den
psychiatrischen Kliniken stellen solche Patienten meistens die Mehrheit dar.
„Schizoid” heißt eine milde Vorstufe dieser schweren Erkrankung, die aber noch
durchaus zum Bereich des „Normalen” gezählt wird. Schizoide Menschen sind
gehemmt, distanziert, gefühlskarg, eigenwillig, sonderlingshaft, steif usw.
Die Psychiatrie sah
zunächst im schizophrenen Kranksein einen rein organischen Prozeß. Emil
Kraepelin sprach um die Jahrhundertwende von „Dementia praecox” und visierte
damit eine „vorzeitige Verblödung” an, also einen verfrüht einsetzenden
Altersprozeß des Gehirns, dessen Leistungsfähigkeit reduziert wird. Eugen
Bleuler, der Züricher Psychiater, veröffentlichte 1911 ein umfangreiches Buch
unter dem Titel Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Darin
verweist er auf das uneinheitliche Bild dieser Krankheit; es ist eine Gruppe
von Störungen, bei denen die Persönlichkeit des Kranken als gespalten anmutet.
Dabei ist der Denkprozeß empfindlich gestört; es treten oft Wahnideen,
merkwürdiger Sprachgebrauch usw. auf. Auch ist der Patient nicht selten
räumlich und zeitlich desorientiert. Schon vor diesen beiden Forschern haben
andere Psychiater als Unterformen des schizophrenen Krankheitskreises die
Paranoia (Verfolgungswahn), die Hebephrenie (Irresein im Jugendalter) und die
Katatonie (Spannungsirresein) beschrieben, ohne eine Erklärung für den
Gesamtzustand zu finden.
Auch die
Psychoanalyse bemächtigte sich dieses Themas. Freud, Jung u. a. haben
interessante Gedanken hierzu geäußert. Dabei verlagerte sich der Schwerpunkt
der Überlegungen vom Somatischen auf das Psychische; es entstand die Vermutung,
daß Geisteskrankheiten unter Umständen ebenso sehr „erlebnisbedingt” sein
könnten wie die Neurosen. In diesem Falle wäre die Psychose nichts anderes als
eine massivere Neurose. Und dennoch gibt es einen qualitativen Unterschied: Der
Neurotiker hat immer noch ein teilweise intaktes Ich und kann sich in seiner
Umwelt behaupten. Beim Psychotiker scheint dies oft nicht mehr so zu sein. Sein
Ich geht offenbar in gewaltigen Ängsten und Erschütterungen der Persönlichkeit
unter; es bleibt ein Rest-Ich, das allerdings in den Zwischenphasen der
meistens chronischen Krankheit wieder mehr oder minder intakt wird.
Aber das „somatische
Vorurteil” der Psychiater ist trotz der faszinierenden Untersuchungen der
Psychoanalytiker beibehalten worden: Sie suchen heute noch nach genetischen
Zusammenhängen (Erbsubstanz), nach Stoffwechselanomalien und nach
organismuseigenen Toxinen (Giften), die sie als „Krankheitsursache” festmachen
wollen. Sie haben aber bis zum heutigen Tag nichts Überzeugendes gefunden.
Daher ist es nicht unwahrscheinlich, daß die „psychogene Erklärung” der
Psychosen den richtigen Weg der Forschung darstellt. Es mag irgendwelches „somatisches
Entgegenkommen” beim Entstehen der Schizophrenie geben; aber die
Hauptereignisse spielen sich vermutlich bei der Sozialisierung im frühesten
Kindesalter ab und bei der späteren Werdensgeschichte der Persönlichkeit. Die
Psychiater bestreiten das, weil sie von der „Uneinfühlbarkeit des schizophrenen
Krankheitsgeschehens” reden; aber Laing und andere sind der Meinung, daß die
Ursache des Nicht-Verstehen-Könnens eher beim Psychiater als bei seinem
Patienten liegt.
Ein schizophrener
Mensch verängstigt sein Gegenüber, weil er durch seinen Wahn aus den Grenzen
der menschlichen „Normalwelt” herausgetreten ist. Nach Laing haben nun die
Psychiater ein Vokabular, eine Behandlungs- und Diagnosetechnik entwickelt, die
diese Angst niederhalten und in Überlegenheit verwandeln soll. Das ganze
psychiatrische Vorgehen gegenüber dem Wahnkranken ist eine Technik der „Diskriminierung”,
ja sogar oft der Verunglimpfung und Beleidigung. Jedenfalls soll dem Kranken
das „Recht auf Personalität” verweigert werden. Man sieht ihn als Maschine, als
gestörten Organismus, als defekte Psyche, nicht aber als „Person” an. Diese
geheime Entwertungstendenz hat nach Laing – die Kooperation von Psychiatern und
Psychotikern seit jeher verunmöglicht. Die Folge davon ist die angebliche „Unheilbarkeit
der Schizophrenie”, die eher ein Versagen der Psychiatrie als eine Eigenschaft dieses Krankseins ist. Denn der
Schizophrene ist ein zutiefst Beziehungsgestörter, und wenn ihm der Arzt keine
echte menschliche Beziehung anbietet, dann kann er nicht gesunden.
Auch
die psychoanalytische Theorie, die große Fortschritte im Verstehen und
Behandeln der Psychose mit sich brachte, leidet nach Laing an erheblichen
Mängeln; sie „verdinglicht” ihre Befunde am Kranken, verweigert ihm die
Personalität und schafft lebensfremde Konstrukte, die sich störend zwischen den
Therapeuten und den Patienten stellen. Es fehlt uns noch eine personalistische
Lehre vom Gemütskranken, auf der sich eine zielsichere Therapie gründen kann.
Eine solche wird davon ausgehen, daß Schizophrene „Menschen wie wir selbst”
sind; und nur aus dieser Solidarität kann „Verstehen” in Gang gebracht werden –
alles andere ist „Reden über eine Sache”, die man prinzipiell verfehlt hat.
Verstehen
einer Psychose bedeutet: Das In-der-Welt-Sein des Patienten so nachzuempfinden,
wie er es fühlt und selbst
interpretiert. Zu diesem Zwecke muß man mit unsäglicher Offenheit dem Kranken
gegenübertreten; man muß seine verschlüsselten Botschaften hören und sie nicht
voreilig als „Unsinn” abtun. Dabei wird man erkennen, daß das allfällige
Gedankenchaos beim Schizophrenen sehr wohl geordnet werden kann – wie man ja
auch bei Träumen, bei „freien Assoziationen” usw. durch geduldige Einfühlung
oft einen Sinn ermitteln kann, der auf den ersten Blick nicht zu sehen war.
So
kann etwa ein Schizophrener sagen, „er sei aus Glas”; logisch ist das abwegig,
aber als Symbolsprache kann es bedeuten, daß er Angst davor hat, durchschaut zu
werden und daß er sich als „zerbrechlich” empfindet. Wenn wir ihm dieses
Verständnis seiner Worte vermitteln, dann befreien wir ihn aus seiner
sprachlichen und emotionalen Vereinsamung und tragen zu seiner Genesung bei.
Laing
äußert in seinem Buch über den Schizophrenen und das notwendige Vorgehen ihm
gegenüber (1960, dt. 1972, S. 46):
Der Schizophrene ist ein
Mensch ohne Hoffnung. Ich habe niemals einen Schizophrenen gekannt, der sagen
konnte, daß er geliebt wurde, als ein Mensch, von Gott dem Vater oder von der
Mutter Gottes oder von einem anderen Menschen. Er ist entweder Gott oder der
Teufel oder in der Hölle gottentfremdet. Wenn jemand sagt, er sei ein
unwirklicher Mensch oder er sei tot, mit aller Wahrhaftigkeit in radikaler Form
die nackte Wahrheit seiner Existenz, wie er sie erfährt, ausdrückend, ist das –
Verrücktheit. Was wird von uns gefordert? Ihn zu verstehen? Der innerste Kern
der Erfahrung des Schizophrenen von sich selbst muß für uns unbegreiflich
bleiben. Solange wir gesund sind und er verrückt ist, wird das so bleiben. Aber
Verständnis als ein Bemühen, ihn zu erreichen und zu fassen, während wir in
unserer eigenen Welt bleiben und ihn mit unseren eigenen Kategorien beurteilen,
wodurch er unvermeidlich zu kurz kommt, das ist es nicht, was der Schizophrene
wünscht oder nötig hat. Wir müssen die ganze Zeit seine Eigenheit und
Verschiedenartigkeit, sein Getrenntsein, seine Einsamkeit und
Hoffnungslosigkeit erkennen.
Einer der
Hauptbefunde am Schizophrenen ist nach Laing seine „ontologische Unsicherheit”.
Seit jeher ist an schizoiden und schizophrenen Menschen die Schüchternheit und
Gehemmtheit aufgefallen; man sprach von „unsicheren Menschen”. Wenn Laing noch
das Adjektiv „ontologisch” beifügt, dann will er akzentuieren, daß die
Unsicherheit solcher Patienten nicht nur ihr „Inneres” betrifft, sondern auch
ihr „Sein in der Welt”. Sie haben kein sicheres Realitätsbewußtsein, kein
Gefühl für die Verläßlichkeit von Dingen und Menschen. Ihre Welt als Ganzes ist
wacklig, und daraus resultiert ihre übertriebene Vorsicht, Umständlichkeit und „Abstandhaltung”.
Schon
Alfred Adler und Fritz Künkel sprachen davon, daß die Erziehung in der
Frühkindheit dem Kinde ein „Urvertrauen” einpflanzen muß. Wird derlei versäumt,
dann wächst ein Mensch heran, in dem die „Mitmenschlichkeit” nur verkümmert zum
Tragen kommt. Er fühlt einen weiten Abstand zwischen sich selbst und den
anderen. Darum entwickeln sich unter Umständen auch sein Sprachverhalten, sein
Benehmen, seine Denkweise und sein Selbstverhältnis nur unter
Beeinträchtigungen; die Welt wird für derartige Individualitäten irgendwie „irreal”.
Sie haben eine „niedrige Sicherheitsschwelle” , weil sie immer um ihr Ich
bangen müssen. Viele Ereignisse, die für „Durchschnittsmenschen” völlig harmlos
sind, können für sie umwerfend und „vernichtend” sein. Darum neigen sie zur Isolation
und Kontaktscheu; sie erleben ihre Umwelt meistens als. sehr bedrohlich.
Laing
erwähnt drei große Gefahrenquellen, vor denen sich der „Schizoide” andauernd
schützen zu müssen glaubt: 1. Das Verschlungenwerden; 2. Die Implosion; 3. Die
Petrifikation und Depersonalisation.
