Sonntag, 1. Januar 1995

Thomas Szas – Es gibt keine Geisteskrankheit


Thomas Szasz


Einleitung

Thomas Stephen Szasz ist ein Ungar-Amerikaner (geb. 15. April 1920), der 1941 seine Heimat verließ, um nach den USA auszuwandern. Der Faschismus hatte damals fast ganz Europa unter seine Botmäßigkeit gebracht, und auch Ungarn unter der Herrschaft des Admirals von Horthy verschärfte seine antisemitischen Maßnahmen: daher war es für Szasz lebensrettend, in Nordamerika ein Exil zu finden.
Er studierte Medizin in Cincinnati und nach Abschluß seiner Studien erhielt er eine internistische und psychiatrische Spezialausbildung in Boston und Chicago; in der letztgenannten Stadt gehörte er dem Psychoanalytischen Institut an, an welchem prominente Psychoanalytiker wie Franz Alexander und Helene Deutsch lehrten. Von 1951 bis 1956 war Szasz bereits Lehranalytiker am Chicago-Institut.
Psychoanalyse und Psychiatrie wurden sein Hauptbeschäftigungsgebiet, als er nacheinander in Bethesda (Maryland) und Syracuse (New York) praktizierte. Ab 1956 wurde er Professor für Psychiatrie an der State University of New York.
Szasz war nicht der Mann, der sich – um lukrativer Entwicklungsmöglichkeiten willen – ins psychoanalytische und psychiatrische Establishment einordnete. Er begann früh mit kritischen Erwägungen über Theorie und Praxis beider Wissenschaftsdisziplinen. Zuerst begnügte er sich mit kleineren Publikationen in Fachorganen. Aber schon 1961 wandte er sich mit Geisteskrankheit – ein moderner Mythos (deutsch 1972) an die Öffentlichkeit: Mit diesem Buch wurde er zu einem der prominentesten Kritiker der offiziellen Psychoanalyse und Psychiatrie.
Seit diesem Zeitpunkt hat Szasz nicht aufgehört, seine Kollegen von der Seelenheilkunde und die Behandlungs- und Anstaltspraxis der Psychiater mit heftigen Worten zu attackieren. Aus der Fülle seiner Publikationen erwähnen wir nur die wichtigsten, die in deutscher Übersetzung erschienen sind. Es sind dies: Die Fabrikation des Wahnsinns (1974); Recht, Freiheit und Psychiatrie (1963); Das Ritual der Drogen (1978); Der Mythos der Psychotherapie (1982); Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie (1979); Theologie der Medizin (1980). Das sind beileibe nicht alle Bücher unseres überaus publikationsfreudigen Autors, der gegen zwanzig Bücher und mehr als 300 Zeitschriftenartikel verfaßt hat.
In allen diesen Texten findet ein leidenschaftlicher Kampf statt. Szasz wirft der Psychiatrie vor, daß ihr Selbstverständnis als Naturwissenschaft völlig falsch sei – im Grunde handle sie von „kommunikationsgestörten Menschen”, die man demnach nicht mit Elektroschocks, mit Insulinkuren, mit Lobotomie und „chemischen Zwangsjacken” therapieren dürfe. Natürlich gibt es auch einen Zweig der psychiatrischen Heilkunde, wo somatische und kausale Methoden am Platze sind; aber die überwiegende Mehrheit der seelisch und geistig „gestörten” Menschen sind nicht krank wie etwa Diabetiker, Rheumatiker oder Paralytiker.
Auch die Psychoanalyse schlug nach Szasz einen irrigen Weg ein, als sie sich der üblichen Medizin und Psychiatrie angleichen wollte. Das führte zu Verwirrungen theoretischer und praktischer Art, die bis heute Denken und Tun der Psychoanalytiker behindern. Szasz ruft nach einer grundlegenden Reform der modernen Seelenkunde, die schon fast einer Revolution gleichkommt.
In der Folge sollen die Lehren dieses streitbaren Autors erläutert werden, der der Tiefenpsychologie manchen wichtigen Entwicklungsanstoß gegeben hat.


