Dienstag, 18. Dezember 2012

Impulskontrolle versus unhinterfragte Interpretationskonstrukte: der Marshmallow‑Test



Stellen Sie sich vor, Sie sind vier Jahre alt, und jemand macht Ihnen den folgenden Vorschlag: Wenn du wartest, bis ich eine Besorgung erledigt habe, bekommst du zwei Bonbons. Wenn du nicht so lange warten kannst, bekommst du nur einen, aber den bekommst du sofort. Das ist sicherlich eine Herausforderung, die das Herz eines jeden Vierjährigen auf eine harte Probe stellt, ein Mikrokosmos des ewigen Kampfes zwischen Impuls und Zurückhaltung, Es und Ich, Begehren und Selbstbeherrschung, Gratifikation und Aufschub. Aus der Entscheidung des Kindes kann man einiges entnehmen; sie gibt raschen Aufschluß nicht gerade über seinen Charakter, aber doch über den Weg, den dieses Kind vermutlich im Leben nehmen wird.
Wohl keine psychologische Fähigkeit ist grundlegender als die, einem Impuls zu widerstehen; sie ist die Wurzel jeglicher emotionalen Selbstbeherrschung, da alle Emotionen ihrem Wesen nach in den einen oder anderen Handlungsimpuls münden. Die Grundbedeutung von »Emotion« ist, wie Sie sich erinnern werden, »bewegen«. Die Fähigkeit, diesem Handlungsimpuls zu widerstehen, den Ansatz einer Bewegung zu unterdrücken, wird auf der Ebene der Hirnfunktion höchstwahrscheinlich in eine präfrontale Hemmung limbischer Signale umgesetzt, die zur motorischen Rinde gelangt sind; diese Deutung ist aber einstweilen bloße Spekulation.
Eine bemerkenswerte Studie, bei der Vierjährige vor die Marshmallow‑Probe gestellt wurden, zeigt jedenfalls, wie grundlegend die Fähigkeit ist, die Emotionen zu zügeln und so den Impuls hinauszuschieben. Die Studie wurde in den sechziger Jahren von dem Psychologen Walter Mischel in einer überwiegend von Kindern von Professoren, graduierten Studenten und Universitätsangestellten besuchten Vorschule auf dem Universitätscampus von Stanford begonnen und bis zu dem Zeitpunkt fortgesetzt, als diese die Highschool beendeten.
Einige der Vierjährigen konnten die ihnen sicherlich endlos erscheinenden 15 bis 20 Minuten bis zur Rückkehr des Experimentators abwarten. Um sich in ihrem Kampf zu stärken, hielten sie sich die Augen zu, damit sie nicht auf die Versuchung starren mußten, oder sie legten den Kopf auf die Arme, führten Selbstgespräche, sangen, spielten mit Händen und Füßen oder versuchten gar, sich schlafen zu legen. Diese tapferen Vorschüler erhielten die aus zwei Marshmallows bestehende Belohnung. Andere jedoch, die impulsiver waren, schnappten sich den einen Bonbon, fast durchweg innerhalb von Sekunden, nachdem der Experimentator das Zimmer zu seiner »Besorgung« verlassen hatte.
Was der Umgang mit dieser impulsiven Situation an diagnostischer Kraft besaß, wurde rund zwölf bis vierzehn Jahre später deutlich, als man dieselben Kinder nunmehr als jugendliche untersuchte. Zwischen denen, die sich den Bonbon geschnappt hatten, und den anderen, die die Gratifikation aufgeschoben hatten, zeigte sich ein auffälliger emotionaler und sozialer Unterschied. Diejenigen, die mit vier der Versuchung widerstanden hatten, zeigten jetzt als jugendliche größere soziale Kompetenz: sie waren durchsetzungsfähig, selbstbewußt und besser in der Lage, mit den Frustrationen des Lebens fertig zu werden. Sie neigten unter Streß weniger dazu, zusammenzubrechen, starr zu werden oder zu regredieren oder nervös und fahrig zu werden, wenn sie unter Druck gesetzt wurden; Herausforderungen nahmen sie bereitwillig an und stellten sich ihnen, und selbst bei Schwierigkeiten gaben sie nicht auf, sie waren selbstsicher und zuversichtlich, vertrauenswürdig und verläßlich; sie ergriffen die Initiative und stürzten sich in Projekte. Und sie waren über ein Jahrzehnt später noch immer in der Lage, eine Gratifikation aufzuschieben, um ihr Ziel weiterzuverfolgen.
Das runde Drittel der Untersuchten, die nach dem Marshmallow gegriffen hatten, zeigte dagegen eine Tendenz, diese Vorzüge in geringerem Maße zu besitzen, und das psychologische Bild war problematischer. Bei ihnen beobachtete man eher das Gegenteil: sie schreckten vor sozialen Kontakten zurück, waren störrisch und unschlüssig; sie ließen sich von Frustrationen leicht umwerfen, hielten sich für »schlecht« und unwürdig; sie regredierten oder wurden von Streß gelähmt; sie waren argwöhnisch und ärgerten sich, daß sie »nicht genug« bekamen; sie neigten zu Eifersucht und Neid; auf Irritationen reagierten sie gereizt und provozierten dadurch Streitereien. Und sie waren nach all diesen Jahren noch immer unfähig, eine Gratifikation aufzuschieben.
Was sich früh in Ansätzen zeigt, entfaltet sich später im Leben zu einer weitgespannten sozialen und emotionalen Kompetenz. Die Fähigkeit, einem Impuls einen Aufschub aufzuerlegen, ist die Wurzel einer Fülle von Leistungen, angefangen vom Durchhalten einer Diät bis hin zum Anstreben eines medizinischen Doktorgrades. Manche Kinder hatten das Wesentliche schon mit vier begriffen: sie waren in der Lage, die Situation als eine zu deuten, in der Aufschub vorteilhaft war, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, statt auf die greifbare Versuchung zu starren, und sich abzulenken, dabei aber die nötige Ausdauer im Hinblick auf ihr Ziel, die beiden Marshmallows, aufrechtzuerhalten.
Noch überraschender war, daß die Kinder, die mit vier geduldig gewartet hatten, sich gegenüber denen, die ihrer Laune nachgegeben hatten, beim Abschluß der Highschool als weit bessere Schüler erwiesen. Nach dem Urteil ihrer Eltern besaßen sie größere intellektuelle Kompetenz: sie konnten ihre Ideen besser in Worte fassen, sie konnten besser logisch argumentieren und auf Argumente reagieren, konnten sich besser konzentrieren, besser Pläne machen und sie verwirklichen, und sie zeigten größeren Lerneifer. Das Erstaunlichste war: sie erreichten beim SAT‑Test entschieden höhere Punktzahlen. Im verbalen und im quantitativen (auch »mathematischen«) Test erreichte das Drittel der Kinder, die mit vier am eifrigsten nach dem Marshmallow gegriffen hatten, durchschnittlich 524 bzw. 528 Punkte; das Drittel, das am längsten gewartet hatte, kam im Mittel auf 610 bzw. 652 Punkte ‑ zusammengenommen eine Differenz von 210 Punkten.
Das Abschneiden der Kinder im Alter von vier Jahren bei diesem Test des Gratifikationsaufschubs ist als Vorhersagemaßstab für ihre künftigen SAT‑Ergebnisse doppelt so leistungsfähig wie ihr IQ mit vier (der IQ wird erst zu einem starken Vorhersagemaßstab für die SAT‑ Ergebnisse, nachdem die Kinder lesen gelernt haben).' Die Fähigkeit, eine Gratifikation aufzuschieben, trägt demnach ganz unabhängig vom IQ erheblich zur intellektuellen Leistungsfähigkeit bei. Von manchen wird, wie wir im Sechsten Teil sehen werden, die Ansicht vertreten, der IQ sei nicht zu beeinflussen und stelle daher eine unabänderliche Beschränkung der späteren Leistungsfähigkeit eines Kindes dar, doch spricht vieles dafür, daß emotionale Fähigkeiten wie die Impulskontrolle und das Verstehen dessen, was in einer sozialen Situation verlangt wird, tatsächlich erlernt werden können.
Was Walter Mischel, der die Untersuchung durchführte, mit der ziemlich ungeschickten Wendung »zielgerichteter selbstauferlegter Gratifikationsaufschub« bezeichnet, ist vielleicht der Kern der emotionalen Selbstregulierung: die Fähigkeit, dem Impuls zu widerstehen, um einem Ziel zu dienen, ob man nun ein Buch schreibt, eine algebraische Gleichung löst oder den Stanley Cup, die Meisterschaft der National Hockey League, zu erringen sucht. Sein Ergebnis unterstreicht die Bedeutung der emotionalen Intelligenz als einer Meta‑Fähigkeit, von der es abhängt, wie gut oder schlecht man seine sonstigen geistigen Fähigkeiten nutzen kann.

aus Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, Kap. Die übergeordnete Fähigkeit, S. 109 ff



siehe auch:
- What Does the Marshmallow Test Actually Test? (Drake Bennett, Bloomberg Bussiness, 17.10.2012)
A new study (PDF), however, suggests that we may be taking, at best, an incomplete lesson from Mischel’s work. Celeste Kidd, a cognitive science graduate student at the University of Rochester, is the lead author on the paper. When she was younger, Kidd spent some time working in shelters for homeless families. She began to wonder how growing up in such a setting, full of change and uncertainty, might shape the way kids responded to the sort of situation Mischel’s study presented. “Working there gave me some strong intuitions about what kids who were in that situation would do, given the marshmallow task,” she says. “I’m fairly sure those kids would eat the marshmallow right away.” Not because they were weak-willed, but because very little in their upbringing had given them much reason to believe that adults would do what they said they would. What was missing from Mischel’s famous experiment, Kidd argues, was trust. After this, the kids were given the marshmallow test. The results were dramatic: Nine out of the 14 kids in the reliable condition held out 15 minutes for a second marshmallow, while only one of the 14 in the unreliable condition did. If kids were unsure they were going to get a second marshmallow, they didn’t bother to wait.