Ad
1: Edmund Husserl sagte bei Gelegenheit: „Die Dinge stehen nebeneinander im
Raum, aber die Seelen der Menschen liegen ineinander.” Damit wollte der
Philosoph darauf hinweisen, daß es keine „Trennwände” in der menschlichen
Interaktion gibt. Wenn zwei Menschen in einer engen Beziehung stehen, dann
strömen die Gefühle des einen unweigerlich ins Gemüt des anderen; es entsteht
eine Zwei-Einheit, eine Dualunion. Das kann zum Beispiel in einer schönen
Liebesbeziehung beseligend sein; aber es enthält auch eine Gefahr, für die vor
allem schizoide und schizophrene Menschen äußerst sensibel sind.
Um
dieser Gefährdung zu entrinnen, wollen solche Charaktere unter Umständen weder
geliebt noch verstanden werden. Denn schon das Verstehen bringt eine
wechselseitige Annäherung zustande, die sie nicht zu ertragen vermögen. Das
erklärt eventuell die Unverständlichkeit vieler schizophrener
Sprachmodalitäten; manche Patienten entwickeln sogar eine regelrechte “Kunstsprache”,
die niemand begreift. Nach Laing verursacht diese Konstellation auch die
bekannte “negative therapeutische Reaktion” in psychoanalytischen Behandlungen.
Freud führte diese unberechtigterweise auf einen (metaphysischen) Todestrieb
zurück, als ob schwerkranke Analysanden aus Todeswünschen heraus nicht zur
Heilung zu bringen seien. Aber in Wirklichkeit ist es vielleicht nur die Angst
vor dem Leben und der Liebe, die die „negative therapeutische Reaktion”
hervorbringt.
Schizoide
Menschen lieben das Alleinsein mehr als den Sozialkontakt, eben weil sie nicht
verschlungen werden wollen. In ihrer Therapie muß man stets sehr schonend und
langsam vorgehen, um sie nicht in ihren Schlupfwinkel zurückzujagen. Sie
träumen oft auch von Untergang, Zerstörung, Festgehaltenwerden, Versinken in
Morästen und Feuersbrünsten.
Ad
2: Implosion ist das Gegenteil von Explosion – es besagt das „Hineinstürzen”
der Welt in das Ich, das sich unfähig fühlt, den Andrang der Menschen und
Ereignisse von sich fernzuhalten. Hierüber schreibt Laing (S. 55):
Das ist das stärkste Wort,
das ich für die extreme Form dessen, was Winnicott das „Eindringen” der
Realität nannte, finden kann. Eindringen vermittelt allerdings nicht den ganzen
Schrecken, die Welt als etwas zu erfahren, das jeden Moment einstürzen kann und
jede Identität vernichtet wie Gas, das in ein Vakuum einströmt. Das Individuum
fühlt, daß es leer ist wie das Vakuum. Aber diese Leere ist es selbst. Obwohl
es andererseits ersehnt, daß diese Leere gefüllt werde, fürchtet es die
Möglichkeit, daß dies passieren könnte, weil es zu fühlen begonnen hat, daß
alles, was es je sein kann, dieses fürchterliche Nichts eben dieses Vakuums
ist. Jeder „Kontakt” mit Realität an sich wird dann erfahren als eine
furchtbare Drohung, weil Realität, wie sie von dieser Position aus erfahren
wird, notwendigerweise implosiv ist und so, wie es das Bezogensein für das
Verschlungenwerden ist, in sich selbst eine Bedrohung der Identität ist, die
das Individuum fähig ist, als die seine zu akzeptieren. Realität
als solche, Verschlungenwerden oder Implosion androhend, ist der Verfolger.
Ad 3: Petrifikation
oder Versteinerung ist ein Zustand, der bei übergroßen Schreckerlebllissen
eintritt. Sie kann aber auch durch langsame Prozesse zustande kommen, in denen kontinuierliche
Ängste und Frustrationen die entscheidende Rolle spielen. Die Petrifikation ist
gewissermaßen eine (pathologische) Schutzvorkehrung gegen die gefürchtete
Implosion. Des weiteren ist sie die Konsequenz einer langwierigen emotionalen
Abschirmung; nur das Miteinandersein der Menschen (ihr Austausch, ihre
Auseinandersetzung) erhält lebendig. Auch die Depersonalisation kann von außen
wie auch von innen bewirkt werden. Man verliert die Personalität, wenn andere
uns „wie ein Ding” behandeln; man kann sich aber auch selbst „depersonalisieren”,
indem man sich verhärtet, absolut setzt und das „Mitmenschsein aufgibt”. Es
besteht hier eine Dialektik zwischen Fremdwirkung und Selbstgestaltung.
Theorie des pathologischen Selbst
Wenn der Mensch seelisch intakt ist, dann fühlt er sich in der Welt, in
sich selbst und in seinem Leib sicher. Ist er aber seelisch angekränkelt, dann
werden wir erwarten dürfen, daß er in allen drei genannten „Instanzen” nicht zu
Hause ist. Es fragt sich nun, wie er bei gestörtem Welt-, Selbst- und
Leibverhältnis weiterleben soll.
Zunächst wird die Einheit
dieser Trias aufgegeben. Der verängstigte Mensch zieht sich auf „das Geistige”
zurück; er gibt Teile der Welt auf und löst sich – so weit er das kann – von
seinem Körper ab. Er betrachtet diesen letzteren als Störfaktor – „ein
Erdenrest, zu tragen peinlich”. Am liebsten würde er unverkörpert existieren.
Das zieht eine ganze Reihe von weiteren Symptomen nach sich, etwa Eßstörungen,
Verdauungsanomalien, Sexualkomplikationen, Abneigung gegen gewisse
Körpereigenschaften, das Gefühl, häßlich zu sein usw. Auch die Pflege und
Förderung des Leiblichen wird reduziert. Unter Umständen stellt sich eine
psychosomatische Erkrankung ein, weil nur der “akzeptierte Leib” (von direkten
Fremdwirkungen abgesehen) sich gesund erhalten kann.
Das Fremdwort für das „Im-Leibe-wohnen”
heißt „Inkarnation”.
Nach Laing sind viele
Menschen nur teilweise inkarniert, und in Streßsituationen oder im Unglück
geben sie die Inkarnation auf, weil sie im „geistigen Bei-sich-selbst-Sein”
eine Zuflucht zu finden meinen. Das erklärt wohl den Körperhaß in fast allen
Religionen und die Askese und Selbsttorturierung bei Heiligen und Frömmlern. Es
müssen sehr unsichere und neurotische Charaktere gewesen sein, die ihre Liebe
zu Gott durch Hungern, Selbstentmannung und tausenderlei Körperquälereien
bezeugt haben.
Da die Sexualität eine der
eindrücklichsten Inkarnationsformen des
Selbst darstellt, müssen
wir annehmen, daß sie bei psychischen Erkrankungen fast immer „mitgestört” ist.
Im Lichte dieser These bekommt der Freudsche „Pansexualismus” doch eine gewisse
Rechtfertigung. Indem Freud die Sexualität fast zum Mittelpunkt des
Seelenlebens machte, anerkannte er sozusagen die fundamentale Tatsache, daß
sich Gesund- und Kranksein der Psyche unweigerlich auch im Sexualverhalten
dokumentiert.
Man muß jedoch nicht
glauben, daß jedes „verkörperte Selbst” auch per se schon den „Gesundheitsausweis
in der Tasche” trägt. Aber das unverkörperte Selbst ist für die Pathologie
besonders anfällig. Es hat nach Laing drei Hauptaspekte (S. 84):
Es wird hyperbewußt;
Es versucht, sich seine
eigene Imago zu postulieren, das heißt, es identifiziert sich mit der
(irrealen) Vorstellung, die es sich von sich selbst macht;
Es entwickelt eine sehr
komplexe Beziehung zu sich selbst und zu seinem Körper.
Es ist das Machtbedürfnis
des Schwachen, welches die Inkarnation des Selbst zu vermeiden sucht. Aber
manchmal ist die „Abwehrbewegung” fast noch schlimmer als das, was abgewehrt
wird; nach Laing destruiert sich das Selbst immer, wenn es die Beziehung zu
Welt und Leib erheblich vermindert. So sagt er (S. 94):
Wir schlagen darum vor, daß der schizoide Zustand, den wir
beschreiben, als ein Versuch verstanden werden kann, ein Sein zu erhalten, das
unsicher strukturiert ist. Wir werden später vorschlagen, daß die erste
Strukturierung des Seins in seine Grundelemente in der frühen Kindheit
stattfindet. Unter normalen Verhältnissen werden diese Grundelemente (zum
Beispiel Kontinuität in der Zeit, Unterscheidung zwischen Selbst und
Nicht-Selbst, Phantasie und Realität) so definitiv stabil angelegt, daß man
darum als gegeben annehmen kann: Auf dieser stabilen Grundlage kann in dem, was
wir den “Charakter” einer Person nennen, eine beträchtliche Menge an
Plastizität existieren. In der schizoiden Charakterstruktur dagegen finden wir
eine unsichere Grundlegung und eine kompensatorische Rigidität im Überbau. Wenn das ganze Sein des Individuums nicht verteidigt werden
kann, verlegt das Individuum seine Verteidigungslinie so lange zurück, bis es
sich in eine zentrale Zitadelle zurückzieht. Es ist darauf vorbereitet, alles
abzuschreiben, was es ist, nur nicht sein „Selbst”. Aber das tragische
Paradoxon besteht darin, daß das Selbst, je mehr es auf diese Art verteidigt
wird, desto mehr zerstört wird. Die sichtbar erfolgende Zerstörung und
Auflösung des Selbst in schizophrene Konditionen erfolgt nicht durch extern ale
Angriffe des Feindes (tatsächlich oder vermutet) von außen, sondern durch die Verwüstung,
die durch die inneren defensiven Manöver selbst verursacht wurde.
Ist das Selbst aus
seinem Leib „in sich selbst” zurückgeflüchtet, dann erlebt es oft die Umwelt
wie einen Traum, einen Alptraum, etwas Unwirkliches und Unbegreifliches.
Meistens fangen Psychosen mit solchen „Derealisationserfahrungen” an; aber auch
im Normalleben gibt es Derartiges, wenn wir uns extrem unsicher und verloren
vorkommen. Man opfert lieber den Leib und die Welt, als den Rest von
Sicherheitsgefühl aufzugeben.