Geisteskrankheit – Ein moderner Mythos

Nietzsche sagt in einem bekannten Aphorismus, daß das Wichtigste in den Wissenschaften die „Methoden” seien; sofern diese zuverlässig ausgearbeitet sind, kann die Forschung zielstrebig vorangehen. Man könnte diese These ergänzen durch den Hinweis, jede Wissenschaft müsse sich klar werden über den „Seinscharakter” ihres Gegenstandes. Vermag sie diesen präzis und deutlich zu bestimmen, dann folgen aus der Seinsweise des Themenbereichs immer auch die sachgemäßen Methoden. Szasz wirft der Psychoanalyse und der Psychiatrie vor, daß sie sich sowohl ontologisch als auch methodologisch auf dem Holzweg befinden.
Psychiater und Psychoanalytiker befassen sich mit „Seelen- und Geisteskrankheiten”, aber Szasz bezweifelt, ob es derlei überhaupt gibt. Der Begriff „Krankheit” stammt aus der Körpermedizin. Dort hat er einen fest umschriebenen Sinn: Wir haben Normvorstellungen von der körperlichen Gesundheit, und sofern massive Abweichungen davon diagnostiziert werden können, sprechen wir vom Kranksein des Menschen. So gibt es etwa den normalen Blutdruck, die normale Pulsfrequenz, die normale Körpertemperatur, das adäquate Funktionieren der Muskulatur, der Ausscheidungsorgane, der Sinnesorgane usw. Natürlich gibt es eine gewisse „Breite der Normalität”, die man nicht übersehen darf; Lebendiges ist nicht exakt festgelegt, sondern hat Funktionsspielräume, über die der Fachmann Bescheid weiß.
Aber wie steht es mit den seelisch-geistigen Normen und ihren Varianten? Nach Szasz stehen wir hier auf fragwürdigeren Fundamenten. Psychiatrie und Psychoanalyse beschäftigen sich mit Menschen, die oft sonderbare Formen des Verhaltens und Kommunizierens an den Tag legen, aber solche Verhaltens-„Anomalien” sind nicht eigentlich als „Krankheit” festzumachen. Krankheit hat in der Umgangs- und Wissenschaftssprache eine bereits fixierte Bedeutung: Sie ist kausal verursachte Organ- oder Funktionsstörung. Aber wenn die Menschen sich eigenwillig verhalten oder mit anderen in Beziehung setzen, ist das Kausalschema auf derartige „Deviationen” nicht recht anwendbar; jedermann verhält sich so, wie er es gelernt hat und wie es ihm in seiner jeweiligen Lage (bewußt und unbewußt) als „zweckmäßig” erscheint. Hierauf das Kausalitätsdenken anzuwenden, ist nach Szasz ein erkenntnistheoretischer Mißgriff. Man kann diese Angleichung finaler Auseinandersetzung einer Person mit dem Leben an den Physikalismus der Naturwissenschaften mit Karl Popper „Historizismus” nennen; aber menschliches Verhalten ist nicht „physikalisch” zu erklären, sondern durch „Verstehenskunst” zu deuten.
Definiert man Psychoanalyse und Psychiatrie als „das Studium des persönlichen Verhaltens” (S. 21), dann befassen sich diese Disziplinen mit den „Spielen, die die Menschen miteinander spielen”, und das gehört eher dem Bereich der Sozialwissenschaften und der Ethik als der Naturwissenschaft an. Davon ist aber in der Psychopathologie lange Zeit gar keine Rede gewesen. Die Mediziner bemächtigten sich der psychopathologischen Fragestellungen, und da sie mit dem Naturwissenschaftskonzept in ihren Bereichen glänzende Erfolge errangen, sahen sie es als selbstverständlich an, daß auch die sogenannten „Krankheiten des Gemüts” auf biologisch-materieller Basis begreiflich seien. Aber das war ein säkulares Vorurteil, welches leider von der Psychoanalyse übernommen wurde. Daran krankt nach Szasz heute noch die moderne Seelenheilkunde.
Szasz wählt als Belegmaterial für seine Behauptung das Musterbeispiel der Hysterie. Sie bildet ja den Ausgangspunkt der psychoanalytischen Forschungen, indem Freud und Breuer 1895 ihre Studien über Hysterie veröffentlicht haben. An der Geschichte dieser „Krankheit” und der sich auf sie beziehenden Therapiebemühungen kann die historische Fehlorientierung der Psychopathologie erläutert werden.
Nach Szasz ist Hysterie keine Krankheit, wohl aber eine „nichtverbale Kommunikationsweise” (S. 23), ein „Regelbefolgungsverhalten” , in welchem Hilflosigkeit dramatisch eingesetzt wird, um andere Menschen zu Hilfeleistungen zu veranlassen. Das ist ein „Krankheitsspiel” , das in die Nähe von Simulation, Täuschung und Lüge gerückt werden muß. Gleichwohl darf man solche „Patienten” nicht einfach verurteilen: sie haben meistens nur dieses „Spiel” gelernt, und da sie mit ihrer sozialen Existenz große Schwierigkeiten haben, schlagen sie sich eben mit solchen „Manövern” durch.
Hysterie ist eine wortlose Verhaltenssprache, die unter Umständen sehr wirksam sein kann. Wenn nun jemand – sagt Szasz – Englisch, Französisch oder Deutsch spricht, dann fragt doch niemand, aus welchen kausalen Gründen heraus er so spricht; jedermann weiß, daß Engländer, Franzosen und Deutsche von Geburt an „nichts anderes gelernt haben”. Ähnlich sollten wir bei Hysterikern und anderen „Seelenkranken” argumentieren; aber dann bleibt für die „Krankheitstheorie” keine Rechtfertigung mehr.
Freud war anfänglich auf der Spur dieser Einsicht, aber da er im Geiste der Naturwissenschaften herangebildet worden war, setzte er alles daran, selbst ein „Naturforscher” zu sein und zu bleiben. Daher unternahm er gewaltige Anstrengungen, die Psychoanalyse in eine biologistisch-kausalistische Weltanschauung einzufügen. Wohl hatte er ein wunderbares Gespür für die „Symptomsprache” seiner Patienten und für die von ihm erst entdeckte „Sprache des Traumes”. Aber bei der theoretischen Verarbeitung seiner Funde griff er auf physikalische Modellvorstellungen zurück, sprach von einer quantitativ vorhandenen „psychischen Energie” (Libido) und deren Transformationen und „Schicksalen”, als ob der Mensch ein „Naturkörper” wäre.
Menschliches Sein ist aber kein An-sich-sein, sondern wesensmäßig „Kommunikation”. Der personale Wesenskern des Menschen ist „Mitteilungsbedürftigkeit” . Nur wird hierzu nicht immer verbale Sprache angewendet. Wie die Semantik lehrt, gibt es „Unter- und Übersprachen” , das heißt, Sprachen, die nicht die Stufe der Verbalisierung erreichen, und Sprachen, deren Gegenstand die Sprache selbst ist. Letztere nennt man „Metasprachen”; erstere jedoch, die in der Psychopathologie zum Beispiel eine hervorragende Rolle spielen, sind „Protosprachen”.
Die Protosprache benützt etwa Körpersignale, um irgendetwas mitzuteilen. So kann man „körperliches Kränkeln” als Signal einsetzen, um die Mitmenschen zur Hilfeleistung zu zwingen. Nach Szasz ist der Hysteriker ein Mensch, der echte oder falsche Krankheitssymptome als „Wortschatz” in Bewegung setzt, weil er mit dieser Sprache besonders vertraut ist und sie für seine Zwecke nutzbringend findet. Denn jede Hilfsbedürftigkeit provoziert beim Kulturmenschen fast einen Zwang zum Beistehen: Das weiß der Hysteriker aus seiner gesamten Lebenserfahrung, besonders aber aus seinen Kindheitserlebnissen heraus. Er spielt das „Krankheitsspiel” , und andere Leute spielen das „Helferspiel” , aber es soll niemand meinen, daß das stets sozial und ethisch hochwertige Spiele sind.
Das Unheil der modernen Psychopathologie nahm seinen Anfang bei Jean-Martin Charcot, dem Lehrer von Sigmund Freud in seinen Pariser Studienjahren. Charcot war Neurologe und auf diesem Gebiet ein international anerkannter Forscher. In seinen späten Jahren begann er sich mit der Hysterie zu befassen. Diese galt damals als Simulantentum, und niemand interessierte sich ernstlich für hysterische Patienten. Charcot mit seinem Prestige änderte schlagartig diese Situation. Er machte aus den Hysterikern „echte Patienten”: fortan galt die Hysterie als „Krankheit”. Freud trat in die Fußstapfen seines Meisters und wurde als „Hysterikertherapeut” zunächst berühmt und berüchtigt. Aber wo waren die körperlichen Ursachen dieser Krankheit? Im Zentralnervensystem konnte man sie nicht finden. Freud verlegte sie nun in das Triebleben, in die triebhafte Vorgeschichte des Patienten. So hatte man immerhin ein angebliches somatisches Fundament dieser merkwürdigen Leiden, für die eine neue Therapie geschaffen wurde: die Psychoanalyse. Aber da der Psychoanalytiker „nur mit Worten” zu heilen versuchte, war und blieb er doch ein seltsamer „Arzt”.
Wenn Freud nicht ein Opfer des „ärztlichen Vorurteils” geworden wäre, hätte er wohl sehen können, daß seine hysterischen Patienten ein „Verhaltensspiel” trieben, mittels dessen sie vor Lebensaufgaben ausweichen und sich eine Zuflucht im Krankenstatus schaffen konnten. Die hysterische Symptomatik ist nicht mit echten Körpersymptomen vergleichbar; sie ist eine verschlüsselte Botschaft, in der die Problematik des Patienten dargestellt wird. In den „Studien über Hysterie” erkannte Freud die „Flucht in die Krankheit” recht deutlich; er „übersetzte” freihändig und zutreffend Gehschmerzen und Stehunfähigkeit einer Patientin (Elisabeth v. R.) als Mitteilung, es „gehe ihr nicht gut” und „es stehe schlecht um sie”. Neuralgische Gesichtsschmerzen einer anderen Patientin „besagten” nach Freud, eine bestimmte Situation im Leben dieser Frau „habe wie eine Ohrfeige auf sie gewirkt”. Freud faßte sozusagen den Sprachschatz der Hysteriker sehr klar ins Auge, aber er wollte kein Sprachforscher, sondern ein „Mediziner” sein.
Nach Szasz sind aber die Hysterie und die anderen Neurosen (Angstneurose, Zwangsneurose, Depression, Phobien usw.) Probleme, die den Sprachwissenschaftler, den Verhaltensforscher, den Soziologen, den Ethiker und den Religionsforscher angehen. Was ergibt sich daraus, wenn man die Hysterie als eine relativ unvollkommene Sprache (Protosprache) beschreibt? Die Konsequenzen aus einem derartigen Vorgehen sind weitreichend.
Wir haben bereits angedeutet, daß es eine Hierarchie von Sprachen gibt: das muß näher ausgeführt werden. Szasz greift auf die Sprachtheorie und Sprachphilosophie zurück, um seine Neurosenlehre zu untermauern.
Die Semantik beruht auch auf einem Zeichen-Theorem; demnach gibt es verschiedene Arten von Zeichen, die man sprachlich verwenden kann. Eine Gruppe von Zeichen ist „indexartig”: hier besteht eine Kausalverbindung zwischen Objekt und Zeichen. So etwa zeigt der Rauch das Feuer an; er ist der „Index” für Feuer. Andere Zeichen wiederum bilden das Objekt ab: man nennt sie „ikonische Zeichen”. Eine Photographie ist ikonisch bezüglich der abgebildeten Person. Wörter oder mathematische Symbole jedoch sind „konventionelle Zeichen oder Symbole”; sie bezeichnen zwar sehr genau ein Objekt (z. B. das Wort „Haus” für ein Haus), aber es gibt keine Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten.
Wörter werden durch Sprachregeln koordiniert, wobei festgelegt ist, wie und in welchem Zusammenhang die Wörter einen faßbaren Sinn mitteilen. So kann mittels ihrer ein „Sprachspiel” absolviert werden, das eingebettet ist in viele unserer gesellschaftlichen Handlungsspiele.
Noch höhere Sprachsysteme („Metasprachen” wie etwa diejenigen der „Symbolischen Logik”) verwenden ebenfalls willkürliche Zeichen, auf Grund derer der alltägliche Sprachgebrauch logisch und kritisch bearbeitet werden kann. An sich kann man zahlreiche Metasprachen konstruieren, von denen jeweils die nächste die vorangegangene semantisch überhöht.
Die Körpersprache der Hysteriker ist nach Szasz eine Protosprache, also eine ikonische Abbildung von etwas, was dem Patienten vorschwebt. So teilt der Hysteriker mit eindrücklichen Körperzuständen mit, „daß er sich krank fühlt”. Zu diesem Zweck „imitiert” er mehr oder minder unwillkürlich Krankheiten, die er gesehen oder selbst schon einmal erlitten hat. Oft erlernt man die Hysterie nach einer echten physischen Krankheit; kaum ist diese abgeheilt, verharrt man im Krankenstand, indem man die bereits „eingeübten” Krankheitssymptome weiterführt.
Übersetzt man die ikonische Symptomsprache in die Alltagssprache („Objektsprache”, wie die Semantiker sagen), dann kann das den Eindruck erwecken, als ob man Unbewußtes ins Bewußtsein höbe. Aber im Grunde hat man nur aus einer schwach diskursiven Mitteilung eine verständliche Kommunikation abgeleitet: was dem „Kranken” allerdings nützlich sein kann. Er wird aus seiner sprachlichen Einsamkeit in die „Kommunikationsgemeinschaft” aufgenommen, und das ist jedenfalls für ihn heilsam. Man sagt dem Patienten, „was er eigentlich sagen will”.
Aber es muß starke Motive im Neurotiker geben, die ihn veranlassen, sein „Anliegen” mit Protosprache via ikonischen Körperzeichen mitzuteilen. Ikone sind nach Szasz „prachtvoll undeutlich”; man kann sie so oder so auslegen. Das schafft für den Mitteilenden Hintertürchen, durch die er entwischen kann, wenn seine Absicht nicht durchdringt. Man denke etwa an die Karikatur, auf der ein junger Mann gezeigt wird, der der gegenübersitzenden Dame unter dem Tisch durch „Fußeln” einen Liebesantrag zu machen scheint. So weit, so gut; aber die resolute Dame zerstört die schwebende Situation, indem sie ihr Gegenüber anspricht:
„Wenn Sie mich lieben, so sagen Sie es doch und treten Sie mir nicht dauernd auf den Fuß!”
Die Protosprache liegt irgendwo zwischen den Gesten und Gebärden und den Worten; sie ist halb Ausdrucksphänomen und halb Sprache. Als ein solches Zwischending ist sie nur schwach informativ, aber sie dient durchaus der „Objektsuche und Beziehungsaufnahme”. Wenn wir kommunizieren, wollen wir nicht nur etwas mitteilen, sondern uns auch – manchmal nur vage – in Beziehung setzen. Das kann man auf ikonische Weise recht gut, ohne sich in die Unkosten der exakten sprachlichen Formulierung zu stürzen.