As it turns out, Mischel himself has looked at the role trust and confidence play in a person’s ability to delay gratification. Reached while traveling in Europe and asked about the new study, he responded with an e-mail linking to three of his early papers. One of them, from 1961, looked at whether coming from a fatherless household affected a child’s willingness to wait for a reward.
mein Kommentar:
Nach der Lektüre des zweiten Artikels war ich entsetzt: Die Wissenschaftler hatten als selbstvertsändlich vorausgesetzt, was nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf (und ich bin ihnen in den Jahren, in denen ich diesen Artikel kenne, kritiklos gefolgt): Das Vertrauen in die elterliche Autorität.
Das sofortige Verspeisen eines Marshmellows wird im ersten Artikel als fehlende Impulskontrolle interpretiert. Und diese Interpretation bedeutet eine erneute Traumatisierung des schon durch die fehlende Verläßlichkeit der Eltern traumatisierten Kindes: Das Kind wird für die fehlende elterliche Verläßlichkeit durch die Zuschreibung mangelnder Impulskontrolle »bestraft«: Der Mangel der Eltern wird zum Mangel des Kindes…
Rather than being engaged in a desperate struggle against their own appetites, the young subjects of her study were carefully calculating the likelihood that they would actually get a second marshmallow. Her work suggests that getting kids to be better at waiting—in the lab and in life—is a matter of persuading them that there’s something worth waiting for.
Auf diese Weise konstruieren Interpretationen Realität: »Dir fehlt einfach nur Disziplin!« – Vorsicht vor Interpretationen von außen! Anscheinend hat keiner der untersuchenden Wissenschaftler sich in die getesteten Kinder hineinversetzen können/wollen. Empathiemangel kann furchtbare Folgen haben!
Der Schizophrene ist ein Mensch ohne Hoffnung. Ich habe niemals einen Schizophrenen gekannt, der sagen konnte, daß er geliebt wurde, als ein Mensch, von Gott dem Vater oder von der Mutter Gottes oder von einem anderen Menschen. Er ist entweder Gott oder der Teufel oder in der Hölle gottentfremdet. Wenn jemand sagt, er sei ein unwirklicher Mensch oder er sei tot, mit aller Wahrhaftigkeit in radikaler Form die nackte Wahrheit seiner Existenz, wie er sie erfährt, ausdrückend, ist das – Verrücktheit. Was wird von uns gefordert? Ihn zu verstehen? Der innerste Kern der Erfahrung des Schizophrenen von sich selbst muß für uns unbegreiflich bleiben. Solange wir gesund sind und er verrückt ist, wird das so bleiben. Aber Verständnis als ein Bemühen, ihn zu erreichen und zu fassen, während wir in unserer eigenen Welt bleiben und ihn mit unseren eigenen Kategorien beurteilen, wodurch er unvermeidlich zu kurz kommt, das ist es nicht, was der Schizophrene wünscht oder nötig hat. Wir müssen die ganze Zeit seine Eigenheit und Verschiedenartigkeit, sein Getrenntsein, seine Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erkennen. (Ronald D. Laing, Das geteilte Selbst, 1960, dt. 1972)


Montag, 17. Dezember 2012

Kämpfe in der Ehe


Solche ausgesprochenen unlauteren Kämpfe zwischen den Geschlechtern werden in dem schaurig-schönen Langzeitvertrag namens Ehe mit großer Kunstfertigkeit ausgetragen. Trotzdem erscheint mir in unserer gegenwärtigen Kultur die Verpflichtung zu einer lebenslangen monogamen Verbindung noch als die lohnendste Alternative. Sicher, ich möchte auch für die anderen Möglichkeiten offen sein, die von den Sprechern und Sprecherinnen der sexuellen Revolution, der Frauenbefreiung, des gemeinschaftlichen Lebens vorgeschlagen werden, aber ich muß zugeben, daß es mir schwerfällt zu glauben, daß neue Lösungen nicht neue Probleme aufwerfen werden. Ich sehe die lebenslange monogame Ehe als den derzeit besten Schutz gegen Einsamkeit an, als den besten erreichbaren Rahmen, um Kinder aufzuziehen, als den praktikabelsten Vertrag für gegenseitige Hilfe und für Freiheit in einer Welt, die es dem Einzelnen sehr schwer macht, in ihr zurecht zu kommen.

Natürlich ist die Ehe auch einengend, frustrierend und zeitweilig sehr schmerzhaft. An dieser Tatsache wird, glaube ich, deutlich, wie unglaublich schwer es ist, das Zentrum seines eigenen Lebens mit einem anderen, völlig getrennten Individuum zu teilen. Ich bin nicht einmal sicher, ob die Vorteile jemals die Schwierigkeiten klar überwiegen. Aber mit der Ehe ist es so wie mit dem Geldverdienen, es hat wenig Sinn, Soll und Haben nachzurechnen, um herauszufinden, ob man zufrieden ist oder nicht, solange es keine neue Lösungsmöglichkeit gibt. Gewiß, man kann (und manchmal ist es ratsam) eine neue Arbeit, einen neuen Gefährten suchen, aber zur Zeit scheint der Entschluß, dauernd ohne Arbeit und allein zu bleiben, größere Probleme zu erzeugen als er löst.

Viele der Leute, die mich als Psychiater um Hilfe bitten, kommen, weil sie Schwierigkeiten in der Ehe haben. Die Ironie dieser starrsinnigen Kämpfe liegt oft darin, daß einer der Ehepartner sich beklagt, er müsse mit einem Menschen leben, der sich auf eine Weise verhält, die er (oder sie) in der Zeit der Werbung höchst attraktiv gefunden hat. Die Frau zum Beispiel, die einst froh war, einen solchen Partner gefunden zu haben, fühlt sich nun enttäuscht und allein gelassen. Als sie ihm zum erstenmal begegnete, war sie von seiner Beständigkeit, seiner Selbstbeherrschung und Vernünftigkeit angezogen. Es war ebenso klar wie erfreulich für sie, daß er nicht so leicht aus der Bahn zu werfen, ›objektiv‹ in seinen Ansichten und sehr, sehr praktisch war. Bei seiner wohlüberlegten Distanziertheit konnte man offenbar darauf zählen, daß er sie vor ihrer kopflosen Impulsivität schützen und darauf achten würde, daß sie nicht alles durcheinanderbrachte und verdarb. Aber als was für eine schreckliche Enttäuschung erwies er sich dann! Jetzt findet sie, daß er kalt, unnachgiebig und schwerfällig ist; er ignoriert hartnäckig ihre Gefühle, und es macht überhaupt keinen Spaß, in seiner Nähe zu sein.

Diese pejorative Beschreibung von Unzulänglichkeiten, die einmal als Tugenden erschienen waren, ist durchaus nicht auf die weibliche Kampfpartei beschränkt. Ihr Mann hat sich einmal weise und glücklich geschätzt, eine Frau gefunden zu haben, die so lebhaft und frei in ihren Gefühlen, so begeisterungsfähig, herzlich und energiegeladen war. Jetzt hat er die Nase voll. Sie hat überhaupt keinen praktischen Verstand, verlangt Unmögliches, mehr als irgendwer jemals geben kann, und wird völlig irrational, wenn sie nicht bekommt, was sie haben will. Er begegnet diesem Ansturm natürlich zunächst dadurch, daß er versucht, ›vernünftig‹ zu sein, und dann, indem er sich in anhaltendes, gedankenvolles Schweigen zurückzieht. Er begreift nicht, daß seine Distanz sie nicht ruhig macht, und sie kann nicht verstehen, daß er nicht auf ihre Einsamkeit reagiert, die sie durch jammervolles Weinen ausdrückt oder indem sie schreit: »Du tust nichts weiter, als dir deine blöden Ballspiele im Fernsehen anzusehen!« Jeder will seinen Kopf durchsetzen, ohne sich dabei eine Blöße zu geben, aus Angst, er könne als der Nachgebende erscheinen.
Ein Teil dessen, was die Leute in der Ehe suchen, ist ihre eigene zweite Hälfte. Jeder von uns ist in gewisser Weise unvollständig; einige Seiten sind überentwickelt, andere vernachlässigt. Was wir selbst nicht zu haben glauben (zum Beispiel Aggressivität oder Güte, Spontaneität oder Stabilität), suchen wir im anderen. Besonders extrem zeigt sich das in Ehen zwischen Neurotikern, die ein so verdrehtes Bild von sich selbst haben, daß sie sich Partner suchen, die Karikaturen vom anderen Ende des Persönlichkeitsspektrums sind (etwa die schüchterne, gehemmte Frau, die sich einen starken, super-abenteuerlichen Romanhelden von einem Mann aussucht, der seinerseits ein Weibchen haben will, das viel zuviel Angst hat, um ihm Schwierigkeiten machen zu können). Bis zu einem gewissen Grade heiraten wir alle, um unsere eigenen Mängel auszugleichen. Als Kind kann sich niemand allein gegen die Familie und gegen die Gemeinschaft stellen, und unter normalen Umständen befindet er sich nicht in der Position, sich absetzen und sein Leben anderswo aufbauen zu können. Um als Kinder zu überleben, mußten wir in uns all das verstärken, was die, von denen wir abhingen, erfreute, und die Verhaltensweisen verleugnen, die sie nicht akzeptieren konnten. Auf diese Weise wachsen wir, einer mehr, einer weniger, in unproportionierte Gestaltungen dessen hinein, was unser Leben als Mensch sein könnte. Was uns fehlt, suchen wir in denen, die wir uns als Partner wählen, und bekämpfen es dann. Wir heiraten den anderen, weil er (sie) anders ist als wir, und dann klagen wir: »Warum kann er (sie) nicht mehr so wie ich sein?«

Wenn wir jemanden heiraten, der uns ähnlich ist, mögen wohl andere Arten von Unheil daraus entstehen. Zwei verzagte Seelen etwa würden ihre Vorsicht wechselseitig potenzieren und bald überhaupt nicht mehr wagen, irgend etwas Neues auszuprobieren. Ein abenteuerlustiges Paar mag durch eine Eskalation der Verwegenheit in eine Spirale von Katastrophen geraten. Ob es uns paßt oder nicht, gerade die Unterschiede zwischen Ehepartnern sind sowohl die Stärke einer guten Ehe als auch das Risiko einer schlechten.

Wenn ich mit Paaren arbeite, die solche Schwierigkeiten haben, weise ich auf diese Dinge hin und frage beispielsweise den unternehmungslustigen Ehemann: »Was würde eigentlich passieren, wenn Ihre Frau, jedesmal wenn Sie so einen impulsiven Phantasieflug ausspinnen, sagen würde: ›Prima, mach mal!‹?« oder zu der vorsichtigen Frau: »Wo würden Sie wohl hinkommen, wenn ihre Zweifel auf dieselben Zweifel in Ihrem Mann stoßen würden, wenn Sie dann steckenblieben und nicht mehr angespornt würden weiterzumachen, egal wie groß der Widerwille ist?«

Man kann sich die Ursprünge dieser Kämpfe klarmachen, wenn man davon ausgeht, wie Kinder im Umgang mit ihren Eltern ihre Identität anpassen. Was ich über die Identifikation des kleinen Jungen mit seinen Eltern sagen werde, gilt genau so für die entsprechende Persönlichkeit des Mädchens. Darüber hinaus ist es offenbar keineswegs zwingend, daß sich ein Kind mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifiziert.