Aber die Sehnsucht nach der Wirklichkeit bleibt, und an sie kann jeder
Heilungsversuch bei schweren Neurosen und Psychosen anknüpfen. Niemand kann
sich ohne weiteres mit dem Zustand der „Einkapselung” (Sartre) oder der „Verschlossenheit”
(Kierkegaard) abfinden. Der Mensch will transzendieren, das heißt sein
In-der-Welt-Sein verteidigen und ausweiten. Nur in der äußersten Not bezieht er
die einsame Zitadelle seines abgeschirmten Selbst, wo er das Unmögliche
versuchen will, nämlich: autonom und autark zu leben. Aber, wie ein englischer
Autor sagte: „Kein Mensch ist eine Insel für sich allein.”
Der Aufbau eines falschen (körperlosen), phantastischen Selbst verändert
grundlegend die gesamte Wirklichkeitserfahrung: diese wird auch phantastisch
und irreal. Der davon betroffene Mensch hat andere Wahrnehmungen, Gefühle,
Gedanken und Phantasien als ein Mensch, der in der Inkarnation lebt. Alles, was
er tut oder sagt oder sich vorstellt, hat einen geringeren
Wirklichkeitskoeffizienten als beim „Normalen”. Er zappelt in seinen Fiktionen,
die ihm die Realität ersetzen.
Weltlosigkeit, Autismus und Narzißmus sind fast identische Begriffe. Sie
alle stellen Hypertrophien des Verteidigungszustandes im Selbst dar, erzwungen
aus ontologischer Unsicherheit und einem daraus resultierenden zugespitzten
Sicherheitsbedürfnis. Aber es ist schwer erträglich, überwiegend in der
Phantasie zu leben und die „Welt der Handlungen” zu vermeiden. Denn nur in
dieser kommt es zu Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit; ein
phantastisches Selbst stagniert oder regrediert auf noch kümmerlichere
Zustände.
Man kann hier aber auch von einer „Pathologie der Freiheit” sprechen. Wer
handelt, wird unfrei – er schreibt seine Individualität in den Gang der Dinge
ein, und jede Entscheidung für irgend eine Möglichkeit reduziert die anderen
Möglichkeiten des Verhaltens. Wer aber phantasierend in seinem Selbst verharrt,
kann sich der Illusion hingeben, daß ihm „alle Möglichkeiten offen stehen”. So
optiert der seelisch kranke Mensch für Omnipotenzgefühle, die ihm vorgespiegelt
werden, weil er sich nicht festlegt; die Kehrseite dieser grenzenlosen Freiheit
ist allerdings das konkrete Unfrei- und Hilflossein im Leben.
Das „Leben als Traum” ist zugleich prunkvoller und auch
karger als die reale Existenz: der fade Geschmack der Unwirklichkeit haftet ihm
an.
Laing entfaltet ein bemerkenswertes Geschick im
Beschreiben der Tragödien schizoiden und schizophrenen Menschseins. Er reiht
sich dabei ein in die Tradition der phänomenologischen Psychiatrie, stützt sich
also auf Ludwig Binswanger (Drei Formen mißglückten Daseins, 1952), J.-P.
Sartre (Das Sein
und das Nichts, 1952), Medard Boss u. a. m. Alle diese Forscher betonten
die Unechtheit und fehlende Authentizität beim schizoiden Menschentypus, der in
seinem verängstigten Lebensentwurf die Auseinandersetzung mit dem realen Leben
vermeidet. So spielt er eine „Rolle”, zu der er nicht stehen kann. Rein
äußerlich vielleicht wohlangepaßt, wächst im Laufe der Zeit bei ihm immer mehr
die „Phantomexistenz” an, bis ein eventuell harmloser Vorfall den Riß in der
Persönlichkeit offenbart. Die Psychiater sprechen dann von völliger
Unbegreiflichkeit des „schizophrenen Einbruchs”, aber ein Studium der „inneren
Lebensgeschichte” macht doch verständlich, wie es „urplötzlich” zur Wahnbildung
kam. In diesem Sinne ist der Wahn das verspätete Echtwerden, aber auf Kosten
der psychischen Gesundheit.
Im Vorfeld der schizophrenen Erkrankung finden wir
übersteigerte Selbst-Bewußtheit, ein Übermaß an Selbstbeobachtung und Reflexion
über sich selbst. Das ist verständlich, da der Betreffende wenig Weltbezug hat:
sein Selbst ist sozusagen seine Welt. Fast alle Autoren betonen die
Überempfindlichkeit solcher Menschen, ihre Bereitschaft, emotionale Brücken zur
Umwelt abzubrechen. Leicht ist auch der Haß mobilisierbar, der eine Antwort auf
die fundamentale Angst darstellt. Liebe wird nach Möglichkeit gemieden, da sie
Nähe und Einanderverstehen mit sich bringt. Manche Schizoide fürchten nicht
nur, was andere ihnen antun können, sondern auch, daß sie selbst für andere
schädlich sein könnten. Dem Fremdhaß ist stets ein latenter Selbsthaß
zugeordnet.
Auch Schuldgefühle machen sich im schizoiden Seelenleben
deutlich bemerkbar. Es ist nach Laing falsch, solche Schulderfahrung auf
verinnerlichte Aggression oder auf onanistische Exzesse zurückzuführen, wie es
die Psychoanalytiker zu tun pflegen. Eher trifft schon die Interpretation der
Daseinsanalyse zu, welche von der „originären Daseinsschuld” spricht. Danach
hat jeder Mensch die Aufgabe, sich für die Bedeutungsfülle der Welt zu öffnen
und Sympathie für alles Seiende zu empfinden. Wer aber in innerer
Verschlossenheit dahinlebt, fühlt dunkel, daß er der Welt und den Menschen „vieles
schuldig bleibt”; dementsprechend haben die Schuldgefühle der Schizoiden und
der Depressiven ihren wohlumschriebenen Sinn, aber der Patient sucht seine
Schuld bei Bagatellen, die nichts ins Gewicht fallen. Man muß seine
Pseudoschuld entlarven und ihn dazu ermutigen, die echte Schuld seines Lebens
ins Auge zu fassen.
Wir sehen hieraus, daß seelische Gesundheit identisch ist
mit dem, was die Psychoanalyse „Realitätsprinzip” nennt. Nur in der
Wirklichkeit kann man seelisch gesund sein und bleiben. Jeder Rückzug aus der
Welt wird mit Erstarrung, Einengung und Verarmung bezahlt. Mitunter liegt in
der Konsequenz einer solchen Daseinsschrumpfung der Verlust der
Zuwendungsmöglichkeit zum anderen Geschlecht. Der schizoide Menschentyp
fürchtet das heterosexuelle Du, da dieses anders ist als er selbst. Manchmal
eröffnet sich hier der Fluchtweg in die Homosexualität; der Patient glaubt, bei
einem gleichgeschlechtlichen Partner weniger Schwierigkeiten zu haben als beim
andersgeschlechtlichen. Freud war bekanntlich der Meinung, daß am Ursprung der
Paranoia eine homosexuelle Gefühlslage beteiligt sei; das ist nach Laing
dahingehend zu korrigieren, daß nicht die Homosexualität die Ursache der
Paranoia ist, sondern daß der Wahn und die Sexualpathologie gemeinsam aus der
verengten und verarmten Erlebniswelt entspringen.
Man kann den Ausbruch eines Wahns auch als einen
Selbstheilungsversuch deuten, da der Patient seine konstante Panik
stabilisiert, indem er seine verzweifelten Bemühungen um ein unauffälliges und
angepaßtes Leben aufgibt. Das ist kein Naturgeschehen außerhalb der Person
(etwa ein gestörter Metabolismus oder eine Dysfunktion der Gehirnzellen),
sondern eine Entscheidung der Person, die einen Ausweg aus der Ausweglosigkeit
sucht. Nicht selten kommt es zu spontanen Remissionen, wenn der Schizophrene
sich einige Zeit ausgeruht hat und aus irgendeinem Grunde den Entschluß wagt,
wieder die Rolle eines „gesunden Menschen” zu übernehmen. Aber es besteht auch
die Möglichkeit, daß er den Rückweg in die Normalität nicht wiederfindet, und
dann bedeutet sein Kranksein einen symbolischen Selbstmord, der dem Leben der
Person ein Ende setzt.
Laing hatte selbst viel Erfahrung mit schizophrenen
Patienten und weiß davon zu berichten, wie schwer der Schutzwall zu
durchbrechen ist, mit dem sich solche Menschen von der Umgebung abschirmen.
Schon durch ihre Kommunikationsweise machen sie es dem
Therapeuten schwer, an sie heranzukommen. Sie entmutigen ihn auf jede Weise,
weil sie spüren, daß er sie zu einem Leben in der Realität verleiten will – und
davor haben sie schreckliche Angst. Nur sehr viel Liebe und Wissen können das
selbstgebaute Gefängnis der Schizophrenen zerstören, sie aus ihrem Alptraum
aufwecken und den Riß in ihrer Persönlichkeit heilen. Laing sagt mit Recht (S. 203):
Der Hauptfaktor bei der Reintegration des Patienten, der
erlaubt, die Stücke zusammenzubringen und zusammenzuhalten, ist die Liebe des
Arztes, eine Liebe, die das totale Sein des Patienten anerkennt und es
akzeptiert, ohne ihm Fesseln anzulegen.
Das Selbst und die
anderen
In dieser Fortsetzung von Das geteilte Selbst untersucht Laing die Interaktion von Menschen,
die gegebenenfalls zu psychischen Störungen und zu Psychosen führt. Die
Grundlage solcher Interaktionen ist das „Verstehen” zwischen Ich und Du; aber
dieses ist immer lückenhaft. Jeder Mensch kann nur mutmaßen, was der andere
denkt und meint. Schlimm wird die Sache allerdings, wenn A genügend Autorität
besitzt, um B zuzuschreiben, was er bewußt oder unbewußt empfindet. Hier tut
sich ein Tor zu allen möglichen seelischen Vergewaltigungen auf.
Selbst die Wissenschaft
übt solche Vergewaltigungstechniken aus, indem sie Menschen wie Tiere
behavioristisch in Testsituationen bringt, wo sie sie „motivanalytisch”
beurteilt. Dabei bekommen Personen „Triebe” und „Antriebe” zugewiesen, von
denen sie manipuliert werden, als ob sie Maschinen oder Roboter wären. Auch die
Psychoanalytiker berufen sich auf einen „psychischen Apparat” , dem man das
Personsein ausgetrieben hat.