Sodann hat die Körper- und Symptomsprache einen hervorragend suggestiven Effekt. Sagt man „kühl bis ans Herz hinan”, daß man sich krank fühlt, dann kann der Angeredete kalt und sachlich dazu Distanz beziehen. Beeindruckt man ihn aber mit einem hysterischen Anfall, mit einer Migräne, mit einem Angstzustand, mit Tränen, mit dem ganzen Symptomaufwand der Depression usw., dann erzielt man allenfalls einen „umwerfenden Effekt”. Wir leben in einer mitleidigen Kultur, und wer die „Krankheitssprache” spricht, muß wohl oder übel gehört werden.
Hysteriker sind, wie man seit langem weiß, oft ausgezeichnete Schauspieler, wenngleich ihr Leiden nicht einfach „Simulation” ist. Aber sie und ihre übrigen neurotischen Leidensgefährten können mitunter ganz drastisch via Körperzustand Suggestionszwänge auf ihre menschliche Umgebung ausüben. Warum sollen sie dann zur verständlichen Alltagssprache greifen, die so nüchtern und allzu sehr differenziert ist! Die Hauptsache ist doch, daß man mit der Botschaft erreicht, was man vorhat: und in dieser Beziehung sehen viele Patienten der Psychotherapie gar keinen Anlaß, von ihrer Körper- und Symptomsprache abzugehen.
Die Alltags- und Objektsprache gehört zum Erwachsensein des Menschen, zu seiner Integration in die schaffende und strebende Kulturgemeinschaft. Ist jemand durch seine Sozialisation mit dem Erwachsenwerden nicht recht zurande gekommen, dann wird man bei ihm manches Manko in der Verständigungsbereitschaft und Verständigungsfähigkeit finden. Solche Menschen machen leicht einen kindlichen Eindruck – die Psychoanalyse spricht beim Neurotiker von „Regression” oder „Fixierung auf infantilen Entwicklungsstadien”. Wo immer Proto- und Körpersprache mächtig hervortreten, dürfen wir vermuten, einen nicht ausgereiften Menschen vor uns zu haben. Aber solche regressive Charaktere oder Infantilpersönlichkeiten verstehen es ganz gut, andere zu manipulieren und zu manövrieren. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die nüchtern-ärztliche Befragung einer Patientin, die das Gefühl bekommt, vom Arzt zu sachlich behandelt zu werden. Wenn sie in Tränen ausbricht, muß auch der hartgesottenste Diagnostiker einen freundlicheren Ton anschlagen und heikle Gesprächsthemen fallen lassen: die „Symptomsprache” hat damit ihr Ziel mustergültig erreicht!
Das ist der Sinn der „Nichtdiskursivität” der Körper- und Symptomsprache: durch das Andeuten, Anspielen, durch bildliche und ausweichende Redeweise, durch Insinuationen und Suggestionen kann sie mehr bewirken, als die alltagssprachliche Rede erzielt. Sprechen ist ja immer auch gefährlich; man kann gelegentlich verstanden werden! Wer aber in prekären sozialen Beziehungen lebt, will immer auch ausloten, wie weit er mit seinen Wünschen, Forderungen und Gedanken gehen darf. Dazu sind die schwach diskursiven Sprachmodalitäten bestens geeignet.
Das postulierte Freud schon in seiner Traumdeutung, als er die Traumbildung mit der schwierigen Lage eines politischen Schriftstellers verglich, der „den Machthabern unangenehme Wahrheiten zu sagen hat”. Auch Neurose und Humor müssen Andeutungstechniken einsetzen, um in einer autoritären und gefühlskargen Welt ihr Anliegen anzumelden. So kann man etwa die Symptomatik einer Neurose als „verschlüsselte Mitteilung” einer Lebensgeschichte und Lebenssituation auffassen. Damit wird aber der Psychoanalytiker zum Kommunikationswissenschaftler, und sein Arbeitspensum enthält Aufklärung des Analysanden über richtige und falsche Kommunikationstechniken. Halbe Mitteilungen sollen dabei in ganze umgewandelt werden: derlei nennt man Verständigung. So ist z. B. jeder Traum ein Kommunikationswirrwarr, der durch eine geschickte Deutung in sinnvolle Kommunikation verwandelt wird. Oft ist es nicht gleichgültig, wem man einen Traum erzählt; man kann davon ausgehen, daß der Hörer des Traumes etwas erfahren soll, was man ihm offen nicht zu sagen wagt. Auch der Neurotiker sagt seiner Umgebung in verschleierter Weise vieles, was er selbst nicht so recht „auf den Begriff” bringen kann.
Das ganze Gebiet der „psychischen Erkrankungen” gehört nach Szasz zur Thematik der „indirekten Kommunikation”: hier wird Verständigung zwischen Menschen angestrebt, aber nicht mit offenen, freimütigen Worten, sondern mit halben Aussagen, mit Symptomvokabular und suggestiven Anspielungen, die auf der Gegenseite Hilfsbereitschaft und Schonung auslösen.
Wer hilfsbedürftig ist oder zu sein scheint, erzwingt von seinem Milieu Hilfeleistungen. Das entspricht der Tatsache, daß menschliches Verhalten einem „Regelbefolgungsmodell” unterliegt. Was Menschen tun, wird nicht nur durch Motive als treibende Kraft bestimmt, sondern auch durch Spielregeln, die in der Gesellschaft anerkannt sind.
Freud wollte eine Motivationspsychologie bieten, und aus diesem Grunde sprach er hauptsächlich von Trieben, von der Libido und von kausal bestimmter Handlungsweise. Allerdings sah auch er, daß Menschen gewisse „Rollen” annehmen und sich dementsprechend verhalten. Aber im Konflikt zwischen Rollentheorie und Trieblehre inklinierte er immer zur letzteren; wo der Kausalismus zur Erklärung menschlichen Verhaltens nicht hinreichte, entrichtete er seinen Tribut dem Finalismus (der Zielstrebigkeit), indem er dem „Unbewußten” zielstrebige Wesenszüge verlieh.
Bei Szasz tritt dieser Gegensatz auf als Antagonismus zwischen kausalen und konventionellen Erklärungen im Handlungsbereich. Will man eine Neurose verstehen, so reicht es nicht aus, wenn man deren Verursachung aus Kindheitserlebnissen und „Triebschicksalen” ableitet. Eine Neurose ist die „Wahl” eines Verhaltens, das bestimmten Spielregeln folgt. Die gesellschaftliche Konvention ermöglicht die „Neurotikerrolle”, weil sie hierfür gewisse Regeln und Konventionen formuliert hat.
Welche Regeln erleichtern nun den Einstieg in eine neurotische Lebensführung? Nach Szasz gibt es u. a. zwei wichtige Regelformen, die den Menschen „neurotisieren”: 1. Das Familienmuster; 2. Die abendländische Religion und Ethik.
Da der Mensch länger als alle anderen Lebewesen eine elterliche Betreuung benötigt, erliegt er leicht dem Anreiz, über die Kindheit hinaus Kind bleiben zu wollen. Schon Freud hat darauf hingewiesen, daß die verlängerte Kindheit des Menschen mit seiner Disposition zur Neurose zusammenhängt. Tatsächlich kann verwöhnende Erziehung „infantilisieren”; die Opfer einer solchen Pädagogik scheuen vor dem Erwachsenwerden zurück. Sie müssen nur eine Reihe von kindlichen Eigen- und Unarten beibehalten und ausbauen – dann ist die Neurose perfekt. Die Psychoanalyse anerkennt dieses Faktum mit den Begriffen der Regression, der Fixierung und der prägenitalen „Triebverfassung” des Neurotikers.
Ebenfalls infantilisierend und damit auch neurotisierend sind die Spielregeln, die die christliche Religion und Ethik dem Menschen einschärft. Nach Szasz entmutigt das Christentum alle Regungen der Autonomie, des persönlichen Wachstums und der Entwicklung. Man lese diesbezüglich die Bibel nach, und man wird finden, daß sie eine erstaunliche Bevorzugung des schwachen, hilflosen, einfältigen und unbeholfenen Menschen an den Tag legt. Wir erinnern hier nur an die Aussprüche: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.” „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.” „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.”
Das Christentum verspricht den „Letzten” nicht nur, daß sie schließlich die „Ersten” sein werden, sondern fordert auch von den Gesunden und Starken, daß sie den Kranken und Schwachen Beistand leisten sollen. Somit sind die Spielregeln gegeben: Wer das Krankheitsspiel spielt, darf damit rechnen, daß seine Mitmenschen das „Helferspiel” spielen werden. Die Neurotiker nützen diese Konstellation weidlich aus.
Was Szasz hier als Kritik an der jüdisch-christlichen Moral vorbringt, hat natürlich Nietzsche vor ihm weit umfassender und radikaler ausgesprochen. Nietzsche warf dem Christentum vor, daß es ein „Sklavenaufstand” gegen die Werte des Lebens sei. Da die frühen Christen fast ausschließlich den niederen Ständen der antiken Welt entstammten, konnten sie keine positiven Lebensziele ins Auge fassen. Sie hatten die Herrscher der damaligen Gesellschaft vor Augen (die Römer), die Macht, Reichtum, Lebenslust, Sinnlichkeit und Daseinsbejahung verkörperten. Im Sinne einer Ressentimentreaktion entwerteten die Armen und Unterdrückten alle echte Daseinsexpansion. Sie proklamierten die „Gegenwerte” der Armut, der Keuschheit, des Gehorsams, der Lebensabwendung, der Lebensverneinung: daraus wurden die christliche Ethik und Moral konstruiert.
Nach Nietzsches Meinung hat dieser säkulare Prozeß der Menschheit unsäglichen Schaden zugefügt. Die Menschen wurden allesamt infantilisiert, und bei der Unterdrückung ihrer natürlichen Triebe und Bedürfnisse erwarben sie Lebenshaß und kulturelle Unproduktivität. Der Philosoph visiert gewissermaßen eine „Menschheitsneurose” an, indes die Psychologen (wie Szasz) denselben Neurotisierungsvorgang eher im familiären Bereich studieren. Aber die Analogie der Betrachtungsweisen ist sehr eindrücklich.
Das Schlußkapitel von Szasz’ Buch liefert ein „Spielmodell des menschlichen Verhaltens”. Es stützt sich im wesentlichen auf ein Werk des amerikanischen Philosophen George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (1934, deutsch 1968). Mead vertrat die Auffassung, daß Geist und Selbst des Menschen aus einem sozialen Prozeß erwachsen und daß die Sprache den entscheidenden Unterschied zwischen den Tieren und Menschen beinhaltet.
Die Meadsche Theorie sieht im Spiel das Lebenselement des Menschen. Menschen übernehmen verschiedene Rollen und engagieren sich in verschiedenartige Spiele; je besser sie die Spielregeln beherrschen und je konstruktiver ihre Spiele sind, umso erfolgreicher ist ihre Lebensbewältigung.
Körperliche Krankheiten sind Ereignisse, die uns zustoßen; aber seelische Erkrankungen sind „Spiele, die wir spielen”. Neurosen ähneln eher Spielzügen oder Spieltaktiken als Vorfällen, an denen unser Wille unbeteiligt ist.
Nimmt man noch die Spieltheorie von Jean Piaget hinzu (z. B. Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde, 1946, deutsch 1969), dann kann man heteronome und autonome, egozentrische und soziale Spiele unterscheiden. Die neurotischen Spiele scheinen heteronom und egozentrisch zu sein; nur der reife Mensch spielt autonome und soziale Spiele. Diese beruhen auf Kooperation, Gleichwertigkeit der Partner und Gegenseitigkeit in ihren Beziehungen. Was aber der Neurotiker als Kind erlernt hat, ist überwiegend Unterwerfung unter andere Menschen und Manipulieren ihres Verhaltens, was man mit dem Stichwort „Sadomasochismus” belegen kann.
Nach Szasz sieht man hier wiederum, daß wir die Ethik beim Verstehen des Menschen nicht entbehren können. Denn wer unkooperative Spiele spielt und auf Herrschaft mithilfe von Unterwerfung ausgeht, kann kaum ethische Vollwertigkeit für sich beanspruchen. Neurose ist zwar ein unglückseliges Schicksal, aber auch ein moralisches Versagen.
Wie es eine Hierarchie der Sprachen gibt (Protosprache, Objektsprache und Metasprachen), so kann man auch die Spiele hierarchisch gruppieren. Die einfachsten Spiele oder Objektspiele sind das biologische Instinktverhalten: Essen, Trinken, Schlafen usw. Sobald der Mensch aber heranwächst, muß er viel kompliziertere Spiele erlernen, die man als „Metaspiele” definiert. Denn zu jedem Spiel kann man ein „übergeordnetes” erdenken, das noch subtiler, geistvoller und auch sozial bedeutsamer sein wird.
Die Tragik des Neurotikerlebens besteht u. a. darin, daß der zukünftige „Patient” als Kind nur relativ dürftige und auch ethisch nicht sehr hochwertige Spiele erlernt. Wird er dann im Laufe seines Heranwachsens mit den hochkomplizierten Spielregeln der kulturellen Existenz konfrontiert (z. B. in Fragen der Partnerschaft, Sexualität, Arbeitsleistung, Kulturleistungen usw.), dann neigt er dazu, die alten und vertrauten Spiele seiner Kindheit weiterzuspielen. Das kommt einem Rückzug von der Front des Lebens gleich. Das Asyl der Neurose nimmt den unbeholfenen, ängstlichen, faulen oder untrainierten Menschen auf. Ganz ohne Betrug geht dieses Fluchtmanöver nicht ab. Die Mitmenschen müssen doch das Gefühl bekommen, daß man „guten Willens”, aber durch „äußere Umstände” am Mittun verhindert sei. Man schlüpft in die Rolle des „Kranken”, um mildernde Umstände für das Spielen schlechter Spiele zu erhalten.
Die Ärzte haben dieses Scheinmanöver begünstigt, weil sie „Kranke” brauchen, um Ärzte sein zu können. Das ist in der Körpermedizin berechtigt, aber in der Psychopathologie führt dies zu falschen Klassifikationen und fehlgeleiteten Behandlungsweisen. Man kann Neurotikern Hilfe gewähren, ohne sie zu „Patienten” stempeln zu müssen; Menschen helfen einander, ohne daß ein Krankenstatus auf der Seite des Hilfsbedürftigen nötig ist. Szasz führt hierzu aus (loc. cit. S. 253):
Die hauptsächliche Alternative zu diesem Dilemma besteht, wie ich schon sagte, in dem Verzicht auf die Kategorien „krankes” und „gesundes” Verhalten sowie darin, Geisteskrankheit nicht mehr als Voraussetzung einer sogenannten Psychotherapie zu betrachten. Folglich müssen wir uns uneingeschränkt zu der Einsicht bequemen, daß wir Menschen psychoanalytisch oder psychotherapeutisch nicht „behandeln”, weil sie „krank” sind, sondern 1. weil sie solche Hilfe wünschen; 2. weil sie Lebensprobleme haben, die sie durch eine Klärung der Frage, welche Spiele sie und ihre Umweltpersonen zu spielen sich gewöhnt haben, zu bemeistern suchen; 3. weil wir uns als Psychotherapeuten an ihrer „Erziehung” beteiligen wollen und können, da dies unsere berufliche Rolle ist.