Diese Variationsmöglichkeiten vorausgesetzt, stellen wir uns nun einmal das stark vereinfachte Beispiel eines Jungen vor, der sich mit einem distanzierten, passiven, allzu beherrschten Vater identifiziert. Seine Mutter neigt zu Aggressivität und dramatischen Gefühlsausbrüchen. Wenn der junge erwachsen ist, wird er jemanden heiraten, der seiner aggressiven Mutter ähnelt, mit der er sich nicht identifizieren konnte. Bald werden ihm genau die Qualitäten, die ihn angezogen haben, als unterdrückend erscheinen, und er wird darauf bestehen, daß sie mehr so wird wie sein passiver, distanzierter Vater, mit dem er sich identifizierte. Falls sie aber auf seinen Wunsch einzugehen versucht, wird er sich beklagen, daß sie sich zu wenig ändert oder zu spät oder irgendwie anders, als er es sich vorgestellt hat. Ich habe mich immer gewundert, wieso es so viele Eheschwierigkeiten gibt: jetzt, wo ich mehr über den Starrsinn weiß, mit dem wir alle so gern unseren eigenen Kopf rücksichtslos durchzusetzen versuche, bin ich eher erstaunt, daß wir bei unserer Suche nach Liebe so oft erfolgreich sind.

aus Sheldon B. Kopp, Triffst Du Buddha unterwegs…

Samstag, 15. Dezember 2012

Streitigkeiten in der Partnerschaft




9 Intimfeinde

Lieben und arbeiten, hat Sigmund Freud einmal gegenüber seinem Schüler Erik Erikson geäußert, seien die beiden Fähigkeiten, durch die sich vollständige Reife auszeichne. Wenn das wahr ist, könnte die Reife ein gefährdetes Lebensstadium sein – und angesichts der jüngsten Entwicklungen in Ehe- und Scheidungsfragen kommt der emotionalen Intelligenz eine womöglich noch größere Bedeutung zu als jemals zuvor.
Nehmen wir die Scheidungsziffern. Auf das Jahr bezogen, hat sich die Zahl der Scheidungen in etwa stabilisiert. Man kann die Ziffern aber auch anders betrachten, und dann zeigt sich ein bedrohlicher Anstieg: wenn man nämlich die Aussichten betrachtet, daß die Ehe eines frisch verheirateten Paares irgendwann geschieden wird. Die Gesamtzahl der Scheidungen steigt zwar nicht weiter an, doch das Scheidungsrisiko hat sich zu den Neuvermählten hin verschoben.
Die Veränderung wird deutlicher, wenn wir die Scheidungsziffern auf die Eheschließungen eines bestimmten Jahres beziehen. Von den amerikanischen Ehen, die 1990 geschlossen wurden, endeten rund zehn Prozent mit der Scheidung. Dieser Anteil betrug für die 1920 geschlossenen Ehen rund achtzehn Prozent, für die 1950 geschlossenen Ehen dreißig Prozent. 1970 betrug die Chance, daß Neuvermählte sich trennen oder zusammenbleiben, 50 : 50. Und 1990 wurde die Wahrscheinlichkeit, daß die Ehe von Frischvermählten mit einer Scheidung enden würde, auf schwindelerregende 67 Prozent geschätzt! Wenn sich das bewahrheitet, können diejenigen, die in den letzten Jahren geheiratet haben, nur in drei von zehn Fällen damit rechnen, daß sie mit ihrem Partner zusammenbleiben werden.
Nun könnte man meinen, daß dieser Anstieg nicht so sehr auf einem Niedergang der emotionalen Intelligenz als vielmehr auf dem stetigen Abbröckeln sozialer Zwänge beruht - etwa dem Stigma, das der Scheidung anhaftete, oder der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Frauen von ihren Männern -, die früher auch solche Partner, die überhaupt nicht zueinander paßten, zusammenhielten. Wenn aber soziale Zwänge nicht mehr der Kitt sind, der eine Ehe zusammenhält, dann kommt es um so mehr auf die emotionalen Kräfte zwischen den Ehepartnern an.
Diese Bindungen zwischen Mann und Frau – und die emotionalen Bruchlinien, die sie zerreißen können – sind in den letzten Jahren mit einer nie gekannten Präzision untersucht worden. Den größten Fortschritt im Verständnis dessen, was eine Ehe zusammenhält beziehungsweise zerreißt, haben wohl raffinierte physiologische Messungen gebracht, mit denen das, was in der Interaktion eines Paares unsichtbar bleibt, verfolgt werden kann. Der normalerweise unsichtbare Adrenalinstoß und der sprunghafte Anstieg des Blutdrucks beim Mann und die flüchtigen, aber vielsagenden Mikroemotionen, die über das Gesicht der Frau flackern, können jetzt von Wissenschaftlern festgestellt werden. Diese Messungen enthüllen den verborgenen biologischen Subtext der Schwierigkeiten eines Paares, eine wichtige Ebene der emotionalen Realität, die für das Paar selbst zumeist nicht wahrnehmbar ist oder unbemerkt bleibt. Sie legen die emotionalen Kräfte offen, die eine Beziehung entweder zusammenhalten oder zerstören. Die ersten Anfänge der Bruchlinien stecken in den Differenzen zwischen den emotionalen Welten von jungen und Mädchen.

Seine Ehe und ihre Ehe: Wurzeln in der Kindheit

Als ich neulich abends ein Restaurant betreten wollte, kam mir ein junger Mann mit einem versteinerten, düsteren Gesichtsausdruck entgegen. Ihm folgte auf den Fersen eine junge Frau, die seinen Rücken mit den Fäusten bearbeitete und schrie. »Du verdammter Kerl! Komm wieder rein und sei nett zu mir!« Diese ergreifende Bitte, die sich - in sich völlig widersprüchlich - an eine Kehrseite auf dem Rückzug richtete, charakterisiert das Muster, das man am häufigsten bei Paaren beobachtet, deren Beziehung nicht funktioniert: Sie versucht, ihn zu binden, er zieht sich zurück. Ehetherapeuten beobachten seit langem, daß ein Paar, wenn es schließlich den Weg zur Therapie beschreitet, sich in dieser Struktur von Bindung und Rückzug befindet; er klagt über ihre »unzumutbaren« Ansprüche und Ausbrüche, sie beklagt seine Gleichgültigkeit gegenüber dem, was sie sagt.
In dieser Schlußphase einer Ehe äußert sich die Tatsache, daß es in einer Paarbeziehung zwei emotionale Realitäten gibt: seine und ihre. Es mag zwar biologische Gründe für diese emotionalen Differenzen geben, aber sie lassen sieh auch auf die Kindheit zurückführen, auf die getrennten emotionalen Welten, in denen Jungen und Mädchen aufwachsen. Es gibt umfangreiche Untersuchungen über diese getrennten Welten, deren Barrieren nicht nur durch die unterschiedlichen Spiele verstärkt werden, die von Jungen und Mädchen bevorzugt werden, sondern auch durch die Furcht des Kindes davor, gehänselt zu werden, wenn es eine »Freundin« oder einen »Freund« hat. Eine Untersuchung über die Freundschaften von Kindern stellte fest, daß Dreijährige sagen, etwa die Hälfte ihrer Freunde sei vom anderen Geschlecht; bei Fünfjährigen sind es rund zwanzig Prozent, und mit sieben gibt es kaum noch Jungen und Mädchen, die sagen, ihr bester Freund gehöre dem anderen Geschlecht an. Diese getrennten sozialen Welten überschneiden sich kaum, his die Teenager anfangen, sich füreinander zu interessieren.
Bis dahin lernen Jungen und Mädchen einen ganz unterschiedlichen Umgang mit Emotionen. Eltern sprechen über Emotionen - den Zorn ausgenommen - häufiger mit ihren Töchtern als mit ihren Söhnen. Mädchen erhalten mehr Information über Emotionen als jungen: Wenn Eltern sich für ihre Kinder im Vorschulalter Geschichten ausdenken, verwenden sie gegenüber Töchtern mehr emotionale Wörter als gegenüber Söhnen; wenn Mütter mit ihren kleinen Kindern spielen, zeigen sie Töchtern ein breiteres Spektrum an Emotionen als Söhnen; wenn Mütter mit ihren Töchtern über Gefühle sprechen, gehen sie ausführlicher auf den emotionalen Zustand selbst ein, als sie dies bei Söhnen tun, während sie hei den Söhnen ausführlicher über die Ursachen und Folgen von Emotionen sprechen (vermutlich im Sinne eines warnenden Beispiels).
Leslie Brody und Judith Hall kommen in ihrer Zusammenfassung der Untersuchungen über emotionale Differenzen zwischen den Geschlechtern zu dem Schluß, daß Mädchen, weil sie schneller sprachliche Gewandtheit entwickeln als Jungen, ihre Gefühle besser artikulieren können und geschickter darin sind, emotionale Reaktionen wie etwa physische Auseinandersetzungen verbal zu untersuchen und durch Worte zu ersetzen; umgekehrt kann die Tatsache, »daß bei Jungen weniger Wert auf die Verbalisierung von Affekten gelegt wird, dazu führen, daß ihre emotionalen Zustände, sowohl hei sich wie hei anderen, ihnen weitgehend unbewußt bleiben«.
Wenn Mädchen miteinander spielen, geschieht es in kleinen, intimen Gruppen, in denen die Minimierung von Feindseligkeit und die Maximierung von Kooperation betont wird, während die Spiele von Jungen in größeren Gruppen stattfinden und die Konkurrenz betont wird. Ein entscheidender Unterschied wird deutlich, wenn ein Spiel dadurch unterbrochen wird, daß sich jemand weh getan hat. Hat sich ein Junge verletzt und fängt an zu schreien, so erwarten die anderen, daß er zur Seite geht und aufhört zu weinen, damit das Spiel weitergehen kann. Passiert dasselbe in einer Gruppe spielender Mädchen, wird das Spiel abgebrochen, und alle scharen sich um das weinende Mädchen, um ihm zu helfen. Dieser Unterschied ist bezeichnend für das, was Carol Gilligan aus Harvard als eine wesentliche Disparität zwischen den Geschlechtern betrachtet: Jungen beziehen ihren Stolz aus einer einsamen, unbeugsamen Unabhängigkeit und Autonomie, während Mädchen sich als Teil eines Netzes der Verbundenheit sehen. Jungen fühlen sich daher von allem bedroht, das ihre Unabhängigkeit gefährden könnte, während Mädchen sich eher von einem Bruch ihrer Beziehungen bedroht fühlen. Wie Deborah Tannen in ihrem Buch You Just Don’t Understand gezeigt hat, folgt aus dieser unterschiedlichen Perspektive, daß Männer und Frauen ganz verschiedene Dinge von einem Gespräch erwarten; Männer begnügen sich damit, über »Dinge« zu sprechen, während Frauen eine emotionale Verbindung suchen.
Diese unterschiedliche Schulung der Emotionen fördert ganz verschiedene Fähigkeiten; Mädchen werden »geschickt darin, verbale und nonverbale emotionale Signale zu deuten, ihre Gefühle auszudrücken und mitzuteilen«, Jungen entwickeln Geschicklichkeit darin, »Emotionen herunterzuspielen, die mit Verletzlichkeit, Schuld, Furcht und Schmerz zu tun haben«. In der Fachliteratur findet sich eine Fülle von Beweisen für diese unterschiedliche Perspektive. So wurde in Hunderten von Studien festgestellt, daß Frauen im Durchschnitt mehr Empathie aufbringen als Männer, jedenfalls wenn man von der Fähigkeit ausgeht, am Gesichtsausdruck, am Tonfall der Stimme und an anderen nonverbalen Hinweisen die unausgesprochenen Gefühle eines anderen abzulesen. Desgleichen ist es bei Frauen im allgemeinen leichter als bei Männern, die Gefühle vom Gesicht abzulesen; bei Kleinkindern besteht, was die Ausdrucksfähigkeit des Gesichts angeht, noch kein Unterschied zwischen Jungen und Mädchen, doch im Laufe der Grundschuljahre werden Jungen weniger ausdrucksfähig, und bei Mädchen wächst die Expressivität. Dies mag auch auf einem anderen wichtigen Unterschied beruhen: Frauen erleben das gesamte Spektrum der Emotionen im Durchschnitt intensiver und lebhafter als Männer insofern sind Frauen tatsächlich »emotionaler« als Männer.
Frauen sind also, wenn sie heiraten, im allgemeinen auf die Rolle des Managers der Emotionen vorbereitet, während Männer sehr viel weniger zu schätzen wissen, wie sehr diese Aufgabe dazu beiträgt, eine Beziehung am Leben zu erhalten. In einer Untersuchung an 264 Paaren gaben die Frauen - nicht aber die Männer - an, am wichtigsten für die Zufriedenheit mit ihrer Beziehung sei das Gefühl, daß die Partner »sich gut verstehen« . Der Psychologe Ted Huston von der Universität von Texas zieht aus einer Tiefenuntersuchung an 130 Paaren den Schluß: »Für die Frauen bedeutet Intimität, über alles zu sprechen, besonders über die Beziehung selbst. Die Männer verstehen im allgemeinen nicht, was die Frauen von ihnen wollen. Sie sagen: »Ich will mit ihr etwas machen, aber sie will bloß reden.« Während der Werbungsphase waren Männer, wie Huston herausfand, sehr viel eher zu Gesprächen bereit, die dem Wunsch ihrer künftigen Ehefrau nach Intimität entsprachen. Doch nach der Hochzeit ging die Bereitschaft der Männer besonders in eher traditionellen Ehen - zu solchen Gesprächen mit ihrer Frau immer mehr zurück; statt über Dinge zu sprechen, genügte es ihnen, wenn sie zusammen mit der Frau etwas machten, zum Beispiel Gartenarbeit, um ein Gefühl der Nähe zu empfinden.
Dieses Stummerwerden mag auch darauf beruhen, daß Männer eher ein optimistisches Bild vom Zustand ihrer Ehe haben, während Frauen sich mehr auf die Schwierigkeiten konzentrieren. Eine Untersuchung an Ehepaaren ergab, daß die Männer praktisch alles, was mit ihrer Beziehung zu tun hatte - die sexuelle Seite ebenso wie die finanzielle, das Verhältnis zu den Schwiegereltern ebenso wie die Frage, wie gut sie einander zuhörten, oder die, welche Rolle ihre eigenen Fehler spielten -, rosiger einschätzten als ihre Frauen. Frauen äußern sich im allgemeinen bereitwilliger über ihre Beschwerden als Männer, besonders bei unglücklichen Paaren. Nimmt man die rosigen Ansichten der Männer über ihre Ehe und ihre Abneigung gegen emotionale Konfrontationen zusammen, dann ist klar, warum Frauen sich sooft beklagen, daß ihre Männer einer Diskussion über die schwierigen Seiten ihrer Beziehung auszuweichen suchen. (Dieser Geschlechterunterschied gilt natürlich nur im Durchschnitt und nicht in jedem Einzelfall; ein mit mir befreundeter Psychiater klagte, in seiner Ehe sträube sich die Frau, über emotionale Probleme zwischen ihnen zu diskutieren, und es liege allein an ihm, sie zur Sprache zu bringen.)
Was folgt nun aus dieser Kluft zwischen den Geschlechtern für den Umgang mit den Unzufriedenheiten und Meinungsverschiedenheiten, die in jeder engeren Beziehung unvermeidlich sind? Einzelfragen zum Beispiel, wie oft man miteinander schläft, wie die Kinder erzogen werden sollen oder wie hoch eine noch erträgliche Verschuldung sein darf - sind für den Bestand einer Ehe nicht entscheidend. Das Schicksal einer Ehe hängt nicht so sehr von Klagen über Einzelprobleme wie Sex, Kinder oder Geld als vielmehr davon ab, wie die Partner solche wunden Punkte diskutieren. Wichtig für den Bestand der Ehe ist, daß man sich darüber verständigt, in welchem Sinne man sich nicht versteht; Männer und Frauen müssen ihre angeborenen Geschlechterunterschiede im Herangehen an schwankende Emotionen überwinden. Sonst kann es leicht zu einer emotionalen Entzweiung kommen, der ihre Beziehung schließlich nicht standhält. Wie wir sehen werden, entwickelt sich eine solche Entzweiung sehr viel eher, wenn einer der Partner oder beide gewisse Defizite an emotionaler Intelligenz haben.