Wenn es nach Laing ein „Unbewußtes”
gibt, dann ist das ganz schlicht jener Seelenanteil, den wir weder uns selbst
noch den anderen mitteilen. Das ist demnach kein „Sack mit perversen Trieben”,
sondern ein Teil der Person, der nicht kommunizierbar ist. Man kann ihn
allerdings in Mitteilsamkeit verwandeln.
Wir verwenden einen
schiefen Realitätsbegriff, um viele Menschen als „verrückt” zu etikettieren.
Nach Laing weiß niemand so recht, was nun eigentlich die Wirklichkeit ist.
Familien, Gruppen und Völker einigen sich auf ein phantastisches Gebilde, das
sie „Realität” zu nennen belieben. Wehe dem, der nicht mitspielt; es kann ihn
Kopf, Kragen und Vernunft kosten!
Wir sind alle in sozialen
Netzen gefangen, und Psychotiker sind jene, die aus übergroßer Verstrickung mit
unbeholfenen Mitteln ausbrechen wollen. Die Menschen erdichten eine Welt, die
sie für kompakt und nicht-hinterfragbar halten. Wer die Kraft hat, jenseits
dieser angeblichen Normalwelt eine passende Eigenwelt zu schaffen, ist ein
Künstler. Wer an diesem Versuch scheitert, ist ein „Gemütskranker”, der
interniert werden muß.
Sieht man aber näher zu,
dann entdeckt man nach Laing, daß sehr viele Menschen sich mit der üblichen
Realität nicht ganz befreunden können und – zumindest teilweise – ein Leben in
der Phantasie führen. Wir haben dann einen Fuß im Realen, und den zweiten im
Imaginären. Wer Glück hat, kann je nach Situation mal auf dem einen, mal auf
dem anderen Beine stehen. Es können sich aber auch Lebenslagen häufen, in denen
es vorteilhafter erscheint, auf dem Standbein des Imaginären stehenzubleiben.
In solchen Situationen können zukünftige Psychiatriepatienten den lebhaften
Wunsch verspüren, „verrückt zu werden”. Manche schaffen es, anderen will es
einfach nicht gelingen. In Laings Worten: „Nicht jeder, der will, kann
psychotisch sein.” (1961, dt. 1973, S.53).
Vor allem die Sexualität
ist ein Freiraum für „alternative Lebensstile”, in denen Phantasie und Realität
oft genug „ausgetauscht” werden. So kann man etwa bei einem zwanghaften
Onanisten vermuten, daß ihm die phantasierten Sexpartner mehr Genuß bringen als
ein leibhaftiges Gegenüber. Jedenfalls ist er souveräner und sicherer, wenn er
beim „Lustgeschäft” für sich allein bleibt. In allen Perversionen wird das begleitende
Phantasiespiel fast noch wichtiger als
der sexuelle Akt, und diese Phantasien sind weder sozial noch kooperativ. Angst
und Machtbedürfnis sind ihre Motoren, und deren Ursprung liegt in einem „geteilten
Selbst”, das sich sowohl von der Mitwelt als auch vom eigenen Leib weitgehend
zurückgezogen hat. Es bleibt dann ein etwas schwerfälliger, mechanisierter Leib,
der nur durch sadistische oder masochistische „Extravaganzen” aus seiner „Schwermut”
erlöst werden kann. Bei Sartre und Genet findet Laing gute Musterbeispiele für
seine Sexual- und Perversionstheorie, die er neben seine Psychosenlehre als
Parallelphänomen hinstellt.
Schon Sartre hat in Das
Sein und das Nichts erörtert, daß die
Beziehungen der Menschen untereinander „normalerweise” Kampf beinhalten. Jedes
Bewußtsein will Herr über das andere Bewußtsein werden; die Thematik von „Herr
und Knecht” ist die Grundform alles sozialen Bezogenseins. Aber das ist nicht
Naturverfassung und schon gar nicht „ethisches Wunschziel”; es ist die traurige
Gegebenheit in einer Welt, die durch den ökonomischen Mangel und die
unentwickelte Gesellschaftsstruktur sich etabliert hat. Da es nun aber so ist,
sollen wir die Psychopathologie als eine Theorie der Kooperations- und
Kommunikationsverweigerung definieren. So können zum Beispiel Frigidität und Impotenz durchaus als ein „Lebensstil” beschrieben
werden, in den es nicht hineinpaßt, einem heterosexuellen Du den Erfolg eines
gelungenen Sexualverkehrs zu gönnen. Das „weiß” weder die frigide Frau noch der
impotente Mann; aber sie „leben” es. Wissen und Lebensvollzug müssen nicht
deckungsgleich sein.
Gerade am Koitus können
wir erkennen, daß menschliche Personen mit Leib und Seele aufeinanderwirken;
und jeder erlebt seine Bestätigung, wenn ihn der andere anerkennt. Aber darin
sind die Menschen unerfahren und tolpatschig. Sie meinen, mehr an Prestige zu
gewinnen, wenn sie dem Du die Anerkennung partiell verweigern.
In der Vorgeschichte jeder
Psychose ist nach Laing ein gewaltiges Defizit an Angenommen- und
Bestätigtwerden zu diagnostizieren. Das kann schon in der frühesten Kindheit,
in der Mutter-Kind-Beziehung anfangen. Auch im späteren Leben kann man
schizoide oder hypersensible Menschen „psychotisch” machen, wenn man sie
hinsichtlich ihres fundamentalen Anerkennungswunsches frustriert.
Laing gibt hier ein
aufschlußreiches Zitat aus Martin Bubers Werk Urdistanz und Beziehung (1960,
S.31-32) wieder, das seine eigene Überzeugung ausspricht (S.103):
In der menschlichen Gesellschaft, auf allen ihren Stufen,
bestätigen die Personen, in irgendeinem Maße, einander praktisch in ihrer
persönlichen Beschaffenheit und Befähigung, und man darf eine Gesellschaft in
dem Maße eine menschliche nennen, als ihre Mitglieder einander bestätigen. Das Fundament des Mensch-mit-Mensch-seins ist dies
Zwiefache und Eine: der Wunsch jedes Menschen, als das, was er ist, ja was er
werden kann, von Menschen bestätigt zu werden, und die dem Menschen eingeborene
Fähigkeit, seine Mitmenschen eben so zu bestätigen. Daß diese Fähigkeit so
unermeßlich brachliegt, macht die eigentliche Schwäche und Fraglichkeit des
Menschengeschlechts aus: aktuale Menschheit gibt es stets nur da, wo diese
Fähigkeit sich entfaltet. Wie freilich anderseits der leere Anspruch auf Bestätigung
ohne die Andacht zu Sein und Werden je und je die Wahrheit der Existenz
zwischen Mensch und Mensch zuschanden macht. Es ist den Menschen not und ist ihnen gewährt, in echten
Begegnungen einander in ihrem individualen Sein zu bestätigen; aber darüber
hinaus ist ihnen not und gewährt, die Wahrheit, die die Seele sich erringt, der
verbrüderten andern anders aufleuchten und ebenso bestätigt werden zu sehn.
Aber Bestätigung
und Nicht-Bestätigung in menschlichen Interaktionen sind noch sehr schlecht erforscht.
Darum meinen wir oft, bei schizophrenen Lebensläufen vor Rätseln zu stehen,
indes wir mit Menschen zu tun haben, die von Kindheit an verkannt,
mißverstanden und negiert wurden. Das sind nicht immer grobe Traumatisierungen;
auch langdauernde Mikrotraumen erzielen dasselbe Resultat. Eine besondere
Variante des Nicht-Bestätigens besteht darin, daß bei einem Heranwachsenden
immer „das falsche Selbst bestätigt wird”. So können etwa Eltern ein Kind immer
dann loben und bewundern, wenn es sein eigenes Ich verleugnet und das „brave
Kind” spielt, das die Erwachsenen haben wollen. Auch gibt es Ideologien, die „falsches
Selbstsein” geradezu zum Ideal erheben (Religion, Patriotismus, Spießbürgertum
usw.).
Für solche Erlebniswelten
mag der Sartresche Satz gelten: „Die Hölle – das sind die anderen!” Wenn jemand
in einer Umgebung lebt, wo niemand sich um sein wahres Selbst kümmert, kann ihm
das sehr wohl als „höllisch” vorkommen.
Wo sich ein Ich und ein Du
zusammenschließen, um wechselseitige Pflege und Anerkennung des „falschen
Selbst” zu betreiben, spricht man von „Kollusion” oder „heimlichem
Einverständnis”. Die Partnerschaftspsychologie und -therapie glaubt in vielen
Ehen solche Kollusionsverhältnisse aufzudecken: Man kann auch auf genereller
Unwahrhaftigkeit ein andauerndes Zusammenleben gründen.
In den Naturwissenschaften
ist Wahrheit „die Übereinstimmung des Intellekts mit der Sache”. Für humane
Verhältnisse (und also auch für die Psychotherapie) bevorzugt Laing die
Heideggersche Formel: „Wahrheit ist Unverborgenheit (des Seins).” Seelische
Gesundheit wird dann faßbar, wenn Menschen freimütig und offen kommunizieren.
Wer sein Selbst zu zeigen wagt, hat Chancen, es zu entwickeln. Menschen, die
sich vor anderen verstecken, sind möglicherweise krank oder können es noch
werden. Schon C. G. Jung hat auf die pathogene Macht des „Geheimnissehabens”
hingewiesen. Es ist interessant, daß im Wort „Selbstvertrauen” auch das
sprachliche Partikel „Vertrauen” steckt; vielleicht sind beide Tugenden
irgendwie verkoppelt.
In Das Selbst und die anderen bringt Laing Falldarstellungen und Beispiele aus
der Weltliteratur – leider überzeugen die ersteren weniger als die letzteren.
Sartre, Genet, Strindberg und Dostojewski sind hervorragende Kronzeugen für
eine phänomenologische Psychiatrie; daran ist nicht zu zweifeln. So kann man in
Strindbergs Theaterstück Der
Vater deutlich nachvollziehen, wie
das Selbstbewußtsein des Kapitäns von seiner Umwelt (der Frau) systematisch
untergraben wird. Dostojewskis Schuld
und Sühne zeigt einen
zartfühlenden Menschen (Rodion Raskolnikoff), der einen Mord begeht, um sein „falsches
Selbst” (er will Napoleon sein!) zu „verwirklichen”. Genet in Der Balkon beschreibt parodistisch, wie sich Sex- und Machtspiele ineinander
verschränken, wobei der Ort der Handlung ganz sinngemäß „das Bordell” ist.