Diese Berater- und Erzieherhaltung gegenüber dem „neurotischen Menschen” hat, wie Szasz feststellt, Alfred Adler als einer der ersten modernen Psychotherapeuten praktiziert. Er hat auch den Zusammenhang zwischen Therapie und ethischer Beeinflussung oft genug akzentuiert. Freud propagierte eine kühle und unbeteiligte Haltung des Analytikers gegenüber seinen Analysanden; das mag vielleicht für einen Chirurgen wünschenswert sein, nicht aber für einen „Seelenarzt”. Wie Freud selbst bei Gelegenheit konstatierte, muß der Psychotherapeut Lehrer, Vorbild, Aufklärer und Künder einer freieren Weltanschauung sein: und hierzu bedarf es gewiß expliziter ethischer Maßstäbe und Motivationen.
Auch im Übertragungs- und Gegenübertragungs-Theorem anerkannte Freud die Neigung der Patienten, unproduktive Spiele zu spielen (das heißt, sich mit dem Analytiker in einen fruchtlosen Kleinkrieg einzulassen, bei dem das Hauptanliegen der Therapie, die innere Entwicklung des „Kranken”, vergessen wird). Für den Therapeuten wurde empfohlen, sich in solche Spiele nicht einzulassen, sondern konsequent und beharrlich am „Heilungsziel” festzuhalten. Damit wurde wiederum der ethisch-moralische Kernpunkt jeglicher „Seelenheilkunde” unterstrichen.
Psychiatrie ist demnach für Szasz ein „soziales Handeln”, nicht aber die Tätigkeit von „Körper-Ingenieuren”, die Mängel an der Körpermaschinerie durch gekonnte Eingriffe beheben. Es ist an der Zeit, die Wesensbestimmung des psychiatrischen Tuns genauer zu bestimmen. So kann man dem Psychiater folgende drei Wirkungsbereiche zuschreiben:
Als theoretischer Wissenschaftler befaßt er sich mit dem Spielverhalten der Menschen, wobei er gute und weniger gute Spiele zu unterscheiden vermag. Als Praktiker greift er in das Leben der Menschen ein, belehrt sie über die Konsequenzen ihres jeweiligen Rollen- und Spielverhaltens; wenn er kann, animiert er sie dazu, sozialere und kulturell wertvollere Spiele zu spielen. Als „sozialer Manipulator” schließlich wird er Menschen durch Zwang oder andere Beeinflussung zum Abbruch bestimmter Spiele veranlassen.
Somit ist Psychiatrie kein medizinisches Spezialfach, sondern ein Zweig der Sozial- und Humanwissenschaften. Daher äußert Szasz am Ende seines Buches (S. 291):

Menschliches Verhalten ist grundsätzlich moralisches Verhalten. Deshalb müssen alle Versuche scheitern, es zu beschreiben und zu ändern, ohne zugleich das Problem der ethischen Werte anzupacken. Solange die moralischen Dimensionen psychiatrischer Theorien und Therapien verborgen und unklar bleiben, wird ihr wissenschaftlicher Wert folglich sehr begrenzt sein. Mit der von mir unterbreiteten Theorie des persönlichen Verhaltens – und der Psychotherapie-Theorie, die sie einschließt – versuchte ich, diesem Defekt dadurch abzuhelfen, daß ich die moralischen Dimensionen des menschlichen Verhaltens im psychiatrischen Kontext einmal zur Sprache gebracht habe.