Eheliche Bruchlinien

Fred: Hast du meine Sachen von der Reinigung abgeholt?
Ingrid (nachäffend): »Hast du meine Sachen von der Reinigung abgeholt?« Hol deine verdammten Sachen selbst von der Reinigung ab. Bin ich etwa dein Dienstmädchen?
Fred: Wohl kaum. Dann wüßtest du zumindest, wie man richtig putzt. Wäre dies ein Dialog aus einer Situationskomödie, könnte man vielleicht darüber lachen. Doch dieser verletzend scharfe Wortwechsel fand zwischen zwei Ehepartnern statt, die (wohl nicht überraschend) einige Jahre später geschieden wurden Er wurde aufgezeichnet in einem Labor der Universität von Washington, wo der Psychologe John Gottman den emotionalen Kitt, der Paare zusammenhält, und die ätzenden Gefühle, die Ehen zerstören können, mit wohl beispielloser Gründlichkeit untersucht hat. Die Gespräche der Paare wurden auf Video aufgenommen und dann in stundenlanger Feinanalyse auf unterirdische emotionale Strömungen untersucht. Diese Erfassung der Bruchlinien, von denen es abhängt, ob ein Paar sich scheiden läßt oder zusammenbleibt, zeigt unwiderleglich, daß der Erhalt einer Ehe entscheidend von der emotionalen Intelligenz abhängt.
Gottman hat in den letzten zwanzig Jahren das Auf und Ab von über zweihundert Paaren verfolgt, die teils frischvermählt, teils jahrzehntelang verheiratet waren. Er hat die emotionale Ökologie der Ehe derart genau kartiert, daß er - eine für Ehestudien beispiellose Genauigkeit mit einer Zuverlässigkeit von 94 Prozent vorhersagen konnte, welche der in sein Labor gekommenen Paare (darunter Fred und Ingrid mit ihrem erbitterten Wortwechsel) sich binnen drei Jahren scheiden lassen würden.
Die Vorhersagekraft von Gottmans Analyse verdankt sich seiner umfassenden Methode und der Gründlichkeit seiner Untersuchung. Während die Ehepartner miteinander sprechen, halten Sensoren die geringsten Veränderungen ihrer Physiologie fest; ihr Gesichtsausdruck wird (mit der von Paul Ekman entwickelten Methode zur Deutung von Emotionen) von Sekunde zu Sekunde auf die flüchtigsten und subtilsten Gefühlsnuancen hin untersucht. Anschließend kommen die Partner einzeln ins Labor und schildern, während sie die Videoaufzeichnung betrachten, was sie während des hitzigen Wortwechsels insgeheim gedacht haben. Es entsteht so etwas wie ein emotionales Röntgenbild der Ehe.
Ein frühes Warnsignal für eine gefährdete Ehe ist, wie Gottman herausfand, scharfe Kritik. In einer gesunden Ehe können beide Partner ungehemmt einer Beschwerde Ausdruck gehen. Doch in wütender Erregung werden Beschwerden allzu häufig auf destruktive Weise vorgetragen, als ein Angriff auf den Charakter des Ehegatten. Pamela ging zum Beispiel mit der Tochter Schuhe kaufen, während Ehemann Tom in eine Buchhandlung ging. Sie vereinbarten, sich eine Stunde später vor der Post zu treffen und dann in eine Matinee zu gehen. Pamela war pünktlich, doch von Tom war nichts zu sehen. »Wo bleibt er? Der Film beginnt in zehn Minuten«, beklagte sich Pamela bei ihrer Tochter. »Wenn dein Vater eine Möglichkeit hat, etwas zu vermasseln, dann tut er es bestimmt.«
Als Tom zehn Minuten später aufkreuzte, erfreut, zufällig einen Freund getroffen zu haben und sich wegen der Verspätung entschuldigend, zog Pamela sarkastisch vom Leder: »Schon gut - das verschaffte uns eine Gelegenheit, über deine verblüffende Fähigkeit zu sprechen, alles, was wir uns vornehmen, zu vermasseln. Du bist so gedankenlos und egozentrisch!«
Pamelas Beschwerde ist mehr als das: sie ist ein Anschlag auf den Charakter, eine Kritik an der Person, nicht am Handeln. Tatsächlich hatte Tom sich entschuldigt. Doch wegen dieses einen Lapsus stempelt Pamela ihn als gedankenlos und egozentrisch ab. Bei den meisten Paaren kommt es dann und wann vor, daß eine Klage über etwas, was der Partner getan hat, als Angriff auf die Person statt auf die Handlung vorgetragen wird. Eine solche scharfe persönliche Kritik hat jedoch eine ganz andere emotionale Wirkung als eine besser durchdachte Beschwerde wegen einer Handlung. Solche Angriffe werden -verständlicherweise - um so wahrscheinlicher, je mehr er oder sie das Gefühl hat, daß seine oder ihre Beschwerden überhört oder ignoriert werden.
Der Unterschied zwischen Beschwerde und persönlicher Kritik ist einfach. Bei einer Beschwerde sagt die Frau präzise, was sie stört, sie kritisiert also die Handlungsweise ihres Mannes, nicht ihren Mann, und sagt, was sie dabei empfunden hat: »Als du vergessen hast, meine Sachen bei der Reinigung abzuholen, hatte ich das Gefühl, daß dir nichts an mir liegt.« Das ist eine Äußerung von elementarer emotionaler Intelligenz: positiv, nicht aggressiv oder passiv. Bei persönlicher Kritik nutzt sie dagegen das spezifische Ärgernis, um eine globale Attacke gegen ihren Mann loszulassen: »Du bist immer so gedankenlos und eigensüchtig. Es beweist wieder einmal, daß ich dir nicht zutrauen kann, daß du irgend etwas richtig machst.« Solche Kritik gibt der anderen Person das Gefühl, beschämt, abgelehnt, getadelt und unzulänglich zu sein - und das zieht eher eine Abwehrreaktion nach sich als irgendwelche Schritte zur Verbesserung.
Das gilt um so mehr, wenn der Kritik Verachtung beigemengt ist, eine besonders destruktive Emotion. Wenn man verärgert ist, stellt sich leicht Verachtung ein, und sie wird nicht nur in den Worten geäußert, sondern auch im Tonfall der Stimme und im verärgerten Gesichtsausdruck. Ihre unverkennbarste Form ist natürlich die Nachäffung und die Beleidigung - »Trottel«, »Schlampe«, »Niete«. Nicht minder verletzend ist aber auch die Verachtung ausdrückende Körpersprache, besonders das höhnische Lächeln oder das Schürzen der Lippen, das in allen Kulturen Abscheu signalisiert, oder ein Augenrollen, so als wolle man sagen: »Ach herrjemine!«
Im Gesicht zeigt sich Verachtung durch eine Kontraktion des »Grübchenmuskels«, der die Mundwinkel nach außen zieht (gewöhnlich nach links), während die Augen nach oben gerollt werden. Wenn ein Ehepartner kurz diesen Ausdruck zeigt, erhöht sich beim anderen in einem wortlosen emotionalen Austausch der Puls um zwei bis drei Schläge pro Minute. Dieses verborgene Gespräch fordert seinen Tribut; wenn der Mann regelmäßig Verachtung bekundet, neigt seine Frau, wie Gottman herausfand, zu allerlei Gesundheitsproblemen, bekommt häufig Erkältung oder Schnupfen, Blasen- und Pilzinfektionen sowie gastrointestinale Beschwerden. Und wenn das Gesicht der Frau während eines Gesprächs von fünfzehn Minuten viermal oder öfter Ekel bekundet, einen nahen Verwandten der Verachtung, dann ist das ein stummer Hinweis, daß das Paar sich wahrscheinlich innerhalb von vier Jahren trennen wird.
Natürlich wird eine gelegentliche Bekundung von Verachtung oder Ekel nicht eine Ehe ruinieren. Solche emotionalen Treffer sind eher Risikofaktoren vergleichbar, sowie das Rauchen oder ein hoher Cholesterinspiegel ein Herzrisiko bedeuten -je intensiver und je länger, desto größer ist die Gefahr. Auf dem Weg in die Scheidung zieht eines das andere nach sich, in einer sich aufschaukelnden Kaskade des Elends. Kritiksucht und Verachtung oder Ekel sind Gefahrensignale, weil sie anzeigen, daß ein Ehegatte den anderen im stillen abgeurteilt hat. Der andere ist in seinen Gedanken Gegenstand ständiger Verdammung. Ein solches negatives und feindseliges Denken führt zwangsläufig zu Attacken, die den anderen in die Defensive treiben - oder einen Gegenangriff hervorrufen.
In Reaktion auf einen Angriff kann ein Ehegatte entweder kämpfen oder fliehen. Das Nächstliegende ist der Gegenangriff, das zornige Zurückschlagen. Das Ergebnis ist meistens ein fruchtloses Sichanbrüllen. Die andere Reaktion, die Flucht, kann jedoch bösartiger sein - jedenfalls hat Gottman dies als erster entdeckt -, besonders wenn die »Flucht« ein Rückzug in eisiges Schweigcn ist.
Mauern ist die äußerste Abwehr. Letztlich zieht derjenige, der mauert, sich aus dem Gespräch zurück, indem er ein ausdrucksloses Gesicht zeigt und verstummt. Das Mauern sendet eine wirkungsvolle, entnervende Botschaft aus, so etwas wie eine Mischung aus eisiger Distanz, Überlegenheit und Widerwillen. Mauern kam nur in Ehen vor, denen Ärger ins Haus stand; in 85 Prozent dieser Fälle mauerte der Mann in Reaktion auf eine Frau, die ihn mit Kritik und Verachtung attackierte. Wenn Mauern zur gewohnheitsmäßigen Reaktion wird, kann es nur die Gesundheit einer Beziehung zerstören, da es jede Möglichkeit unterbindet, Meinungsverschiedenheiten zu klären.