Wenn aber Laing selbst
Fälle aus eigener oder fremder Erfahrung demonstriert, gibt er merkwürdig
blasse Anamnesen und erarbeitet den inneren und äußeren Werdegang dieser
mißglückten Daseinsformen nur relativ oberflächlich. Er schildert die Kranken
bloß als „Opfer der Verhältnisse”; wie sie sich selbst durch einen
pathologischen Lebensentwurf in die Krankheit hineinmanövrieren, wird kaum
sichtbar. Wer an Sigmund Freuds voluminöse und hyperexakte Lebensbeschreibungen
von Neurotikern zurückdenkt, wird Laings Berichte manchmal fast als laienhaft
empfinden. Es genügt nicht, irgendwelche Double-bind-Verstrickungen
(Beziehungsfallen) namhaft zu machen, um die Psychogenese eines Wahns zu
erklären. Oft erwähnt Laing nicht einmal den Beruf, die politischen und
religiösen Ansichten seiner Patienten. In seiner Beschränkung auf „Liebesschicksale”
ist er der bekämpften Psychoanalyse mehr hörig geblieben als er selbst weiß.
Phänomenologie
der Erfahrung
In diesem Büchlein
aus dem Jahre 1967 will Laing der menschlichen Selbstentfremdung auf den Grund
gehen; warum leben wir in einer Welt, wo Personalität verleugnet wird und wo
anscheinend niemand mehr so recht weiß, was Person sein bedeutet? Das kommt
einem Verlust wirklicher menschlicher Erfahrung gleich – würden wir noch
urtümliche „Erfahrung” erleben, dann wüßten wir um unser eigenes Selbst und um
das Selbst des anderen. Die Wiedereinsetzung solcher lebensspendender Ich-, Du-
und Ich-Du-Beziehung ist eine der Aufgaben der „Sozialphänomenologie”.
Person ist Bezogensein auf
andere Personen, die nicht „Objekte” sind und auch nicht sein können. Immer,
wenn man eine Person „objektiviert”, hat man mit einem Artefakt zu tun, dem die
wesentliche Eigenschaft der Personalität abgeht. Person ist das Zentrum von
Akten, von Welt- und Selbsterfahrung. Wenn man „Verhalten” betrachtet, ohne es
auf die Erfahrung der Persönlichkeit zu beziehen, dann hat man scheinbar mit
Naturvorgängen zu schaffen, die zähl- und meßbar sind. Aber das ist nicht der
wahre Mensch, den etwa die Verhaltenspsychologie exploriert; sie befaßt sich mit
einer Karikatur dessen, was der Mensch ist und sein kann.
Alle „reduktiven Verfahren”
unterschlagen in der Erforschung des Menschen die Phantasie, aufgrund derer
jedermann in einer erträumten und erdichteten Welt lebt. Phantasie ist ein
Vermögen der Freiheit, oder genauer: sie ist die Freiheit selbst. Mit jedem
Kind wird eine freiheitliche Potenz geboren, aus der Selbstsein und Schöpfertum
hervorgehen kann. Erziehung ist jedoch in der Regel ein Unternehmen, diese
schöpferische Kraft zu drosseln und zu zerstören.
Da der Mensch in der
Interpersonalität (Zwischenmenschlichkeit) existiert, können nur jene die
Person des anderen fördern und respektieren, die selbst noch Person sind oder
es werden wollen. Viel häufiger aber als wechselseitige Achtung und Unterstützung
sind Techniken der „Entpersönlichung”, die Ich und Du betreffen. So beschreibt
etwa die Psychoanalyse „Abwehrmechanismen”, die eine Einschränkung der eigenen
Persönlichkeit bedeuten (Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion
usw.); sie wirken sich aber allemal auch als Negierung der Fremdperson aus.
Alle Abwehrmechanismen
verstümmeln die Erfahrung, verhindern die Begegnung von Ich und Du, reduzieren
die Kommunikation auf Klischees und lassen die gemeinsame Welt der Beteiligten
verarmen. Wer sein eigenes Ich als ausgelöscht empfindet, kann gar nicht
anders, als auch das Du zu annihilieren.
Laing wandelt in den
Spuren von Sartre, wenn er „das Nichts” als eine „anthropologische Konstante”
einführt. Nach Sartre bringt der Mensch das Nichts in die Fülle des Seins ein;
ohne ihn ist das Sein kompakt und kohärent. Kaum taucht aber ein menschliches
Bewußtsein auf, wird das Sein in Frage gestellt, angezweifelt, durch Pläne und
Entwürfe überschritten. Aus dem Nichts entspringt nicht nur die Daseinsangst,
sondern auch die Schöpferkraft des Menschen. Es kommt nur darauf an, sich von
dem Nichts und der Angst nicht lähmen zu lassen. Wem dies zustößt, der kann
unter Umständen zum „Vernichter” werden, das heißt zu einem Prototyp, der aus.
Verzweiflung an der Conditio humana die Selbstdestruktion wählt. Man muß nicht
angesichts des Nicht-Seins zur Starrheit des Steines Zuflucht nehmen; man kann
um das Nichts wissen und doch für das Sein optieren.
Auf diese philosophischen
Erwägungen geht Laing ein, um unter anderem das Wesen der Psychopathologie und
der Psychotherapie zu reflektieren. Weil wir heute von der Personalität des
Menschen mehr wissen, neigen wir dazu, ihn (auch als „Kranken”) nicht mehr „behandeln”
zu wollen, sondern mit ihm eine kooperative Beziehung einzugehen. Dazu müssen
wir aber Theorien entwickeln, die das Personsein im Therapeuten und im
Analysanden anerkennen. Wir müssen die Erfahrung des letzteren ebenso sehr als „gültig”
begreifen wie diejenige des ersteren. Sobald nur die Erfahrungsweise des
Psychoanalytikers die „Normalität”
ausmacht, kommt es zu einem irrationalen Autoritätsverhältnis, in welchem beide
Personen nicht gedeihen können.
Laing sagt (1967; dt.
1969, S.46):
Psychotherapie muß der obstinate Versuch zweier Menschen
bleiben, die Ganzheit der Existenz durch ihre Relationen zueinander
wiederherzustellen. Jede Technik, die sich mit dem
anderen ohne sein Selbst befaßt, mit Verhalten unter Ausschluß der Erfahrung,
mit Beziehung unter Vernachlässigung der in Beziehung stehenden Personen, mit
Individuen unter Ausschluß ihrer Beziehungen und vor allem mit zu ändernden
Objekten statt mit zu akzeptierenden Personen – jede Technik dieser Art
verewigt einfach die Krankheit, die sie zu kurieren vorgibt. Jede Theorie, die nicht vom
Menschen ausgeht, ist Lüge und Betrug an ihm. Eine inhumane Theorie wird
unvermeidlich zu inhumanen Konsequenzen führen, wenn der Therapeut konsequent
ist. Glücklicherweise haben viele Therapeuten die Gabe der Inkonsequenz. Mag
uns das auch teuer sein, ist es doch nicht als ideal anzusehen.
In den jetzigen Welt- und Kulturverhältnissen ist der
Mensch ein „Zerrissener”; es gilt ihn in der Therapie durch gemeinsame
Ich-Du-Erfahrung zusammenzufügen.
Mit außergewöhnlicher
Schärfe attackiert Laing die Methoden unserer Pädagogik, Propaganda und
Psychologie, die zur „Mystifikation von Erfahrung” und zur „Entpersönlichung
von Personen” führt. Man verschleiert die Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen; man präsentiert uns atomare Aufrüstung als den Schutz von Leben und
Freiheit; man erzieht Kinder zu Schwachsinnigen, „wenn möglich mit hohem
Intelligenzquotienten” (S.51).
Gewalt maskiert sich als
Liebe und schleicht sich in die Erziehung ein, so daß Kinder liebevoll ihrer
eigenen Welterfahrung beraubt werden; an deren Stelle wird die Erfahrung von
erlebnisunfähigen Eltern und Erziehern eingesetzt. Entfremdung ist nicht nur
ein ökonomischer Vorgang; sie ist ein Geschehen in der Kinderstube, und gerade
dort findet die Ur-Entfremdung statt. Kinder werden, wie Sartre erklärt,
frühzeitig zu ihren „eigenen Großvätern” gemacht. Man näht sie gleichsam in die
Haut von Verstorbenen ein, erzieht ihnen die Verhaltensweisen des
Spießbürgertums an und macht sie auf diese Weise zu „Angepaßten”. Nach Laing
sind Neurose und Psychose Revolten von Menschen, bei denen dieser „Anpassungsprozeß”
mißlungen ist. Aber „wir Angepaßten” sollten gegenüber diesen „Unangepaßten”
nicht stolz und hoffärtig sein; wir sollten uns mit ihnen solidarisieren und
mit ihnen zusammen aus einer Welt der Gewalt und Unterdrückung aussteigen.
Fast alle menschlichen
Individuen und Gruppen leben davon, daß sie andere Individuen und Gruppen zu
Kontrastbildern aufbauen, an denen sich die eigene Positivität im Gegensatz zur
Negativität der anderen vorteilhaft zeigt. Das „Vorurteil” ist ein Element
dieses unmenschlichen Dynamismus, der die Beziehung zwischen verschiedenartigen
Menschen blockiert. So sind Ich und Wir stets von Asozialität durchdrungen.
Auch die Gemüts- und
Geisteskranken sind eine „Sie-Gruppe”, die wir unserer „Wir-Gruppe” der „Normalen”
entgegenstellen. Damit verfehlen wir ihre Problematik und können ihnen in ihrer
Not nicht behilflich sein. Erst wenn wir davon ausgehen, daß „gestörte Menschen”
auch in irgendeiner Weise „Recht haben”, werden wir uns mit ihnen verständigen
können.
In den psychiatrischen
Heilanstalten „depersonalisiert” man die Patienten, indem man sie mit
Medikamenten paralysiert, ihnen keine sinngemäße Beschäftigung ermöglicht und
ihnen den Gesprächskontakt sehr sparsam und stets „offiziell” zuweist. Die „Kranken”
befolgen dann diese (stille) Anordnung und regredieren nicht selten auf die
Stufe eines bloß organismischen Daseins.
Ein wichtiges Ergebnis der
tiefenpsychologischen Familienforschung ist, daß kein Patient für sich allein
neurotisch oder psychotisch wird: Es sind neurotische oder psychotische
Familien, in denen solche „Fälle” ausgebrütet werden. Geht man näher auf die
Lebensbedingungen der „Kranken” im Vorfeld ihrer Erkrankung ein, dann stellt
man fast mit Regelmäßigkeit fest, daß sie in Beziehungsgeflechten lebten, in
denen sie „nicht gewinnen konnten”: Sie flüchteten in die Krankheit, weil ihnen
entscheidende Möglichkeiten der Expansion und Selbstentfaltung verrammelt
waren.