Wir leben in einer Epoche schneller gesellschaftlicher Veränderungen, und daher muß jedermann lernen, immer neue und kompliziertere Spiele zu spielen. Der Neurotiker ist sozusagen ein „Lerngehemmter”; er hat in seiner Jugend „das Lernen nicht gelernt”. Daraus erwachsen ihm zahllose Lebensschwierigkeiten, die er mit kindlichen Verhaltensmustern (unter Ausnützung der Hilfsbereitschaft anderer) zu „bewältigen” versucht.
Wenn Psychotherapie Sinn und Wert haben soll, dann muß sie die Selbsterkenntnis des „Patienten” fördern, aber auch sein „Lebensverständnis” grundlegend entfalten. Analytiker und Analysand sollen sich zusammentun, um gemeinsam die Strukturen und Aufgaben des Menschenlebens zu studieren. Das Autoritätsgefälle zwischen Therapeut und Hilfsbedürftigen sollte hierbei tunlichst abgebaut werden. Beide sind nämlich „Lernende” bezüglich des schier unendlichen „Lehrstoffes”, welcher „ein vernünftiges menschliches Leben” bedeutet.
Wir sind alle, wie Szasz sagt, „Schüler in der Schule des Lebens”. Niemand kann und darf den „absolut Wissenden” spielen, denn den therapeutischen Übermenschen gibt es nicht. Unser Autor faßt zuletzt alle seine Thesen in knapper Formulierung zusammen (S. 294):
1. Genau genommen können Krankheiten nur den Körper affizieren; daher kann es keine Geisteskrankheit geben.
2. „Geisteskrankheit” ist eine Metapher. Ein Geist kann nur in dem Sinne „krank” sein wie schwarzer Humor „krank” ist oder die Wirtschaft „krank” ist.
3. Psychiatrische Diagnosen sind stigmatisierende Etiketten; sie sollen an die medizinische Diagnosepraxis erinnern und werden Menschen angehängt, deren Verhalten andere ärgert oder verletzt.
4. Gewöhnlich werden Menschen, die unter ihrem eigenen Verhalten leiden und darüber klagen, als „neurotisch” und jene, unter deren Verhalten andere leiden und über die sich andere beklagen, als ~„psychotisch” bezeichnet.
5. „Geisteskrankheit” ist nicht etwas, was eine Person hat, sondern etwas, was sie tut oder ist.
6. Wenn es keine „Geisteskrankheit” gibt, kann es keine „Hospitalisierung”, „Behandlung” oder „Heilung” von „Geisteskrankheiten” geben. Natürlich können Menschen mit oder ohne Eingreifen des Psychiaters ihr Verhalten oder ihre Persönlichkeit ändern. Solche Eingriffe nennt man heute „Behandlung”, und die Veränderung, wenn sie in einer von der Gesellschaft gebilligten Richtung verläuft, heißt „Genesung” oder „Heilung”.
7. In die Strafrechtspraxis eingedrungene psychiatrische Vorstellungen – zum Beispiel Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit und entsprechendes Urteil, Gutachten über das seelisch-geistige Unvermögen des Beklagten, einen Prozeß durchzustehen, usw. – korrumpieren das Recht und machen die Bürger, derentwegen sie vorgeblich herangezogen werden, zu Opfern.
8. Persönliches Verhalten folgt stets Regeln, ist strategisch und sinnvoll. Interpersonale und soziale Beziehungen können als Spiele betrachtet und analysiert werden, wobei das Verhalten der Spieler von ausdrücklich formulierten oder stillschweigend wirksamen Spielregeln gelenkt wird.
9. Bei den meisten Arten von freiwilliger Psychotherapie versucht der Therapeut dem Behandelten die unausgesprochenen Spielregeln, nach denen er sich richtet, zu erläutern und ihm bei der Überprüfung der Ziele und Werte der von ihm praktizierten Lebensspiele zu helfen.
10. Es gibt keine medizinische, moralische oder juristische Rechtfertigung für unerbetene psychiatrische Eingriffe wie „Diagnose”, „Hospitalisierung” oder „Behandlung”. Sie sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


Schizophrenie – das heilige Symbol der Psychiatrie 

Nachdem Szasz in Geisteskrankheit – ein moderner Mythos den Begriff der Hysterie und damit auch der anderen Neurosen als „Seelenkrankheiten” in Grund und Boden gebohrt hatte, greift er in seinem Buch mit dem obengenannten Titel die Schizophrenie als Krankheit und die Psychiatrie als Institution an. Seiner Ansicht nach hat die psychiatrische Wissenschaft von Anfang an einen Irrweg eingeschlagen. Sie wollte ein Zweig der Körpermedizin sein, aber es ist fraglich, ob sie sich damit richtig definiert hat.
Es gibt eine Fülle von sogenannten „Wahnkrankheiten”, und im 19. Jahrhundert hatten die Psychiater sehr viel mit jenen Wahnerscheinungen zu tun, die im Gefolge der Syphilis auftraten. In diesem Bereich konnte ein somatischer Krankheitserreger, die Spirochäte pallida, entdeckt werden. Auch konnte man demonstrieren, daß dieses Bakterium Läsionen im Zentralen Nervensystem hervorruft, die mit den motorischen und geistigen Abnormreaktionen in direktem Zusammenhang stehen.
Nun dachten die Psychiater, in der Schizophrenie eine ähnliche Krankheit vor sich zu haben wie bei der Progressiven Paralyse, dem Spätstadium der Syphilis. Aber die schizophrenen Störungen passen durchaus nicht in das Schema einer physisch bedingten Geisteskrankheit. Emil Kraepelin (1855-1926), der sich als erster grundlegend mit diesem Symptomenkomplex befaßte, schlug hierfür die Bezeichnung Dementia praecox vor. Sie war aber nicht besonders gut geeignet, da sie die Patienten mit dem Stigma der „vorzeitigen Verblödung” behaftete, was für viele Fälle dieser Art sicherlich nicht zutrifft.
Aus diesem Grunde modifizierte Eugen Bleuler (1857-1930) den Krankheitsbegriff und führte den Namen Schizophrenie oder „Spaltungsirresein” ein. In seiner berühmten Monographie aus dem Jahre 1911 Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien beschrieb Bleuler sehr sorgfältig alle Symptome der schizophrenen Patienten. Aber er mußte es bei dieser Beschreibung bewenden lassen, und eine eigentliche Ursache für die Schizophrenie konnte er nicht ausfindig machen. Er behauptete, daß irgend ein körpereigenes Toxin (Gift) die Grundlage dieses rätselhaften Krankseins bilde. Das war jedoch nur eine Hypothese, die bis zum heutigen Tag nicht verifiziert ist.
Nach Szasz haben die Psychiater seit den Forschungen von Bleuler den Begriff der Schizophrenie immer mehr ausgeweitet, aber sie wissen auch heute noch nicht, was hier im wesentlichen vorliegt. Man vermutete genetische Schäden, Stoffwechselanomalien und viele andere Noxen (Schädigungen), aber nichts davon wurde bewiesen. Im argen Kontrast zu dieser ätiologischen Unwissenheit steht der Furor practicus der Psychiater: sie haben zahlreiche Behandlungsmethoden entwickelt, die angeblich die Schizophrenie heilen können. Früher quälte man die „Kranken” mit Warm- und Kaltwasserkuren und gelegentlich sogar mit Folterinstrumenten. Die moderne Psychiatrie verlegte sich auf subtilere Foltermethoden. Sie wandte Elektroschocks und Insulinkuren an, die den Patienten in Todesangst versetzen oder doch ihn ziemlich, massiv traumatisieren. Den Gipfel des Fehlgreifens stellt wohl die Methode des Portugiesen Moniz dar, der mit seiner Lobotomie präfrontale Hirnbahnen zertrennte; Moniz erhielt für diese Untat, die tausendfältig praktiziert wurde, den Nobelpreis für Medizin. Es stellte sich aber bald danach heraus, daß diese Hirndestruktionen die Persönlichkeit der Kranken gewaltig veränderten. Sie fielen auf ein tiefes geistiges Niveau zurück, wurden antriebsarm oder aggressiv, jedenfalls aber nicht geheilt.
Die Schizophrenie soll angeblich eine Krankheit sein, weil die Patienten Wahnideen, Halluzinationen, Hyper- und Hypoaktivität, unpassendes oder ungewöhnliches Verhalten aufweisen. Bleuler insistierte vor allem auf die Denk- und Sprachstörungen der Schizophrenen; tatsächlich drücken sich diese Menschen oft sehr eigentümlich aus und produzieren Gedankenkombinationen, die uns befremden. Aber genauere Beschäftigung mit solchem abwegigen Denken und Sprechen hat oft gezeigt, daß beides sehr wohl sinnvoll sein kann und zu entschlüsseln ist. Vor allem Psychotherapeuten, die sich in langdauernde Zusammenarbeit mit Schizophrenen einließen, heben nachdrücklich hervor, daß die schizophrene Äußerungsweise nicht unverständlich ist. Bei emotional zugewandtem Studium erweisen sich solche „Kranke” durchaus als Mitmenschen, und Bleuler hatte gewiß nicht recht, wenn er nach jahrzehntelanger psychiatrischer Praxis feststellte, solche Patienten seien ihm im Grunde „fremder als die Vögel in seinem Garten”.
Wer kann entscheiden, welche Idee wahnhaft und welche gesund ist?
Wer kann ganz eindeutig zwischen passendem und unpassendem Verhalten differenzieren? Wann ist eine Aktivität zu klein, und wann ist sie zu groß? Und soll man es als eine Halluzination einstufen, wenn der Gläubige seine Gottheit nahe spürt? Man sieht, die Kriterien, mittels derer die Psychiater Schizophrenie diagnostizieren, sind sehr dehnbar; faktisch haben manche Psychopathologen konsequent behauptet, daß streng genommen die ganze Menschheit „schizophren” sei.
Szasz findet diesen „Imperialismus der Psychiatrie” empörend, aber er kann sich auch nicht mit der Meinung der Antipsychiater (Ronald Laing, David Cooper usw.) solidarisieren, die das, was man als Schizophrenie bezeichnet, als besonders authentisches Menschsein hinstellen. Nach der These der Antipsychiatrie sind Staat, Gesellschaft, Familie usw. „die eigentlich verrückten Instanzen”; sie treiben das Individuum in den Wahn hinein, der immer dann eintritt, wenn ein authentisch lebenwollender Mensch durch seine Umwelt zur Verzweiflung getrieben wird. Das ist nun nach Szasz eine Übertreibung nach der anderen Seite; man soll die Schizophrenen nicht zu Kranken, aber auch nicht zu Edel- und Übermenschen stempeln. Auch bemängelt Szasz an den Antipsychiatern, daß sie Politik und Psychopathologie oft vermengen. Ein Großteil von ihnen steht „links”, und in manchen ihrer Traktate beschimpfen sie den Kapitalismus und rühmen den Kommunismus. Sie mögen darin recht oder unrecht haben, aber es ist nicht fair, die „Patienten” zu politisieren und sie davon abzulenken, daß auch sie eventuell irgendwie schief liegen.
Auf Grund seines theoretischen Ansatzes sieht Szasz in schizophrenen und neurotischen Menschen keine Körperkranke, sondern eigenwillige Charaktere, die infolge ihrer Sozialisation und Lebenserfahrung seltsame Sprach- und Verhaltensspiele inszenieren, die von den üblichen Spielen der Menschen merklich abweichen. Es handelt sich in der Regel um Verhaltensmodifikationen, die mehr oder minder dem „Kindchen- und Hilflosigkeitsmuster” folgen und die Umgebung dahingehend manipulieren, daß sie dem Betreffenden Mühe, Verantwortung und Lebensschwierigkeiten abnimmt. Solche „Spieler”, die von Angst und Macht- oder Sicherheitswünschen motiviert sind, soll man nicht als „krank” abqualifizieren; schlimmstenfalls dürfen sie als unreif und unentwickelt gelten, und man kann sich fragen, wie man sie zu Reife und Entwicklung veranlassen kann.
Welche Schindluderei mit dem Schizophreniebegriff getrieben werden kann, erkennt man nach Szasz bei gewissen Zwangseinweisungen im Westen und bei der Praxis der Psychiater im Osten, speziell in der Sowjetunion. Dort ist es seit langem üblich, Dissidenten und andere Oppositionelle als schizophren zu diagnostizieren. Der kommunistische Superstaat glaubt sich im Besitz der absoluten Wahrheit, und von daher leitet er die Berechtigung ab, Andersdenkende als Wahnkranke zu behandeln. Dieser grausige Mißbrauch ist erst kürzlich so recht publik geworden; aber Kenner der Verhältnisse in der UdSSR wissen seit langem davon. Dahin führt also das zügellose Anwachsen der Macht des psychiatrischen Berufsstandes in den angeblichen Kulturländern. Szasz will dem steuern [gemeint: gegensteuern?], indem er die heute übliche Psychiatrie abschafft oder grundlegend reformiert. Er meint, daß damit die „psychiatrische Sklaverei” hundert Jahre nach der Beseitigung der Sklaverei der Neger beseitigt werden soll; und so wie letztere einen großartigen Kulturfortschritt bedeutete, wird auch die Aufhebung der institutionellen Psychiatrie ein Pluspunkt der werdenden Menschheitskultur sein. Szasz schreibt (S. 144):