Giftige Gedanken

Die Kinder machen heftigen Krach, und Martin, ihr Vater, wird ärgerlich. Er wendet sich an seine Frau Melanie und sagt zu ihr in scharfem Ton: »Schatz, findest du nicht, daß die Kinder ein bißchen ruhiger sein könnten?«
In Wirklichkeit denkt er: »Sie läßt den Kindern zuviel durchgehen.«
Seine Verärgerung bringt Melanie auf die Palme. Ihr Gesicht spannt sich, sie zieht die Augenbrauen zusammen und entgegnet ihm: »Die Kinder toben sich nur ein bißchen aus. Sie gehen sowieso gleich schlafen.«
Dabei denkt sie: »Ach, schon wieder, dauernd hat er was zu bemäkeln!«
Martin ist nun ersichtlich wütend. Drohend beugt er sich vor, die Fäuste geballt, während er in einem unangenehmen Ton sagt: »Soll ich sie jetzt ins Bett bringen?«
Sein Gedanke: »In allem widersetzt sie sich. ich muß die Sache wohl selber in die Hand nehmen.«
Melanie, die sich plötzlich vor Martins Zorn fürchtet, sagt kleinlaut: »Nein, ich bring sie gleich ins Bett.«
Und denkt bei sich: »Gleich vergißt er sich. Er könnte den Kindern weh tun. Lieber gebe ich nach.« Diese parallelen Gespräche - das gesprochene und das stumme führt Aaron Beck, der Begründer der kognitiven Therapie, als ein Beispiel jener Art von Denken an, die eine Ehe vergiften kann. Der eigentliche emotionale Austausch zwischen Melanie und Martin besteht in ihren Gedanken, und die sind wiederum von einer anderen, tieferen Schicht determiniert, die Beck »automatische Gedanken« nennt: flüchtige Hintergrundannahmen über uns selbst und die Menschen in unserem Leben, Annahmen, in denen sich unsere tiefsten emotionalen Einstellungen spiegeln. Der Hintergrundgedanke von Melanie ist ungefähr: »Ständig terrorisiert er mich mit seiner Wut.« Martins Schlüsselgedanke lautet: »Sie hat nicht das Recht, mich so zu behandeln.« Melanie empfindet sich als das unschuldige Opfer in ihrer Ehe, und Martin empfindet gerechten Zorn über die, wie erfindet, ungerechte Behandlung.
Gedanken wie der, ein unschuldiges Opfer zu sein, oder der, gerechten Zorn zu empfinden, sind typisch für Partner in gestörten Ehen und schüren ständig Wut und Kränkung. Wenn bedrückende Gedanken wie der gerechte Zorn automatisch werden, bestätigen sie sich selbst: Der Partner, der sich schikaniert fühlt, sucht in allem, was seine Partnerin tut, unablässig nach dem, was die Ansicht bestätigen könnte, daß sie ihn schikaniert, während er Freundlichkeiten von ihr, die diese Ansicht in Frage stellen oder widerlegen würden, ignoriert oder unberücksichtigt läßt.
Diese Gedanken sind mächtig; sie lösen wie der Anblick eines angreifenden Stiers das neurale Alarmsystem aus. Hat der Gedanke, schikaniert zu werden, erst eine emotionale Entgleisung beim Ehemann ausgelöst, wird er sich fortan leicht eine Liste von Ärgernissen ins Gedächtnis rufen, die ihn an die Schikanen, die sie ihm zufügt, erinnern, während alles, was sie während ihrer ganzen Beziehung getan haben mag und was geeignet ist, die Ansicht zu widerlegen, er sei ein unschuldiges Opfer, seiner Erinnerung entfällt. Seine Frau gerät dadurch in eine aussichtslose Lage: Selbst wohlgemeinte Taten können, durch eine solche negative Brille gesehen, umgedeutet und als lahme Versuche abgetan werden, die Tatsache, daß sie ihn schikaniert, zu leugnen.
Partner, die von solchen bedrückenden Ansichten frei sind, können das Geschehen in entsprechenden Situationen wohlwollender deuten und werden folglich nicht so leicht entgleisen oder, falls es doch passiert, sich schneller davon erholen. Gedanken, die solche Qual nähren bzw. lindern, folgen dem allgemeinen Schema, das der Psychologe Martin Seligman für die pessimistische bzw. die optimistische Haltung umrissen hat (6. Kapitel). Aus pessimistischer Sicht ist der Partner auf eine unabänderliche und mit Sicherheit ins Elend führende Weise schlecht: »Er ist selbstsüchtig und egozentrisch; so wurde er erzogen, und so wird er immer bleiben; er erwartet, daß ich ihn von vorn und hinten bediene, und was ich empfinde, interessiert ihn überhaupt nicht.« Aus optimistischer Sicht würde sich das ungefähr so darstellen: »Im Augenblick ist er schwierig, aber sonst war er rücksichtsvoll; vielleicht ist er schlecht gelaunt; ich könnte mir denken, daß er im Betrieb Probleme hat.« Diese Ansicht schreibt den Partner (oder die Ehe) nicht als unheilbar geschädigt und hoffnungslos ab. Sie führt eine schlechte Phase auf Umstände zurück, die sich ändern können. Die erste Einstellung bringt ständigen Kummer mit sich, die letztere besänftigt.
Partner mit pessimistischer Einstellung neigen extrem zu emotionalen Entgleisungen; sie werden von Dingen, die der Ehegatte tut, erzürnt, gekränkt oder auf andere Weise bekümmert, und wenn es erst einmal angefangen bat, bleiben sie in dem verstörten Zustand. Ihre innere Not und die pessimistische Haltung steigern natürlich die Bereitschaft, dem Partner gegenüber zu Kritik und Verachtung zu greifen, womit wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Abwehrhaltung und des Mauerns wächst.
In virulentester Form treten solche giftigen Gedanken wohl bei Ehemännern auf, die ihre Frau körperlich mißhandeln. Psychologen von der Universität von Indiana haben in einer Studie über gewalttätige Ehemänner festgestellt, daß diese Männer wie die brutalen Typen auf dem Schulhof denken: Auch in neutrale Handlungen ihrer Frau deuten sie eine feindselige Absieht hinein, und mit dieser Mißdeutung rechtfertigen sie dann ihre Gewalttätigkeit vor sich selbst (ähnlich handeln Männer, die sieh gegenüber Partnerinnen sexuell aggressiv verhalten; sie betrachten die Frau mit Argwohn, und wenn sie nicht will, setzen sie sich darüber hinweg). Wie wir im 7. Kapitel sahen, ist es für solche Männer besonders gefährlich, wenn sie zuerkennen glauben, daß ihre Frau sie kränkt, zurückweist oder öffentlich in Verlegenheit bringt. Ein typisches Szenarium, das bei Männern, die ihre Frau schlagen, Gedanken auslöst, die Gewalttätigkeit »rechtfertigen«: »Du bist in einer geselligen Veranstaltung, und du merkst, daß deine Frau schon seit einer halben Stunde mit demselben attraktiven Mann spricht und lacht. Er scheint mit ihr zu flirten.« Wenn diese Männer zu erkennen glauben, daß ihre Frau etwas tut, das an Zurückweisung oder Verlassen erinnert, reagieren sie mit Zorn und Empörung. Vermutlich lösen automatische Gedanken wie »Sie wird mich verlassen« eine emotionale Entgleisung aus, bei der die prügelnden Ehemänner impulsiv oder, wie die Forscher sagen, »mit ungeeigneten Verhaltensreaktionen« reagieren - sie werden gewalttätig.