Laing plädiert dafür, daß
man die Schizophrenie als eine „Reise nach innen” auffaßt, zu der Menschen
aufbrechen, die für eine „Reise nach außen” schlecht gerüstet und auch wenig
vorbereitet sind. Seiner Meinung nach soll man solche Expeditionen nicht durch
ungeeignete psychiatrische Maßnahmen stören: Man soll erforschen, wie man sich
zu solchen Menschen verhalten muß, damit sie den „Rückweg zu uns” finden.
Vielleicht sollte man Schizophrenie als „Krankheit des gebrochenen Herzens”
definieren.
Die Stimme der Erfahrung
In diesem Spätwerk aus dem Jahre 1982 greift Laing noch
einmal seinen umfassenden Erfahrungsbegriff auf, den er dem verengten
theoretischen Konzept der Naturwissenschaft und der auf sie aufbauenden Medizin
und Psychiatrie entgegenstellt. Schon Edmund Husserl hat nachdrücklich darauf
hingewiesen, daß das naturwissenschaftliche Denken großenteils auf
lebensfremden Konstrukten beruht; es gibt nach Husserl eine „Lebenswelt”, und
diese ist die Basis von allen Wissenschaften, sowohl denen der Natur als auch
denen des Menschen und seines Kulturlebens. Diese lebensweltlichen Voraussetzungen zu verstehen,
erscheint Husserl und Laing als Grundelement für das Begreifen aller
menschlichen Verhaltensformen und Schöpfungen.
Laing nennt derlei „Erfahrung”
– sie ist für ihn das Gegenteil von jeglichem „Objektivismus”. Wie wir
subjektiv die Welt erfahren, das bestimmt unser seelisches Gesund- und
Kranksein. Psychologie sollte eine Wissenschaft von subjektiven
Erfahrungswelten sein.
Dann aber ist sie weder
Behaviorismus noch offizielle Psychiatrie noch orthodoxe Psychoanalyse.
Wiederum reitet Laing seine Attacken gegen diese angeblichen Formen des
Menschenverstehens, die sich irrigerweise der „objektiven Naturwissenschaft”
angleichen wollen.
Der Geist der
Naturwissenschaft aber ist gewaltsam, tough-minded (hartgesotten) und „seelenlos”.
Er ist zu nüchtern und zu unbeholfen für seelisch-geistige Qualitäten. Max
Scheler meint sogar, daß die modernen exakten Wissenschaften aus dem
christlichen Welthaß entsprungen seien. Für die Technik, die ein Kind der
objektiven Wissenschaft ist, können wir das heute schon ziemlich leicht
nachvollziehen. Sie zerstört die Welt, die sie beherrscht und ausbeutet.
Laing kämpft gegen die
Hybris des Szientismus an, vor allem dort, wo er sich in entwertender Weise mit
dem Menschen befaßt. Für den Szientisten ist der Mensch Organismus, Apparat,
Roboter, Energiebündel. Man kann ihn allerdings so betrachten, aber in erster
Linie ist der Mensch Mitmensch, Du und Person. Er ist, genau wie der
Betrachter, Schöpfer einer Lebenswelt, und als solcher kann er kein „innerweltliches
Ding” sein. Denn Dinge mit Bedeutung gibt es erst in lebensweltlichem Milieu,
das von Personen getragen und artikuliert wird.
Wie immer holt Laing seine
Beispiele aus der Psychiatrie, die sein Betätigungsfeld ist. Als Ursünde der
modernen Psychiatrie sieht er die These, daß schizophrene Menschen an „uneinfühlbaren
Seelenzuständen” leiden. Damit hat man eine große Menschengruppe aus der Menschenwelt
exkommuniziert. Und auf Exkommunikationen folgen, wie die Geschichte der
katholischen Kirche lehrt, Verfolgungen, Quälereien und „Exekutionen”.
Die Psychoanalytiker
bekämpften die psychiatrischen Vorurteile und repetierten sie mit anderen
Begriffen. Nun sprach man vom „Autismus der Schizophrenen” und deren
Gefühlsuntauglichkeit. Neuere Psychoanalytiker therapieren zwar Psychotiker,
aber auch sie benützen Techniken der Diskriminierung, die nach Laing meistens
die Heilung sabotieren. Tatsächlich zitiert er Behandlungsbeispiele, die
erschütternd anmuten. Manche Therapeuten scheinen der Meinung zu sein, daß man
Wahn kranken skurrile und „halb-verrückte” Deutungen zumuten kann: auf ein
bißchen mehr Wahnsinn kommt es wohl nicht an. Nach Laing jedoch muß man im
Schizophrenen den Mitmenschen anerkennen, wenn man ihn fördern will. Das
spricht sich leicht aus, aber in praxi stellt es hohe Anforderungen an den „Helfer”.
Ein ausgezeichneter
kritischer Abschnitt von Laings Buch ist Ludwig Binswanger gewidmet, den die
Daseinsanalytiker als ihren „Erzvater” (neben Medard Boss) verehren. Schon
anderen Autoren ist aufgefallen, daß der berühmte Kreuzlinger Psychiater in
seinen Falldarstellungen eigentümliche Wege beschreitet. Viele seiner „Fälle”
wurden von ihm gar nicht behandelt; er fand sie in den Archiven seiner Klinik,
die er von seinem Vater geerbt hatte. Binswangers oft mehr als hundert
Druckseiten umfassende Fallinterpretationen sind reine „Schriftstellerarbeit” ;
sie haben mit Therapie nichts zu tun. Er gebrauchte die Behandlungsberichte
anderer als Textunterlage; darauf errichtete er das luftige Gebäude seiner
philosophischen Interpretationen, die von den Ideen Husserls, Heideggers und
mancher anderer Denker inspiriert sind.
Am bekannten
Binswanger-Fall der schizophrenen Patientin Ellen West zeigt nun Laing, wie
gefühlskalt und distanziert der literarisch so fruchtbare „Daseinsanalytiker”
mit einer schwer leidenden Frau umging. Schon sein Bericht ist voll von
abwertenden Vokabeln; um das eigentliche Innenleben der Patientin, die er kurz
vor ihrem Suizid in einigen Konsultationen sah, hat er sich wenig oder gar
nicht gekümmert. Er ließ sie gewissermaßen im Stich, und als die Frau in ihrer
schlimmen Not und Vereinsamung Selbstmord beging, kommentierte Binswanger
dieses Ende mit den fast zynischen Worten: „Sie sah aus, wie nie im Leben – ruhig
und glücklich und friedlich.”
Da Ellen West einigen
Super-Psychiatern vorgestellt worden war, ist dies für Laing nicht einfach ein
Versagen von Binswanger, sondern der ganzen offiziellen Psychiatrie. Diese ist
groß im Etikettieren der Kranken – von Therapie weiß sie wenig. Daher bricht
unser Autor nach dem Zitieren einiger aufrüttelnder Dokumente der Patientin in
die Worte aus (1982; dt. 1983, S. 92):
Wie unheimlich und finster! Wie unbegreiflich, daß
Binswanger und die anderen Experten für unbegreifliche Menschen weiterhin die
Macht haben, sie lebendig und schreiend in ihren Gruften aus Worten zu
begraben. Schreie sind nur Symptome der Hysterie. Angst ist ein Zeichen für
Paranoia. Ihre Niederlage enthüllt ihren genetischen Mangel an moralischem
Rückgrat. Ihre Schwachheit ist Psychasthenie. Ellen Wests Daseinsgestalt zeigt
wie ein nach rückwärts gerichtetes Horoskop die Entwicklung einer schizophrenen
Krankheit, die dazu bestimmt war, tödlich zu verlaufen. Armes reiches Mädchen.
Nachdem er den Leser mit
Recht auf Kritik eingestimmt hat, geht nun Laing daran, seinen „umfassenden
Erfahrungsbegriff” zu erläutern. Wir sollen offenbar lernen, offen zu werden
für alle Aspekte der Wirklichkeit, die von der Wissenschaft verkannt oder
verleugnet werden. Aber da schießt nun unser Wissenschaftskritiker weit über
das sinnvolle Ziel hinaus. Er vertritt den Standpunkt, man müsse sich auch der
abseitigsten Themen annehmen, als da sind: außersinnliche Erfahrung, Erfahrung
beim Tod, bei der Geburt, vor der Geburt, „während und zwischen früheren
Inkarnationen” usw. (S.102)
Laing verachtet manche
Exzesse der exakten Wissenschaft, aber es ist kein gutes Heilmittel dagegen,
wenn er sich dem Mystizismus übergibt. In Die Stimme der Erfahrung überbietet
er die einfallsreichsten und sonderlingshaftesten Psychoanalytiker, indem er
selbst zur „Analyse vorgeburtlicher Erfahrungen” schreitet.
Schon Freud und Otto Rank
hatten Träume so gedeutet, daß in ihnen dem Geburtserlebnis eine wichtige Rolle
zukam. Andere Psychoanalytiker deuteten zumindest an, daß man sich im Traum
auch in vorgeburtliche Zustände zurückversetzen könne. Laing ist von solchen
kühnen Konjekturen beeindruckt und entwickelt regelrecht eine Uterussymbolik,
die seiner Ansicht nach in vielen Träumen durchdringt, aber von Therapeuten zu
wenig beachtet wird. Die Themen „Placenta”, „Ei und Nidation”, „Leben im Uterus”
sollen bei psychologischen Behandlungen in Zukunft mehr beachtet werden.
Belege und Beispiele
können Psychologen bekanntlich immer bringen. Es kommt nur darauf an, ob man
den „Symbolkatalog” so formulieren will, daß man allfällige Träume ins
vorgefaßte Konzept einreihen kann. Träumt ein Träumer von einem Wasserloch, von
Schlamm, Schnee oder Unterholz, so ist dies nach Laing das Endometrium des
Uterus; träumt er von Bogengang, Brücke oder Peitsche, so bedeutet dies die
Nabelschnur usw. Goethe hat solche Willkürdeutungen ahnend vorweggenommen:
„Im Auslegen seid frisch
und munter; legt Ihr's nicht aus, so legt es unter!”