Und wenn es keine Psychiatrie gibt, kann es auch keine Schizophrenen geben. Mit anderen Worten, ob ein Mensch schizophren ist, hängt von der Existenz eines gesellschaftlichen Systems der (institutionalen) Psychiatrie ab. Wird die Psychiatrie abgeschafft, verschwinden somit die Schizophrenen. Das bedeutet nicht, daß bestimmte Personen, die vorher Schizophrene waren oder die gerne schizophren sein möchten, ebenfalls verschwinden; zweifellos bleiben Menschen zurück, die untauglich oder egozentrisch sind oder ihre „wirklichen” Rollen ablehnen oder ihre Mitmenschen auf andere Weise stören. Aber wenn es keine Psychiatrie gibt, kann keiner von ihnen schizophren sein.

Da alle somatischen Ursachenforschungen im Bereich der Psychiatrie bezüglich des „schizophrenen Krankheitsbildes” bisher gescheitert sind, kann sich Szasz durchaus auf den Standpunkt stellen, daß der „Schizophrene” nur ein Mensch mit erhöhten Lebensschwierigkeiten ist, der im Rahmen der ihn umgebenden Kultur und Gesellschaft oft störend wirkt. Solche Menschen soll man – sofern nicht akute Gefahr für ihr Leben und das Leben anderer besteht – nicht in psychiatrischen Anstalten festhalten und ihnen auch keine „Behandlung” zuteil werden lassen, die mehr schädigt als nützt. Der Psychiater der Zukunft wird nach Szasz den Ärztemantel ausziehen. Er wird keine Elektroschocks verabreichen, keine Insulinkuren durchführen und auch keine „chemische Zwangsjacke” anwenden, die den Patienten sowohl beruhigt als auch lähmt. Er wird eher ein Sozialwissenschaftler, ein Lehrer, ein Helfer und ein Gesprächspartner sein. Was er jenen Menschen, die ihn freiwillig aufsuchen und sich freiwillig von ihm fördern lassen wollen, anbieten kann, ist die Klärung ihrer Lebensverhältnisse, die Diskussion ihrer Lebensziele und die Frage nach ethischen Werten, deren Anstreben die Existenz stabilisiert, erweitert und bereichert.
Wenn sich der Psychiater oder Seelenkundige in solcher Weise definiert, verschwindet die Autoritätsdistanz, die bisher die Beziehung von „Seelenarzt” und „Patient” korrumpiert hat. Die bei den Protagonisten des „heilenden Gesprächs” finden sich zusammen auf der Ebene der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung. Was sie miteinander zu verhandeln haben, ist keine Naturwissenschaft der Psyche und schon gar nicht psychoanalytische Ingenieurskunst, die einen kranken Libidoapparat wieder zum Funktionieren bringt. Tatsächlich, Szasz visiert eine Revolution der Psychiatrie an, und man kann begreifen, daß das psychiatrische Establishment ihm dafür nicht dankbar war. 