Überflutung: Wie eine Ehe untergeht

Im Endeffekt erzeugen diese quälenden Einstellungen eine Dauerkrise, weil sie häufige emotionale Entgleisungen auslösen und es erschweren, die dadurch hervorgerufene Kränkung und Wut wieder zu vergessen. Gottman bezeichnet diese Anfälligkeit für häufige emotionale Nöte treffend als »Überflutung«; überflutete Männer oder Frauen werden von der Negativität ihres Partners dermaßen überwältigt, daß sie in entsetzlichen, unkontrollierbaren Gefühlen versinken. Wer überflutet ist, kann nicht mehr unverzerrt wahrnehmen oder mit klarem Kopf reagieren; er kann seine Gedanken nicht mehr ordnen und greift auf primitive Reaktionen zurück. Er möchte einfach, daß es irgendwie aufhört, oder er möchte weglaufen, oder er möchte bisweilen zurückschlagen. Die Überflutung ist eine sich selbst verlängernde emotionale Entgleisung.
Manche haben eine hohe Überflutungsschwelle und können Zorn und Verachtung ohne weiteres ertragen, während andere schon ausrasten, sobald ihr Ehegatte auch nur milde Kritik äußert. Physiologisch wird die Überflutung durch einen Anstieg des Pulses über das Ruheniveau definiert. Der Puls von Frauen beträgt im Ruhezustand etwa 82 Schläge pro Minute, der von Männern etwa 72 (im Einzelfall hängt er hauptsächlich von der Körpergröße ab). Die Überflutung setzt ein, wenn der Puls etwa zehn Schläge pro Minute über dem Ruhepuls liegt; erreicht er hundert Schläge pro Minute, was leicht geschehen kann, wenn einer zornig ist oder weint, schüttet der Körper Adrenalin und andere Neurohormone aus, die den Ausnahmezustand eine Zeitlang aufrechterhalten. Den Beginn der emotionalen Entgleisung erkennt man am Puls, der innerhalb eines einzigen Herzschlags um zehn, zwanzig oder gar dreißig Schläge pro Minute hochschnellen kann. Die Muskeln spannen sich; manchmal fällt das Atmen schwer. Man versinkt in giftigen Gefühlen, in einem unangenehmen Sog von Furcht und Zorn, der unentrinnbar erscheint und subjektiv als »Ewigkeit« empfunden wird. An diesem Punkt - auf dem Höhepunkt der Entgleisung - werden die Emotionen so stark, die Perspektive so verengt und das Denken so verworren, daß jede Aussicht schwindet, sich in den anderen hineinzuversetzen oder die Dinge vernünftig zu klären.
Während eines Ehestreits kommt es bei den meisten dann und wann zu solchen heftigen Aufwallungen - das ist vollkommen natürlich. Für eine Ehe fängt das Problem dort an, wo der eine oder andere sich fast ständig überflutet fühlt. Der eine Partner fühlt sich dann von dem anderen erdrückt, ist ständig auf der Hut vor einem emotionalen Angriff oder einer Ungerechtigkeit, wird überwach für jedes Anzeichen eines Angriffs, einer Beleidigung oder eines Beschwerdegrundes und wird auch auf das geringste Anzeichen hin mit Sicherheit überreagieren. Ist ein Mann in einem solchen Zustand, braucht seine Frau nur zu sagen: »Schatz, wir müssen mal was besprechen«, und schon wird der automatische Gedanke wach: »Sie bricht wieder mal einen Streit vom Zaun«, und damit wird die Überflutung ausgelöst. Das erschwert es zusehends, von dem physiologischen Erregungsniveau wieder herunterzukommen, wodurch es wiederum leichter passieren kann, daß harmlose Worte in einem düsteren Licht erscheinen, was erneut eine Überflutung auslöst.
Dies ist wohl der gefährlichste Wendepunkt für eine Ehe, ein katastrophaler Wandel in der Beziehung. Der überflutete Partner hat sich angewöhnt, von der Partnerin fast ständig nur das Schlimmste zu denken und alles, was sie tut, in einem negativen Licht zu deuten. Aus kleinen Streitigkeiten werden große Schlachten; ständig werden Gefühle verletzt. Mit der Zeit beginnt der überflutete Partner, alle Probleme in der Ehe als schwerwiegend und unheilbar aufzufassen, da die Überflutung selbst jeden Versuch vereitelt, die Dinge zu klären. Solange dieser Zustand anhält, erscheint es sinnlos, Dinge zu besprechen, und jeder Partner versucht für sich, seine aufgewühlten Gefühle zu besänftigen. Man beginnt nebeneinander her zu leben, ist praktisch vom anderen isoliert und fühlt sich einsam in der Ehe. Der nächste Schritt ist, Gottman zufolge, allzu oft die Scheidung.
Daß Defizite an emotionaler Kompetenz tragische Folgen zeitigen, liegt bei diesem Ablauf, der in die Scheidung mündet, auf der Hand. Verfängt sich ein Paar in dem sich verstärkenden Kreislauf von Kritik und Verachtung, Abwehr und Mauern, bedrückenden Gedanken und emotionaler Überflutung, dann zeigt sich schon an diesem Kreislauf, daß die emotionale Selbstwahrnehmung und Selbstbeherrschung, die Empathie und die Fähigkeit, sich und den anderen zu beschwichtigen, zerfallen ist.


Männer: das verletzliche Geschlecht

Zurück zu den Geschlechterunterschieden im Gefühlsleben, die sich als ein heimlicher Sprengsatz für die Ehe erweisen. Noch nach 35 und mehr Ehejahren unterscheiden Männer und Frauen sich grundlegend in ihrer Haltung zu emotionalen Auseinandersetzungen. Die Unannehmlichkeit eines Ehestreits wird von Frauen im allgemeinen nicht annähernd so stark verabscheut wie von ihren Männern. Zu diesem Schluß gelangte Robert Levenson von der Universität von Kaliformen in Berkeley anhand der Aussagen von 151 langjährig verheirateten Ehepartnern. Die Männer fanden es nach Levensons Feststellung durch die Bank unangenehm, ja sogar abscheulich, im Laufe einer ehelichen Meinungsverschiedenheit aus der Fassung zu geraten, während die Frauen kaum etwas dagegen hatten.
Männer neigen schon bei geringerer Intensität negativer Erlebnisse zur Überflutung als ihre Frauen; mehr Männer als Frauen reagieren auf kritische Bemerkungen ihres Ehepartners mit Überflutung. Ist diese eingetreten, schütten Männer mehr Adrenalin aus, und ihr Adrenalinfluß wird durch ein geringeres Maß an Negativität seitens ihrer Frau ausgelöst; bei Männern dauert es länger, sich physiologisch von der Oberflutung zu erholen. Die stoische männliche Unerschütterlichkeit im Stile eines Clint Eastwood könnte demnach eine Abwehr gegen das Gefühl emotionaler Überwältigung sein.
Gottman vermutet, daß Männer zum Mauern neigen, um sich vor Überflutung zu schützen; seine Untersuchung zeigte, daß ihr Puls um rund zehn Schläge pro Minute zurückging, nachdem sie zu mauern begannen, was ihnen ein subjektives Gefühl der Erleichterung brachte. Paradoxerweise stieg aber, wenn die Männer zu mauern anfingen, bei den Frauen der Puls schlagartig auf eine Höhe, die einen hochgradigen Notstand signalisierte. Dieser limbische Tango, bei dem beide Geschlechter durch gegensätzliche Züge Erleichterung suchen, hat zur Folge, daß sie zu emotionalen Konfrontationen eine ganz unterschiedliche Haltung einnehmen: Männer versuchen sie ebenso nachdrücklich zu meiden, wie Frauen sich gezwungen fühlen, sie anzustreben.
Der Neigung der Männer zum Mauern entspricht bei den Frauen eine Neigung zur Kritik an ihren Männern. Diese Asymmetrie entspringt daraus, daß Frauen ihre Rolle als Manager der Emotionen wahrnehmen. Während sie versuchen, Meinungsverschiedenheiten und Anlässe für Beschwerden zu thematisieren und zu klären, scheuen ihre Männer vor den erhitzten Diskussionen, zu denen es zwangsläufig kommen muß, zurück. Wenn die Frau merkt, daß ihr Mann zögert, sich auf einen Streit einzulassen, steigert sie die Lautstärke und Heftigkeit ihrer Klagen und beginnt, ihn zu kritisieren. Wenn er daraufhin eine abwehrende Haltung einnimmt oder mauert, empfindet sie Frustration und Zorn, so daß sie, um die Stärke ihrer Frustration zu unterstreichen, zusätzlich Verachtung zeigt. Wenn der Mann sich als Zielscheibe der Kritik und der Verachtung seiner Frau sieht, verfällt er auf die Gedanken, »unschuldiges Opfer« zu sein oder »gerechten Zorn« zu empfinden, die mit wachsender Leichtigkeit eine Überflutung auslösen. Um sich vor der Überflutung zu schützen, verstärkt sich seine Abwehrhaltung, wenn er nicht ganz und gar mauert. Das Mauern der Männer löst aber, wie wir wissen, eine Überflutung bei ihren Frauen aus, die sich völlig gelähmt fühlen. Und wenn der Kreislauf der ehelichen Streitigkeiten eskaliert, kann er allzu leicht außer Kontrolle geraten.