Gerade in diesem Text
erkennen wir den etwas phantastisch gesinnten Laing, der mit dem Okkultismus
liebäugelt und die „Grenzen des Wissens” aufsprengen will. Th. W. Adorno sagte
bei Gelegenheit, das Okkulte sei Inhalt einer „kleinen Schizophrenie”; es sei
doch merkwürdig, daß gerade Menschen im seelischen Ungleichgewicht eine besondere
Vorliebe für das Außer- und Übersinnliche hätten. Auch bei Laing drängt sich
diese Vermutung auf. Nicht umsonst hatte er ein spezifisches Flair für „das
Schizophrene”, und vielleicht hat er in seinen Patienten immer auch sich selbst
mitbehandelt.
Gerade seine
Falldarstellungen in diesem Buch, das so mächtig gegen die Psychiater zu Felde
zieht, lassen sehr viel zu wünschen übrig. Sie begnügen sich mit „impressionistischen
Andeutungen”, aus denen sehr weitreichende Schlüsse gezogen werden. Laing als
Reformer und Rebell erliegt einer Versuchung, die man bei manchen „Revoluzzern”
entdeckt; sie sind stark im Verneinen, aber der positive Teil ihrer
Bestrebungen wird nicht mit ausreichender Sorgfalt angegangen. Daher ist „Die
Stimme der Erfahrung” ein recht unbefriedigender Text.
Psychoanalyse eines Psychotherapeuten:
Die Autobiographie
Unter dem Titel Weisheit, Wahnsinn und Torheit hat Laing
1985 seine Autobiographie publiziert; sie umfaßt die ersten dreißig Jahre
seines Lebens und will „The Making of a Psychiatrist” darstellen. Es soll
daraus hervorgehen, wie Laing „wurde, der er ist”; und tatsächlich hat er
interessante Ereignisse zu erzählen, die begreiflich machen, woher seine Vorzüge
und auch seine Mängel stammen.
Laing war Einzelkind und
wurde sowohl verwöhnt als auch ziemlich streng erzogen. Der Vater war
Elektroingenieur, die Mutter Hausfrau: beide waren offenbar zwanghafte
Persönlichkeiten. Daher wurde weidlich geprügelt, wenn der kleine Ronald nicht
vollkommen brav war. Die Mutter hatte einen Ernährungsfimmel und verbot dem
Knaben, Süßigkeiten zu essen. Wenn er es doch tat und es herauskam, erhielt er
Schläge. Kein Wunder, daß der Knabe alsbald mit einem Ekzem reagierte.
Beide Eltern legten viel
Wert auf eine religiöse Erziehung. Bis zum siebzehnten Lebensjahr betete Laing
vor dem Einschlafen fromm und gläubig sein Nachtgebet. Später kamen ihm
Zweifel, aber der religiöse Drill seiner Jugend wurde nie ganz überwunden.
Da die Eltern viel von
Musik hielten, wurde auch Laing musikalisch unterwiesen. Er brachte es im
Klavierspiel so weit, daß er beinahe ein Musikstudium gewählt hätte, als er die
Schule hinter sich ließ.
Aber er wählte doch die
Medizin, da er grundlegendes Wissen über den Menschen suchte. Fasziniert war er
als Student von der Hypnose; es schien ihm rätselhaft, daß ein Mensch im
hypnotischen Zustand falsche Wahrnehmungen hat und seinen Willen einem anderen
(dem Hypnotiseur) unterwirft. Laing selbst war ein „Medium” bei solchen „Experimenten”,
und versuchte sich selbst in hypnotischen Künsten.
Auch der Okkultismus zog
ihn in seinen Bann. Er war bei spiritistischen Veranstaltungen und berichtet
leichtgläubig, daß die Person in Trance ihm allerlei „Wahrhaftiges” über sein
Leben offenbarte. Folgerichtig war er auch tief ergriffen, als er den banalen
amerikanischen Massenprediger Billy Graham in seinen „Erweckungsreden” anhörte;
selbst bei diesen geschmacklosen Werbefeldzügen für das Christentum bekam Laing
als Zuhörer Herzklopfen, Halsschmerzen und Schweißausbrüche. Lakonisch stellt
er fest, daß Billy Graham Erfolge wie ein „erstklassiger Hypnotiseur” hatte.
Als hochgradig sensibler
Mensch litt Laing zunächst sehr unter den Härten des medizinischen Berufes. Es
tat ihm weh, wenn er sah, wie die Patienten durch grobe Behandlungen gequält
wurden. Merkwürdig erschien ihm, daß ein Großteil seiner Studentenkollegen
derlei als „gegeben” hinnahm.
Die erste Station seiner
Karriere nach Studienabschluß war die Neurochirurgie. Auf einer solchen
Abteilung lernte er Joe Schorstein kennen, einen Neurochirurgen, der als
österreichischer Emigrant nach Schottland gekommen war. Schorstein war
philosophisch hoch gebildet und nahm seinen jüngeren Kollegen unter seine
Fittiche; die beiden Ärzte diskutierten die gesamte Philosophie, und erst durch
Schorstein wurde Laing mit wichtigen Problemen der Gegenwartsphilosophie
vertraut gemacht.
Der junge Laing wurde
Militärpsychiater, aber eben ein „philosophisch interessierter Psychiater”. Er
schreibt (1985; dt. 1987, S.142):
Als ich zum Militär kam, gärte es heftig in mir: Da waren
historischer Materialismus, Nihilismus, Theologie, Philosophie, Psychologie,
Neurologie; die Entdeckung der Phänomenologie; Heidegger, Sartre,
Merleau-Ponty, Husserl; die Entdeckung der Unterschiede zwischen dem Verstehen
und dem Erklären; die Übersetzung der Hermeneutik eines Textes auf die
Hermeneutik zwischenmenschlicher Beziehungen; die – für mich jedenfalls – Zwillings
gestalten Kierkegaard und Nietzsche, Christ und Antichrist, der Ritter des
Glaubens, das Schicksal des Nihilismus; Nietzsches Kritik an „Überzeugungen”
und seine Absage an das Ich, den freien Willen und die Probleme der Psychiatrie
und Psychopathologie; Heidegger und die Frage des Seins: Was heißt es, zu sein?
Wittgenstein: die Zertrümmerung dieser Frage. Nietzsche und Wittgenstein: Geschichte. Die sozio-ökonomische materielle Wirklichkeit
der Gesellschaft. Das britische Militär. Der Koreakrieg. Die Bombe.
Dieser
Philosoph im Ärztekittel weigerte sich, die üblichen Behandlungstechniken der
Psychiater als Nonplusultra anzuerkennen. Insulinkuren, Elektroschocks und
Lobotomien stießen ihn ab. Auch befremdete es ihn, daß so gar keine echte
Kommunikation zwischen Ärzten, Pflegern und Patienten bestand. Vor allem die
letzteren lebten in den Kliniken wie in einem „existentiellen Vakuum”. Wie
sollten sie da gesunden?
Aus spontaner Identifikation mit den gestörten Menschen
solidarisierte sich Laing mit ihnen, nahm Beziehung mit ihnen auf und sprach
mit ihnen. Es kam infolge dieser „harmlosen Interventionen” zu entscheidenden
Besserungen bei angeblich „aussichtslosen Fällen”. Laing sah, was echte
Kontaktnahme bei Psychosen zustandebringen kann.
Offenbar las er viel in jener Zeit. Sartre und die Existenzphilosophie
überhaupt scheinen im Mittelpunkt seines Interesses gestanden zu haben. Laing
wurde ja später selbst ein existentialistischer Psychiater. Die Bezeichnung „Antipsychiatrie”
, die andere auf ihn angewendet haben, lehnt er ab, weil er das Band zur „alten
Psychiatrie” nicht einfach zerreißen will.
Durch zahlreiche bewegende Falldarstellungen schildert Laing
seine frühen Eindrücke in der psychiatrischen Welt. Er war zu intelligent und
zu einfühlsam, um sich dem psychiatrischen Systemzwang zu unterwerfen. Für ihn
waren die Patienten in erster Linie Mitmenschen. So kam es, daß dieser junge
Psychiater ein Nonkonformist wurde. Ein bißchen halfen ihm dabei auch seine
Kollegen. Bei denen war es durchaus üblich, im Gespräch blasiert zu
konstatieren: „Eigentlich war doch dieser Hamlet nichts anderes als eine
schlecht programmierte Ratte!” Und: „Wenn man dem alten Lear (König Lear) ein
paar gute Elektroschocks verabreicht hätte, wäre sein Problem gelöst gewesen!”
Wir haben noch nachzutragen, daß Laing vom Knaben- bis zum
Mannesalter unter schwerem Asthma litt. Nimmt man die übrige Vorgeschichte
hinzu, dann läßt sich erschließen, daß der spätere Psychotherapeut und
Psychiatriekritiker aus seiner eigenen Vorgeschichte viel über emotionale
Bedrängnis und seelisches Ausgeliefertsein wissen konnte. Schopenhauer sagt: „Man
lacht über andere, und man weint über sich selbst!” Wenn das richtig ist, dann
war Laings Mitleid mit den schweren Fällen in der Psychiatrie auch ein wenig
Selbstmitleid. Vielleicht konnte er sich wie der berühmte orthodoxe Psychiater
Eugen Bleuler sagen:
„Als ich jung war, wußte ich, daß ich in die psychiatrische
Klinik mußte; es fragte sich nur, auf welcher Seite der Barriere.” Sowohl
Bleuler als auch Laing hatten Glück; sie kamen auf die „Ärzteseite” , aber der
letztere bezog aus dem eigenen Gefährdetsein den Impuls, sich mit den Patienten
ganz zu solidarisieren.
Nach allem, was wir
von Laing wissen, können wir nicht umhin, ihn zu bewundern und seine Leistung
als hochrangig einzustufen. Er ist tatsächlich, wie der Verlag im Klappentext
der Autobiographie proponiert, „einer der streitbarsten Denker innerhalb der
modernen Psychiatrie”. Er hat viele Psychiater und Laien durch seine Schriften
aufgerüttelt und zum Nachdenken gebracht. Durch ihn ist ein
Selbstprüfungsprozeß im medizinischen und psychotherapeutischen Denken der
Gegenwart in Gang gekommen.
Liest man aber genauer
in dieser „Selberlebensbeschreibung” (Jean Paul), dann spürt man auch
Bruchlinien in Laings Charakter und in seiner Weltanschauung. Gerade diese
Biographie ist sehr „ichzentriert”; man meint die Stimme eines „Narziß” zu
hören. Von den großen Begebenheiten in Welt, Wissenschaft und Kultur im
beschriebenen Zeitraum erfahren wir bei Laing wenig; seine eigene Person und
ihre engste Umgebung ist das „universelle Thema”. Auch hören wir kaum von
weitreichenden Bildungseinflüssen; es waren doch recht schmale
Ausgangspositionen, von denen Laing zu seinen hochgespannten Ambitionen
vorstieß.