Der Mythos der Psychotherapie 

Wie schon am Ende des letzten Abschnittes angedeutet, muß nach Szasz der Begriff der „seelenärztlichen Behandlung” entscheidend revidiert werden. Kann und soll man Seele und Geist überhaupt „behandeln”? Das wäre nur berechtigterweise der Fall, wenn seelische Beeinflussung und geistige Veränderung unter die Rubrik eines „medizinischen Vorgehens” eingereiht werden dürfen. Genau das leugnet Szasz, und daher will er die Psychotherapie „entmythologisieren”.
Ärzte behandeln Körperkrankheiten, aber was sogenannte Psychotherapeuten tun, hat eher Ähnlichkeit mit „Freundschaft, Ehe, religiöser Sitte, Werbung oder Unterricht” (loc. cit. S. 25); jedenfalls ist es eine „verbale Tätigkeit”, und diese ist himmelweit verschieden von jedem somatischen Eingriff. Dabei sollen Werte, Überzeugungen und Gewohnheiten eines Menschen gewandelt werden, mit „Worten, nichts als Worten”. Das aber war ursprünglich ein Betätigungsfeld der Philosophen und der Theologen, vielleicht auch der Politiker. Szasz wirft daher die Frage auf, ob Psychotherapie nicht in die Sphäre von Rhetorik, Philosophie, Religion oder gar Demagogik gehört.
Tatsächlich hat schon Sokrates sich als einen „Seelenheiler” betrachtet. Er wollte die Menschen durch geschickte Befragung und Argumentation zur Tugend hinführen. Tugend hieß aber für ihn Tüchtigkeit oder Tauglichkeit der Seele. Plato läßt sogar Sokrates im „Charmides” die Worte sagen: „Die Behandlung der Seele besteht in gewissen Zaubersprüchen. Diese Zaubersprüche sind aber nichts anderes als vernunftgemäße Belehrungen.” [deutsche Übersetzung; man suche nach »Besprechungen«, Hinzufügung von mir] Man hört Szasz regelrecht nach dem Zitieren dieses Ausspruches „Aha!” rufen. Plato hat wohl für ihn die (guten) Psychoanalytiker charakterisiert.
Wenn aber Psychotherapie Rhetorik ist, dann kann sie nicht auch Wissenschaft sein. Das war u. a. die These des Aristoteles, der zwischen der politischen Rede, der Gerichtsrede und der Festrede unterschied und „überzeugende Gespräche” bei den Fächern Logik und Dialektik subsumierte: Ratschläge geben, Loben und Tadeln, angreifen und verteidigen sei nicht „wissenschaftlich”. Mit Hilfe von Metaphern aller Art beeinflußt der Redner seine Zuhörer. Er wird aber kaum exakt nachweisen können, daß seine Vergleiche und bildhaften Darstellungen immer der Wahrheit entsprechen.
Günstigenfalls spricht der Psychotherapeut „heilende Worte” aus, aber Sprechen hat immer einen predigenden und verkündenden Unterton, wenn man auf Menschen einwirken will. Nach Szasz sollte man einmal den Gedanken erwägen, ob nicht auch die Systeme der Tiefenpsychologie und Psychotherapie „weltliche Predigten und Verkündigungen” sind, das heißt die Erfindung einer neuen Suggestivsprache, die eine zügige Metaphorik eingeführt hat, durch die man fast jeden Menschen als „krank” bezeichnen kann. Mit ihrem neuartigen Sprachschatz machten die Schöpfer psychotherapeutischer Lehren sehr erfolgreich der Religion Konkurrenz auf dem Feld der „cura animarum” , der Pflege der Seelen. Um das aber leisten zu können, mußten sie „Ersatzreligionen” schaffen, und solche bekleiden sich am besten im Geiste der Neuzeit mit dem hübschen Mantel der „Wissenschaft”.
Faktisch hat die moderne Psychotherapie die Beichte, den Ablaßhandel, die Lossprechung von Sünden säkularisiert. Szasz, ein Nachfolger Luthers, will daran erinnern, daß man Sünden nicht durch Beichten und Geld bezahlen, sondern durch Selbstdisziplin, ehrliche Arbeit, gute Werke und Liebe „abtragen” kann.
Geht man der Geschichte der Psychotherapie nach (man kann sie in der Neuzeit bei Franz Anton Mesmer anfangen lassen), dann wird man gewahr, daß sie immer schon „Scheinbehandlungen” anbot, die auf Miteinandersprechen, Umstimmung des „Patienten” und Neuorientierung seines Verhaltens hinzielte. Gewöhnlich war es der Patient selbst, der sich heilte, weil er neue Wege vor sich sah, die ihn aus seiner Resignation und Verzweiflung herausführten. Der Therapeut steuerte hierzu den schwer faßbaren Einfluß seiner Persönlichkeit und eine „Metaphorik” bei, die die Zustände des „Kranken” irgendwie sinnvoll einzuordnen versuchte. Die Beliebtheit aller psychotherapeutischen Verfahren war nach Szasz schon aus diesem Grunde gesichert, weil die Psychiater nur sehr schmerzhafte und gewaltsame Methoden anzubieten hatten; daher waren die Patienten glücklich, wenn man sie nur mit Worten oder „Suggestionen” behandelte.
Auch Freud wurde, nachdem er mit Hypnose, Elektrotherapie und anderem Unfug begonnen hatte, ein „Rhetoriker-Therapeut”. Er begriff, daß er mit Gesprächen seinen Patienten helfen konnte. Aber es wäre blamabel in der medizinischen Fachwelt gewesen, sich als „Gesprächstherapeut” einzuführen. Daher gab – nach Szasz – der Begründer der Psychoanalyse seiner Lehre einen wohlklingenden Namen, versah seine Behandlungen mit einem pittoresken Ritual (Diwanmethode, freies Assoziieren usw.) und schuf auch einen theoretischen Rahmen hierzu, der den Charakter einer Pseudonaturwissenschaft hatte. All dies erleichterte den Siegeszug der „Freudschen Rhetorik” durch die gesamte Kulturwelt. Nach Szasz hat Freud ein neues Religionssystem geschaffen, aus dem folgerichtig auch gewisse Abspaltungen (Adler, Jung u. a. m.) hervorgingen. Der Streit der verschiedenen Richtungen der Tiefenpsychologie ist ein „Glaubensstreit”.
Szasz kann manchmal sehr grob in seiner Argumentation sein. So vergleicht er die Psychoanalyse mit einer Kartellgründung, die ein Monopol auf seelenärztliche Behandlung anstrebte. In seinen eigenen Worten (S. 135):

In der kommerziellen Sprache kann daher die erste Phase der Psychoanalyse, die Zeitspanne vor 1906, als die Periode der Produktentwicklung bezeichnet werden. Man gewinnt den Eindruck, als hätte Freud die Marketing-Konzeption für, sagen wir, Coca-Cola entwickelt und herausgefunden, daß innerhalb eines kleinen Kreises beträchtliches Interesse an und Nachfrage nach diesem Produkt bestand. Er entschloß sich alsbald zu seinem nächsten Schritt, der darin bestand, sein Produkt einem größeren Kundenkreis zu verkaufen, als er ihn mit jenen einfachen Werbemethoden erreichen konnte, die er benützt hatte, solange er seine Beobachtungen und Ideen einfach nur veröffentlichte. Im Jahre 1910 bildete Freud zwecks Förderung und Vertrieb von Psychoanalyse eine Aktiengesellschaft: die Internationale Psychoanalytische Vereinigung.

Jedermann wird zugeben, daß die „Firma Psychoanalyse” alle anderen seelenärztlichen Firmen der Welt überrundete; erst in der jüngsten Vergangenheit sind so viele Konkurrenzunternehmen gegründet worden, daß man um das „alteingesessene Geschäft” bangen muß. Szasz erläutert den „Kampf bis aufs Messer” zwischen der orthodoxen Lehre und ihren vielfachen Abwandlungen als den Konflikt rivalisierender Monopolkartelle oder aber als das Zusammenprallen verschiedener Konfessionen oder politischer Bekenntnisse. Freud, den man als großen Wissenschaftler verehrt, kann man nach Szasz auch als einen „Machtpolitiker” sehen, der mit seiner Psychoanalyse Macht über die Seelen aller Menschen gewinnen wollte.
Schon andere Beobachter haben darauf hingewiesen, daß in der psychoanalytischen Theorie ein ernüchternder, ja sogar entwertender Grundzug enthalten ist. Für die Anhänger Freuds ist dies ein Positivum; da die Menschheit jahrtausendelang moralisch auf Hochstapelei machte, mußten die Psychoanalytiker eine Gegenbewegung initiieren, die hinter allerlei Prunk und Praß „Menschliches, Allzumenschliches” entdeckte. Aber Szasz meint, daß Freud und die Seinen diesbezüglich zuviel des Guten oder Bösen getan haben. Sie unterstellten alles und jedes dem Pathologieverdacht. Auch erhabene Leistungen der Kunst und Kultur wurden mit dem Pathologievokabular abgehandelt. Schließlich war jeder Mensch „komplexbehaftet”, und wer nicht offen pathologisch war, konnte es immerhin „latent” sein. Die Psychoanalyse erklärte, mit Recht oder mit Unrecht, „daß die ganze Menschheit ihr Patient sei”.
Nach Szasz ähnelt der psychoanalytische Sprachschatz einem „Beschimpfungsvokabular”. Aber die Menschen lassen sich gerne beschimpfen, wenn es nur „wissenschaftlich” ist. Allerdings durchdrang diese Beschimpfungstendenz auch die Polemiken zwischen den einzelnen Schulen der Tiefenpsychologie. Wer anders dachte, wurde schnell „neurotischer Motive” verdächtigt; dieses Schicksal erlitten Alfred Adler, C. G. Jung, S. Ferenczi, Otto Rank und viele andere.
[Anmerkung von mir: Man beschäftige sich einmal näher mit dem Ausschluß Wilhelm Reichs aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934]
C. G. Jung, den Szasz einen „Pastor ohne Kanzel” nennt, genießt etwas Sympathie bei unserem cholerischen Psychoanalysekritiker, weil er offen den religiösen Charakter seiner Bestrebungen zugab und seine Lehre zu einer Quasi-Religion entfaltete. Indes Szasz bei Freud alle Abschattungen seines polemischen Talents zum Vorschein bringt, ist er bei Jung eigentümlich friedfertig. Offenbar war er sich nicht genügend klar darüber, daß Jungs Religiosität auch eine Inklination zu einem extremen Konservatismus und sogar zum Faschismus mit sich brachte. Der berühmte Guru der bürgerlichen Welt war charakterlich und weltanschaulich nicht gerade ein Nonplusultra, und sowohl seine Theorie als auch seine Praxis bieten Angriffspunkte für vielfache Kritik.
Immerhin muß auch sein Befürworter Szasz schließlich konstatieren (S. 195):

Jung weist also einige Fehler auf, die denen Freuds gleichen. Der Leidende, der zum Psychotherapeuten kommt, bringt die moralischen Probleme seines Lebens mit, der Psychotherapeut ist ein weltlicher Pastor, der mit Seelenheilung beschäftigt ist. Dennoch greift auch Jung, wenn es schwierig zu werden beginnt, darauf zurück, den psychischen Patienten als medizinisch krank zu betrachten und den Arzt-Psychotherapeuten als medizinischen Heiler. Und wie Freud erliegt auch Jung der Versuchung, das Gespräch zu konzessionieren, auch er wird zum Gründer einer eigenen Schule der Psychologie und Psychotherapie – und gerät, in gewisser Weise noch krasser als Freud, in Widerspruch zu seinen bedeutenden Einsichten in das Wesen des menschlichen Unglücks und zu unseren Möglichkeiten, damit fertig zu werden.