Eheliche Ratschläge für sie und ihn

Da die Differenzen zwischen Männern und Frauen im Umgang mit bedrückenden Gefühlen in ihrer Beziehung nichts Gutes verheißen, muß man sich fragen: Was können Ehepartner tun, um die Liebe und Zuneigung, die sie füreinander empfinden, zu bewahren, oder anders: Was bewahrt eine Ehe? Eheforscher haben die Interaktionen von Partnern, die über viele Jahre eine gute Ehe geführt haben, beobachtet und bieten auf dieser Grundlage spezielle Ratschläge für Männer und Frauen an sowie einige allgemeine Bemerkungen, die sich an beide richten.
Generell muß man Männern und Frauen unterschiedliche Empfehlungen für den Umgang mit Emotionen geben. Männern sollten dem Konflikt nicht ausweichen, sondern einsehen, daß ihre Frau, wenn sie eine Beschwerde oder ein strittiges Thema vorbringt, dies möglicherweise aus Liebe tut, in dem Bemühen, die Beziehung gesundzuerhalten und auf dem richtigen Kurs zu halten (freilich kann die Feindseligkeit einer Frau auch andere Motive haben). Gärende Mißstände werden immer drückender, bis es irgendwann zur Explosion kommt; man nimmt den Druck heraus, wenn man sie zur Sprache bringt und beseitigt. Männer müssen aber einsehen, daß Ärger oder Unzufriedenheit nicht gleichbedeutend sind mit einem Angriff auf ihre Person - oft unterstreichen die Emotionen ihrer Frau nur, wie stark ihr das Problem auf der Seele liegt.
Auch müssen Männer sich hüten, die Diskussion dadurch abzuschneiden, daß sie voreilig eine praktische Lösung anbieten - einer Frau ist es zumeist wichtiger, daß sie das Gefühl hat, daß ihr Mann ihrer Klage Gehör schenkt und einfühlsam auf ihre Gefühle bezüglich des Problems eingeht (auch wenn er sie nicht teilen muß). Seinen praktischen Ratschlag könnte sie so empfinden, als seien ihre Gefühle für ihn bedeutungslos. Männer, die es fertigbringen, eine erhitzte Auseinandersetzung mit ihrer Frau durchzustehen - statt ihre Klagen als kleinkariert abzutun - , verschaffen ihrer Frau das Gefühl, daß man ihr zuhört und sie achtet. Frauen wünschen ganz besonders, daß ihre Gefühle als triftig anerkannt und beachtet werden, auch wenn ihre Männer anderer Meinung sind. Meistens beruhigt sich die Frau, wenn sie das Gefühl hat, daß man ihrer Ansicht Gehör schenkt und ihre Gefühle zur Kenntnis nimmt.
Frauen muß ein ganz ähnlicher Rat gegeben werden. Da es für Männer ein großes Problem ist, daß die Frauen ihren Beschwerden allzu heftig Ausdruck geben, müssen Frauen gezielt darauf achten, nicht ihren Mann zu attackieren: Sie sollten sich über das beschweren, was er getan hat, ihn aber nicht als Person kritisieren oder ihm ihre Verachtung zeigen. Wenn sie sich beschweren, greifen sie nicht seinen Charakter an, sondern stellen klar, daß ein bestimmtes Verhalten ihnen zu schaffen macht. Eine wütende persönliche Attacke führt fast immer dazu, daß der Mann in Abwehrhaltung geht oder mauert, was die Frau nur noch mehr frustriert und eine Eskalation des Streits nach sich zieht. Auch ist es hilfreich, wenn eine Frau ihre Beschwerde in die beruhigende Versicherung verpackt, daß sie ihren Mann liebt.


Der wohltuende Streit

Die Morgenzeitung liefert ein Schulbeispiel dafür, wie eheliche Differenzen nicht gelöst werden. Marlene Lenick hatte eine Auseinandersetzung mit ihrem Mann Michael: Er wollte das Spiel der Dallas Cowboys gegen die Chicago Eagles sehen, sie die Nachrichten. Als er sich hinsetzte, um sich das Spiel anzusehen, sagte Frau Lenick, sie habe »von diesem Football die Nase voll«, holte sich aus dem Schlafzimmer eine Handfeuerwaffe Kaliber 38 und gab, während er sich im Wohnzimmer das Spiel anschaute, zwei Schüsse auf ihn -ab. Frau Lenick wurde der schweren Körperverletzung bezichtigt und gegen eine Kaution von 50000 Dollar auf freien Fuß gesetzt; von Herrn Lenick hieß es, er sei in guter Verfassung und erhole sich von den Schüssen, die seinen Bauch gestreift und das linke Schulterblatt sowie den Hals durchdrungen hatten.
So gewalttätig - oder so kostspielig - verlaufen Ehestreitigkeiten selten, aber sie bieten eine vorzügliche Chance, emotionale Intelligenz auf die Ehe anzuwenden. Langverheiratete Paare neigen dazu, sich an ein Thema zu halten und jedem Partner am Anfang Gelegenheit zu geben, seine Ansicht darzulegen. Das ist ein wichtiger Schritt: Sie zeigen einander, daß sie dem anderen zuhören. Da das Gefühl, Gehör zu finden, für den Partner, der sich beschwert, oft gerade das ist, worauf es ihm emotional ankommt, vermag ein Akt der Empathie wunderbar die Spannung abzubauen.
Bei Paaren, die sich schließlich scheiden lassen, fehlt es auffällig an Bemühungen von beiden Seiten, die Spannung bei einer Auseinandersetzung herunterzufahren. Gesunde Ehen und solche, die schließlich geschieden werden, unterscheiden sich wesentlich darin, daß die einen Wege finden, einen Bruch zu kitten, die anderen dagegen nicht. Es sind einfache Schritte, die verhindern, daß eine Auseinandersetzung zu einer gräßlichen Explosion eskaliert: Man muß dafür sorgen, daß die Diskussion beim Thema bleibt, man muß Empathie zeigen und die Spannung abbauen. Diese einfachen Schritte beugen, einem emotionalen Thermostat vergleichbar, der Gefahr vor, daß die geäußerten Gefühle überkochen und die Fähigkeit des Partners, sich auf das vorliegende Problem zu konzentrieren, zunichte machen.
Insgesamt empfiehlt es sich, den Schwerpunkt weniger auf die Einzelprobleme zu legen, über die Ehepartner sich streiten - Kindererziehung, Sex, Geld, Hausarbeit -, sondern vielmehr die emotionale Intelligenz beider Partner zu pflegen, denn so verbessert man die Aussichten auf eine Klärung der Probleme. Einige wenige emotionale Kompetenzen - vor allem die Fähigkeit, sich zu beruhigen, Empathie und die Kunst des Zuhörens - steigern die Chance, daß ein Paar seine Differenzen wirksam klärt. Sie ermöglichen heilsame Auseinandersetzungen, jenen »wohltuenden Streit«, der das Gedeihen einer Ehe fördert und der die negativen Dinge überwindet, die, sich selbst überlassen, eine Ehe zerstören können.
Emotionale Gewohnheiten verändern sich natürlich nicht über Nacht. Dazu bedarf es der Beharrlichkeit und Wachsamkeit. Entscheidende Veränderungen hängen direkt von der entsprechenden Motivation ab. Viele oder die meisten emotionalen Reaktionen, die in der Ehe so leicht ausgelöst werden, wurden schon seit der Kindheit geformt, wurden erstmals in unseren vertrautesten Beziehungen oder am Beispiel der Eltern erlernt und werden fertig in die Ehe mitgebracht. Dadurch sind wir für bestimmte emotionale Gewohnheiten - zum Beispiel, daß wir überreagieren, wenn wir uns gekränkt fühlen, oder daß wir beim ersten Anzeichen einer Konfrontation dichtmachen - regelrecht präpariert, mögen wir uns auch geschworen haben, nicht die Fehler unserer Eltern zu wiederholen.


Beruhigung

Jeder starken Emotion liegt ein Handlungsimpuls zugrunde; der Umgang mit diesen Impulsen ist eine elementare Aufgabe der emotionalen Intelligenz. In Liebesbeziehungen kann das allerdings ausgesprochen schwierig werden, denn es steht sehr viel für uns auf dem Spiel. Die Reaktionen, die hier ausgelöst werden, rühren an einige unserer tiefsten Bedürfnisse - an das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung, an Ängste vor dem Verlassenwerden und vor emotionaler Deprivation. Kein Wunder, daß wir uns bei Ehestreitigkeiten manchmal verhalten, als ginge es um unser Überleben.
Doch solange der Mann oder die Frau von einer emotionalen Entgleisung mitgerissen sind, kann es zu keiner positiven Lösung kommen. Die Partner müssen daher lernen, ihre bedrängenden Gefühle zu besänftigen. Sie müssen die Fähigkeit erwerben, sich von der Überflutung, die eine emotionale Entgleisung mit sich bringt, rasch zu erholen. Da bei einem solchen emotionalen Ausreißer die Fähigkeit schwindet, mit klarem Kopf zuzuhören, zu denken und zu sprechen, ist die Beruhigung ein ungeheuer konstruktiver Schritt, ohne den eine Klärung der Streitfrage nicht vorankommen kann.
Wer will, kann lernen, während eines aufregenden Disputs etwa alle fünf Minuten den Puls zu überprüfen; man braucht nur ein paar Zentimeter unterhalb des Ohrläppchens die Halsschlagader zu betasten (wer Aerobic betreibt, lernt, das im Handumdrehen zu machen)." Wenn man die Pulsschläge während 15 Sekunden zählt und mit 4 multipliziert, erhält man die Schläge pro Minute. Macht man das, während man sich ruhig und gelassen fühlt, bekommt man einen Grundwert; steigt der Puls um, sagen wir, mehr als zehn Schläge pro Minute über diesen Wert, so ist das ein Zeichen für den Beginn einer Überflutung. Wenn das passiert, sollten die Partner ihre Diskussion für zwanzig Minuten unterbrechen und auseinandergehen, um sich abzukühlen, bevor sie weitermachen. Man kann zwar das Gefühl haben, daß eine Fünfminutenpause reicht, aber die physiologische Erholung benötigt mehr Zeit. Wie wir im siebten Kapitel gesehen haben, lösen Restbestände von Zorn weiteren Zorn aus; je länger man wartet, desto besser kann der Körper sich von der vorangegangenen Erregung erholen.
Wer es lästig findet, während eines Streits den Puls zu überwachen, kann sich einfach vorher darauf verständigen, daß Jeder beim ersten Anzeichen einer Überflutung eine Pause fordern darf. Während dieser Pause kann man die Abkühlung durch eine Entspannungsübung, durch Aerobic oder sonst eine der im siebten Kapitel erörterten Methoden fördern, die dazu beitragen können, sich von der emotionalen Entgleisung zu erholen.


Das entgiftende Selbstgespräch

Da es negative Gedanken über den Partner sind, die die Überflutung auslösen, ist es hilfreich, wenn der Ehepartner, den solche schroffen Urteile aus der Fassung bringen, sich diese direkt vornimmt. Empfindungen wie »Das lasse ich mir nicht länger gefallen« oder »Ich habe es nicht verdient, so behandelt zu werden« sind Parolen der »unschuldiges Opfer«- bzw. der »gerechter Zorn«-Haltung. Indem man diese Gedanken, statt sich von ihnen erzürnen oder kränken zu lassen, direkt angeht und in Frage stellt, kann man sich, wie der kognitive Therapeut Aaron Beck erklärt, aus ihrem Bann lösen.
Dazu muß man solche Gedanken aufspüren, sich klarmachen, daß man nicht gezwungen ist, ihnen zu glauben, und die bewußte Anstrengung machen, sich Tatsachen oder Ansichten vor Augen zu führen, die sie in Frage stellen. Wenn die Frau zum Beispiel in der Hitze des Gefechts meint: »Meine Bedürfnisse interessieren ihn gar nicht - er ist seit jeher so egoistisch«, dann kann sie diesen Gedanken dadurch in Frage stellen, daß sie sich Dinge ins Gedächtnis ruft, die ihr Mann gemacht hat und die zeigen, daß er wirklich aufmerksam ist. Dadurch kann sie ihren Gedanken umformulieren: »Manchmal zeigt er ja doch, daß ich ihm wichtig bin; was er sich eben geleistet hat, war allerdings rücksichtslos und hat mich in Rage gebracht.« Diese letztere Formulierung eröffnet die Möglichkeit einer Änderung und einer positiven Auflösung; die erstere schürt nur den Zorn und die Kränkung.