Er kam zur rechten
Zeit, und das macht eventuell eine der Grundlagen seines Ruhmes aus. Überall
sind Anti-Bewegungen im Gange; man spricht von Anti-Pädagogik,
Anti-Psychiatrie, Anti-Memoiren usw. Auch Laing wurde mit dieser Bewegung groß,
die als Parallelerscheinungen etwa die Abschaffung der psychiatrischen Kliniken
in Italien durch Franco Basaglia aufzuweisen hat.
Aber viele dieser
Rebellen tragen tief im Innern eigene Unadäquatheiten, Labilitäten und sogar
Skurrilitäten in sich; die inneren Wunden ihres problematischen Werdeganges
sind schlecht verheilt, und wenn sie sich ins Getümmel der Reformen einlassen,
bricht so manche alte Wunde auf.
Kritische Bewertung
Man
kann die offizielle Psychiatrie in ihrem Verhalten zu den gemütsgestörten
Menschen als streng paternalistisch und autoritär bezeichnen; die
Anti-Psychiatrie bevorzugt die antiautoritäre und maternalistische Linie, und
das ist gewiß eine Art Vorzug. Aber auch diese „weiche Haltung” hat in der
Seelenheilkunde ihre Tücken und Gefahren. Sie neigt dazu, die Kranken lediglich
als „Opfer der Verhältnisse” zu sehen, Familie und Umwelt anzuklagen, und die
Patienten selbst zu exkulpieren. Gelegentlich sogar unternehmen es die
Anti-Psychiater, die Wahnkranken zu idealisieren und zu glorifizieren; nach den
Thesen von Laing und David Cooper sind die Schizophrenen die wahrhaft
authentischen Menschen, indes die Normalen und Angepaßten ihre Authentizität
für immer verloren haben.
Das sind Übertreibungen nach dem Gegensatzprinzip; was die
Psychiatrie bisher gesündigt hat, soll durch die „Anti-Psychiatrie” wieder
gutgemacht werden. Man erkennt das unter anderem auch aus den
Behandlungsberichten der Anti-Psychiater, zum Beispiel dargestellt im „Philadelphia
Association Report 1965-69”. Darin wird von den Erfahrungen in „Kingsley Hall”
erzählt, der Heilanstalt, die Laing und seine Gefährten gegründet haben. Es
handelt sich mehr um eine Wohngemeinschaft als eine Klinik; die Ärzte leben mit
den Patienten zusammen, und es gibt keine Vorschriften und Anweisungen. Die
Patienten dürfen im Bett bleiben, solange sie wollen; sie können sich den Tag
einteilen je nach Laune. Sie werden nicht als krank tituliert, sondern ihre
Gemütsverfassung ist eine „Reise durch den Wahnsinn” – die Ärzte verstehen sich
als „Reisebegleiter”, die ihre Weggenossen zur Authentizität ermutigen sollen.
Angeblich hat „Kingsley Hall” gute Erfolge erzielt.
Der berühmteste Fall der Laing-Gruppe ist Mary Barnes, die
ihre Krankengeschichte zusammen mit ihrem Arzt unter dem Titel „Meine Reise
durch den Wahnsinn” veröffentlicht hat. Wie Szasz in seinem Buch „Schizophrenie
– das heilige Symbol der Psychiatrie” maliziös erwähnt, ist Mary Barnes für die
Anti-Psychiatrie dasselbe wie der „Wolfsmann” für die Freudsche Psychoanalyse:
nämlich ein Paradefall, der belegen soll, wie
wunderbar die neue Form der seelischen Krankenbehandlung ist. Als Frau Barnes
in „Kingsley Hall” eintrat, war sie eine einfache Krankenschwester. Man flößte
ihr ein neues Selbstbewußtsein ein, indem man sie zum Behandlungsmuster erhob
und ihre harmlosen „Fingermalereien” zu Kunstwerken hochstilisierte. Eine
solche Fülle von maternalistischer Zuwendung half natürlich in eindrücklicher
Weise. Aber wir schließen uns Szasz in seinem kritischen Kommentar an, wenn er
meint, daß die Anti-Psychiater „moralische Aufrichtung” mit Heilung
verwechseln.
Szasz wehrt sich vor allem
dagegen, daß in den Gemütskranken ein „auserwähltes Volk” gesehen wird, durch
die wir zu einem wahren Lebensverständnis hingeführt werden können. Die
sogenannten Schizophrenen sind keine „Reisenden”; sie sind oft kindisch,
ziellos, widerspenstig, egozentrisch und haben gewöhnlich keinen sinnvollen
Lebensplan. Man soll ihr Versagen im Leben nicht vertuschen, was aber auch
heißt, daß wir sie weder anklagen noch diskriminieren. Aber die Anti-Psychiatrie
verschleiert die Tatsache, daß das Leben eine Aufgabe ist, die bewältigt werden
muß. Wie will man denn das „wahre Selbst” aktualisieren, wenn man den Menschen
nicht im Maße seiner Kräfte und Einsichten vor soziale Aufgaben stellt, die er
lösen muß? Laing tendiert gewissermaßen zur Anomie, d. h. zur Nivellierung von
Wertproblemen und Wertmaßstäben. Das ist oft die Konsequenz eines
übersteigerten Maternalismus, der die Fehler der fordernden Vaterwelt durch „absolute
Güte und Milde” ausgleichen will.
Ausgewählte Literatur
Barnes, M. & Barke,
J. (1973), Meine Reise durch den Wahnsinn, München: Kindler.
Basaglia, F. (Hrsg.) (1973), Die negierte Institution
oder: Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt: Suhrkamp.
Bateson, G., Jackson, D., Laing, R. D. & Lidz, Th.
(1969). Schizophrenie und Familie. Frankfurt: Suhrkamp.
Binswanger, L. (1956). Drei Formen mißglückten
Daseins. Tübingen: Niemeyer. – (1957). Schizophrenie. Pfullingen: Neske.
Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder die Gruppe
der Schizophrenien. Reprint München: K. Saur 1978.
Buber, M. (1960). Urdistanz und Beziehung. Hamburg:
Schneider, 4. Aufl. 1978. – (1965). Das dialogische Prinzip. Hamburg:
Schneider.
Cooper, D. (1971). Psychiatrie und Anti-Psychiatrie.
Frankfurt: Suhrkamp. – (1969). Die Dialektik der Befreiung. Reinbek: Rowohlt.
Esterson, A. (1975). Die Blätter des Frühlings. Eine
Studie zur Dialektik des Wahnsinns. Gießen: Focus-Verlag.
Glatzei, J. (1975). Antipsychiatrie. Stuttgart:
Fischer.
Laing, R. D. (1960). Das geteilte Selbst. Köln:
Kiepenheuer & Witsch 1972.
– (1961). Das Selbst und die Anderen. Köln:
Kiepenheuer & Witsch 1973.
- & Cooper (1964). Vernunft und Gewalt. Drei
Kommentare zu Sartres Philosophie 1950-1960. Frankfurt: Suhrkamp 1973.
Seit langem sind Psychiater sich in der „Uneinfühlbarkeit des schizophrenen Krankheitsgeschehens“ einig. Doch Laing sieht die Gründe für dieses Nichtverstehen eher beim Psychiater als bei seinen Patienten. Ihm zufolge gibt es keine allgemein anerkannten, objektiven Kriterien für die Diagnose Schizophrenie: „Der typische psychiatrische Patient ist eine Funktion des typischen Psychiaters und des typischen psychiatrischen Krankenhauses.“ Dem naturwissenschaftlich-objektivistischen Krankheitsverständnis der Psychiatrie hält Laing seine „existenzielle Phänomenologie“ und damit die Frage nach der Lebenswelt des Schizophrenen und dem biografisch bestimmten Sinn seiner Erkrankung entgegen. Die Psychoanalyse zerlegt den Menschen in Über-Ich, Ich und Es. Deshalb ist sie Laing zufolge für einen ganzheitlichen Ansatz ungeeignet. Mit Bezug auf Wilhelm Diltheys Hermeneutik beschreibt Laing Diagnose und Therapie als „Verstehen“. Schizophren Erkrankte können ihre Gegenüber verunsichern und ihnen Angst einflößen. Laing zufolge dienen Fachsprache, Diagnose- und Behandlungstechniken der Psychiatrie vor allem dazu, diese Angst und Unsicherheit in Überlegenheit zu verwandeln. Laings auch von Martin Buber geprägte Haltung des existenziellen Verstehens erfordert dagegen vom Psychiater, sich nicht scharf als „normal“ vom „Verrückten“ abzugrenzen, sondern mögliche eigene psychotische Verzerrungen zu akzeptieren und zum Verständnis der Kranken zu nutzen. Am schizophren Erkrankten sieht Laing vor allem seine „ontologische Unsicherheit“. Damit betont er, dass die Unsicherheit dieser Menschen ihr gesamtes „In-der-Welt-sein“ betrifft. „Was wird von uns gefordert?“, schreibt er. „(. . . ) Verständnis als ein Bemühen, ihn zu erreichen (. . . ), während wir in unserer eigenen Welt bleiben und ihn mit unseren eigenen Kategorien beurteilen, wodurch er unvermeidlich zu kurz kommt, das ist es nicht, was der Schizophrene wünscht oder nötig hat. Wir müssen die ganze Zeit seine Eigenheit und Verschiedenartigkeit, sein Getrenntsein, seine Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erkennen.“(Hervorhebungen von mir)
R. D. Laing - MAKING FACES [5:22]
Hochgeladen am 15.03.2011
A conversation between psychoanalyst R. D. Laing and theatre director Joseph Chaikin. Laing makes faces, then they discuss the only time his father gave his mother a birthday present.
Excerpt from "Conversation: R.D. Laing and Joseph Chaikin" Directed by Merrill Brockway (1973)
From the CBS show "Camera Three" in 1973.
R.D. Laing on Forgetting Depression [3:07]
Veröffentlicht am 26.03.2013
excerpt from "Did you used to be R.D. Laing?" Documentary portrait of Laing by Kirk Tougas and Tom Shandel.
siehe auch:
- Wissen und Bewältigung, Grundkurs Psychose (Thomas Lampert, Psychiatrie-Dienste Süd, Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie, PDF-Version einer PP-Präsentation, Datum unbekannt)