Nichtdefensives Zuhören und Sprechen

Er: »Du schreist!«
Sie: »Natürlich schreie ich - weil du von dem, was ich gesagt habe, nicht ein Wort verstanden hast. Du hörst einfach nicht zu!«
Zuhören ist eine Fähigkeit, die Paare zusammenhält. Auch in der Hitze des Gefechts, wenn beide emotional entgleist sind, kann der eine oder andere es schaffen - gelegentlich auch beide - , über den Zorn hinweg zu lauschen und eine versöhnliche Geste des Partners aufzufangen und darauf einzugehen. Paare, die auf die Scheidung zusteuern, lassen sich jedoch vom Zorn fesseln und fixieren sich auf die Einzelheiten des strittigen Problems, und dadurch sind sie nicht imstande, Friedensangebote, die sich in den Worten des anderen verstecken könnten, zu erkennen oder gar darauf einzugehen. Wer als Zuhörer eine Abwehrhaltung einnimmt, ignoriert die Klage seines Ehepartners oder widerspricht ihr augenblicklich, das heißt, er reagiert darauf, als wäre es ein Angriff und nicht ein Versuch, das Verhalten zu ändern. Im Streit nehmen die Worte natürlich oft die Form eines Angriffs an oder werden mit einer so starken Negativität geäußert, daß man schwerlich etwas anderes als einen Angriff heraushört.
Selbst im schlimmsten Fall können Ehepartner das, was sie hören, gezielt bearbeiten, wenn sie bereit sind, die feindseligen und negativen Elemente des Wortwechsels - den häßlichen Ton, die Beleidigung, die verächtliche Kritik - zu überhören, um die eigentliche Botschaft zu vernehmen. Sie müssen sich dazu vergegenwärtigen, daß die Negativität des anderen indirekt etwas darüber sagt, wie wichtig ihm die Frage ist - darin steckt die Aufforderung, jetzt die Ohren zu spitzen. Wenn sie also schreit: »Du sollst mich nicht dauernd unterbrechen, verdammt nochmal!« dann ist er vielleicht eher in der Lage, auf ihre Feindseligkeit nicht direkt zu reagieren und zu sagen: »Na gut, rede erst mal aus.«
Die wirksamste Form des nichtdefensiven Zuhörens ist natürlich die Empathie: Man lauscht auf die Gefühle, die hinter dem Gesagten stecken. Damit der eine Partner sich wirklich in den anderen einfühlen kann, müssen, wie wir im siebten Kapitel gesehen haben, seine eigenen emotionalen Reaktionen sich soweit beruhigt haben, daß er hinreichend aufnahmebereit ist, um die Gefühle des anderen in seiner eigenen Physiologie nachzuempfinden. Ohne diese physiologische Abstimmung wird der eine die Gefühle des anderen wahrscheinlich völlig verfehlen. Die Empathie versagt, wenn die eigenen Gefühle so stark sind, daß sie eine physiologische Harmonisierung mit dem anderen nicht zulassen, sondern sich schlicht über alles andere hinwegsetzen.
In der Ehetherapie wird vielfach eine Methode benutzt, die es wirklich erlaubt, auf die Emotionen zu lauschen, das sogenannte »Spiegeln«. Der eine Partner gibt eine Beschwerde des anderen mit eigenen Worten wieder und versucht dabei, nicht nur den Gedanken zu erfassen, sondern auch die damit verbundenen Gefühle. Er erkundigt sich bei dem anderen, ob er sie richtig wiedergegeben hat, und wenn nicht, versucht er es nochmals, bis es stimmt - einfach, aber überraschend schwierig in der Ausführung. Wenn man genau gespiegelt wird, fühlt man sich nicht bloß verstanden, sondern hat außerdem den Eindruck einer emotionalen Übereinstimmung. Das allein reicht manchmal schon aus, einen bevorstehenden Angriff zu unterbinden, und es trägt viel dazu bei, Diskussionen über Beschwerden davor zu bewahren, in Streitigkeiten auszuarten.
Bei der Kunst des nichtdefensiven Sprechens zwischen Ehepartnern geht es darum, die Äußerungen auf der Ebene einer Beschwerde zu halten, so daß sie nicht zu Kritik oder Verachtung eskalieren. Der Psychologe Halm Ginnot, »Großvater« von Lernprogrammen für wirksame Verständigung, empfahl »XYZ« als die beste Formel für eine Beschwerde: »Als du X getan hast, habe ich mich Y gefühlt, und ich hätte gewünscht, du hättest Z getan.« Besser wäre zum Beispiel: »Als du nicht anriefst, um mir Bescheid zu sagen, daß du dich zu unserer Essensverabredung verspäten würdest, fühlte ich mich nicht gebührend gewürdigt und verärgert. Ich wünschte, du hättest angerufen, um mich wissen zu lassen, daß du dich verspäten würdest«, statt »Du bist ein rücksichtsloses, egoistisches Schwein«, wie es allzu oft bei Ehestreitigkeiten formuliert wird. Kurz, offene Kommunikation kennt keine Einschüchterungen, Drohungen oder Beleidigungen. Sie hat auch keinen Platz für die unzähligen Formen abwehrenden Verhaltens: Ausreden, das Leugnen der eigenen Verantwortung, Gegenangriffe in Form einer Kritik und dergleichen. Die Empathie ist auch hier wieder die höchste Form.
Schließlich sind es Respekt und Liebe, die in der Ehe wie in anderen Lebensbereichen eine feindselige Haltung entwaffnen. Um einen Streit wirksam zu deeskalieren, kann man seinem Partner zu verstehen geben, daß man in der Lage ist, die Dinge aus seiner Sicht zu sehen und daß gute Gründe für diese Sichtweise sprechen mögen, auch wenn man sie selbst nicht teilt. Oder man kann die Verantwortung übernehmen und sich sogar entschuldigen, wenn man im Unrecht ist. Wenn man dem anderen bestätigt, daß er gute Gründe für seinen Standpunkt hat, vermittelt man ihm zumindest, daß man ihm zugehört hat und daß man die geäußerten Emotionen verstehen kann, auch wenn man seinem Argument nicht zu folgen vermag: »Ich kann deine Aufregung verstehen.« Wenn man einmal nicht miteinander streitet, kann man dem anderen Bestätigung in Gestalt von Komplimenten geben, indem man sich lobend über etwas äußert, woran man wirklich Gefallen findet. Mit Bestätigung kann man seinem Ehepartner helfen, daß er sich besänftigt, und man kann damit ein Konto positiver Gefühle einrichten.


Einüben

Da diese Schachzüge in der Hitze des Gefechts, wenn die emotionale Erregung bestimmt hohe Wellen schlägt, angewandt werden sollen, müssen sie eingeübt werden, um verfügbar zu sein, wenn sie am nötigsten gebraucht werden. Das emotionale Gehirn greift nämlich in wiederholten Fällen von Zorn und Kränkung auf die zuerst erlernten Reaktionsroutinen zurück, die sich auf diese Weise durchsetzen. Da Gedächtnis und Reaktion emotionsspezifisch sind, wird es in solchen Fällen nicht leicht sein, sich der mit ruhigeren Zeiten assoziierten Reaktionen zu entsinnen und sie umzusetzen. Ist einem eine produktive emotionale Reaktion nicht vertraut oder hat man sie nicht richtig eingeübt, so wird es einem in der Aufregung äußerst schwerfallen, sie anzuwenden. Hat man dagegen eine Reaktion so eingeübt, daß sie automatisch abläuft, dann wird sie in einer emotionalen Krise eher Ausdruck finden. Deshalb müssen die obengenannten Strategien in unbelasteten Situationen wie auch in der Hitze des Gefechts ausprobiert werden, wenn sie eine Chance haben sollen, innerhalb des Repertoires der emotionalen Schaltungen zur erworbenen ersten Reaktion (oder zumindest zur nicht allzu verspäteten zweiten Reaktion) zu werden. Die genannten Mittel gegen den Zerfall der Ehe sind, wenn man so will, ein kurzer Nachhilfeunterricht in emotionaler Intelligenz.

aus Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, TB, Dritter Teil, Emotionale Intelligenz in der Praxis, S. 167 ff.

Daniel Goleman über Aufmerksamkeit und Konzentration [2:01]

Veröffentlicht am 03.02.2014
Daniel Goleman (EQ - Emotionale Intelligenz) erklärt, wie man seine Aufmerksamkeit fokussieren kann um einen Flow zu erreichen und warum Multitasking nicht funktioniert. http://ow.ly/tePjl

In der heutigen Welt der permanenten Reizüberflutung und Ablenkung fällt es uns immer schwerer, uns noch auf das Einzelne zu konzentrieren. Der renommierte Psychologe und Bestsellerautor Daniel Goleman zeigt, warum wir Dinge niemals gleichzeitig erfassen können und dass die Fähigkeit der Konzentration von zentraler Bedeutung ist, um im Leben erfolgreich und zufrieden zu sein.
Das Handy klingelt, ständig wird uns der Eingang neuer E-Mails angezeigt -- auf allen Kanälen stürzen neue Informationen und Reize auf uns ein. Wie oft haben wir das Gefühl, uneffektiv zwischen den Dingen hin und her zu springen und nichts hundertprozentig zu machen. Doch um Leistung zu erbringen und erfolgreich zu sein, müssen wir, wie Daniel Goleman zeigt, unsere Aufmerksamkeit bündeln -- sei es im Job, bei der Gestaltung unseres Privatlebens, beim Sport, in der Ausbildung oder in der Politik. Anhand zahlreicher Studien und anschaulicher Fallbeispiele zeigt Goleman, wie wir die drei Grundformen unserer Aufmerksamkeitsfähigkeit, die Konzentration nach innen, auf andere und nach außen effektiv einsetzen können. So müssen wir nicht länger Getriebene einer reizüberfluteten Zeit sein, sondern können das Bestmögliche aus uns herausholen und souveräner unsere Ziele im Leben verwirklichen.

Emotionale Intelligenz trainieren [4:37]

Veröffentlicht am 15.08.2013
Emotionen spielen in Gesprächen und Arbeitsbeziehungen oft eine wichtige Rolle. Ingeborg und Thomas Dietz veranschaulichen die Kernkompetenzen von emotionaler Intelligenz und wie Achtsamkeit, Selbstführung und Empathie trainiert werden.

EQ-Training - Wie hoch ist meine emotionale Intelligenz? [9:58]

Hochgeladen am 09.10.2009
Sr. Miriam Altenhofen über den besseren Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen
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