Indem Szasz vor einer Inflation des Psychotherapiebegriffs warnt und die heute überall ins Kraut schießenden Pseudotherapien bloßstellt, leistet er gewiß nützliche Arbeit, wenngleich man seinen manchmal zügellos wirkenden Attacken auch mit einiger Skepsis begegnen muß. Er hat offenbar nichts gegen Psychotherapie einzuwenden, wenn diese sich als nichtmedizinisch definiert und sich als Verständigung über die Lösung von Lebensschwierigkeiten begreift. Daher heißt es, nochmals die Gedanken rekapitulierend, auf den letzten Seiten unseres Textes (S. 210):

In der Psychotherapie ist die Situation vollkommen anders als in der normalen medizinischen Therapie. Psychotherapie ist, wie ich gezeigt habe, Religion oder Rhetorik (oder Repression, eine Möglichkeit, die ich hier nicht weiter ausführen werde). Das Resultat der Psychotherapie kann also nur so aussehen, daß der Betroffene bekehrt oder überredet wird, anders zu fühlen, zu denken oder zu handeln, als es bisher seine Gewohnheit war. Der „Patient” verändert manche seiner Verhaltensweisen; oder er bleibt der gleiche. Der Psychotherapeut tut nichts anderes als reden. Wenn es beim „Patienten” irgendwelche Veränderungen gibt, werden sie letztlich vom „Patienten” selbst herbeigeführt. Demnach ist es falsch zu behaupten, daß der Psychotherapeut behandelt oder ein Therapeut ist. Genauer wäre es zu sagen, daß der „Patient” in der Psychotherapie behandelt oder ein Therapeut ist; denn er behandelt sich selbst. Aber auch das wäre ein metaphorischer Gebrauch des Begriffs Behandlung, insofern nämlich, als eine solche Person sich selbst nur in dem Sinne behandelt, in dem jede Person, die sich sportlichen, erzieherischen oder religiösen Einflüssen beziehungsweise Anweisungen unterwirft oder aktiv damit kooperiert, sich selbst behandelt.


Weitere Schriften von Thomas Szasz

Wir haben nun die wichtigsten Gedankengänge von Szasz referiert, aber dieser fruchtbare Autor hat viel mehr Bücher geschrieben, als wir auf knappem Raum auswerten können. Es sei daher in stenographischer Verkürzung auf das weitere Schrifttum von Szasz Bezug genommen. In deutsch wurde u. a. noch publiziert: Die Fabrikation des Wahnsinns (1974); Psychiatrie – Die verschleierte Macht (1978); Das Ritual der Drogen (1978); Recht, Freiheit und Psychiatrie (1978); Theologie der Medizin (1980).
Die Fabrikation des Wahnsinns sucht die Quellen der heutigen institutionalen Psychiatrie mitsamt ihren Zwangseinweisungen, Krankheitsbegriffen und „Behandlungstechniken” dort, wo sie eigentlich niemand suchen würde: In den Zeiten des Hexenwahns, der Hexenverfolger und des berühmt-berüchtigten Malleus maleficarum (Der Hexenhammer, 1486). In jener Epoche wurde Europa vom „Hexenfieber” ergriffen. Aus noch nicht restlos aufgeklärten Ursachen heraus fingen die kirchlichen Behörden an, unschuldige Frauen als Hexen anzuklagen. Die armen Weiblein wurden per Folter dazu gezwungen, zuzugeben, daß sie mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hatten, mit ihm Geschlechtsverkehr ausübten und harmlose Christenmenschen durch Zauberei geschädigt hatten. Fast ausnahmslos waren die Hexen „geständig”; sie wurden meistens auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihr Hab und Gut verteilten unter sich die Anzeiger, die Richter und die Kirche. Die Inquisition gab dem ganzen Verfahren einen scheinbar rechtlichen Rahmen. Nach vorsichtigen Schätzungen sollen im Zeitraum zwischen 1486 und 1786 ca. eine Million Frauen durch diese Massenpsychose um ihr Leben gekommen sein.
Manche Psychiatriehistoriker (so etwa Gregory Zilboorg in The Medical Man and the Witch during the Renaissance) vertreten den Standpunkt, daß die Hexen „Hysterika” gewesen seien. Der Hexenhammer jedoch könne, wenn man den theologischen Jargon seines Inhalts abstreift, als eine Art „Lehrbuch der Psychiatrie” betrachtet werden. Szasz ist hierin gänzlich anderer Meinung. Er bestreitet auch, daß hauptsächlich materielle Habgier Wesen und Inhalt der Hexenprozesse ausgemacht habe. Gewiß haben da und dort geldgierige Menschen durch Hexenvernichtung einiges Gut zusammenraffen können. Aber der Hexenwahn hat eine noch tiefere Bedeutung.
Nach Szasz waren die Hexen – meistens alte, armselige und schutzlose Weiber – die Sündenböcke für das ausgehende Mittelalter und die anbrechende Neuzeit. Die institutionalisierte Religion und der Staatsapparat konnten solche Opfer recht gut brauchen. Man klagte die Frauen an und stellte sie vor Gericht; sie erlitten die Folter und anschließend den Flammentod. Das war einerseits ein Schauspiel für die Menge, andererseits aber auch eine Glorifikation für die Staatsgewalt und die kirchliche Obrigkeit. Um diese beiden Machtblöcke zu verstärken und ihre Herrschaft über die Menschen auszuweiten, mußten hunderttausende Frauen ihr Leben lassen.
Szasz unternimmt seine historische Untersuchung nicht zum Selbstzweck. Die Hexen dienen ihm als Analogie zum Psychiatriepatienten der Gegenwart. Auch hier werden, wie Szasz sagt, harmlose Menschen mit dem Stigma der „Abnormität” versehen. Man hält sie in Anstalten fest und unterwirft sie destruktiven Behandlungsweisen. Und all dies geschieht „zur höheren Ehre” der Medizin und Psychiatrie, die in der Gegenwart ebenso abergläubisch verehrt werden wie Staat und Kirche im Mittelalter. Kein Zweifel: Eine schockierende Parallele!
Wenn es aber keine „Wahnsinnigen”, keine „Neurotiker” und keine „Hexen” gibt, dann sollen wir nach Szasz auch unsere Einstellung zum Drogenproblem überdenken. Eine Anleitung hierzu will „Das Ritual der Drogen” geben. Szasz ist sich wohl bewußt, daß die Drogensucht in ihren vielerlei Gestalten einer der größten und schwerstlösbaren Fragenkomplexe für die Psychohygiene der Gegenwart darstellt. Er meint aber, daß man die Sache am falschen Ende anzupacken pflegt.
Als die weltweite „Suchtwelle” in den letzten zwanzig Jahren alle Kulturländer der Erde überspülte, griff man nach alter Gewohnheit zu Verfolgungen, Verboten und Unterdrückungsmaßnahmen. Der Polizeiapparat wurde verstärkt, die Drogenhändler wurden verfolgt, die Gerichte hatten alle Hände voll zu tun. Dieser Zustand dauert bis heute an, aber das ganze Repressionssystem hat eigentlich wenig Erfolg gezeitigt. Die Drogen werden weiterhin in alle Zonen des Globus geschmuggelt. Die „Suchtkranken” , die man „behandelt”, werden meistens rückfällig. Kein Ende der „Drogengefahr” ist abzusehen.
Szasz, der Vorkämpfer für Liberalität an allen Fronten, plädiert dafür, die Drogen freizugeben. Man soll sie in hygienischer Form billig kaufen können. Das würde die Beschaffungsprostitution und ‑kriminalität eindämmen oder abschaffen. Jeder Mensch soll selbst entscheiden können, ob und wie er sein Leben erhalten oder ruinieren will.
Tatsächlich sind Tabak und Alkohol ebenfalls „gefährliche Drogen”, aber hier intervenieren Staat und Gesellschaft kaum, weil diese „Gifte” bereits anerkannt sind und starke Lobbies besitzen, die sich einem Verbot entgegenstellen können. Das mutet Szasz so an, als ob man die Jagd auf „die anderen Drogen” eröffnet hätte, um den Markt für Tabak und Alkohol zu sichern. Das tönt sehr überspitzt, aber immerhin liegt Logik in dem Argument, daß man niemanden vor der Selbstzerstörung bewahren kann, wenn man (hauptsächlich) Zwangsmittel anwendet. Es läge wohl durchaus im Konzept von Szasz, daß man die Summen, die man beim legalen Verkauf von Suchtmitteln gewinnt, für eine kluge und überzeugende Propaganda gegen den Drogenmißbrauch verwenden könnte. Dies erst wäre „Demokratie” und „Selbstbestimmung des Bürgers” auch angesichts des Drogenproblems, das uns wiederum vor die Alternative von „Autorität contra Autonomie” stellt. Nach Szasz ist es eine Ursünde des modernen Menschentums, das es innerhalb dieser Alternative allzuleicht zum Autoritarismus hin inkliniert.
Autoritarismus – neben falschem Wissenschaftsverständnis – ist auch die Quelle des Allmachtsgebarens der modernen Psychiatrie und Medizin. Diese These erörtert Szasz in den drei Büchern Psychiatrie – Die verschleierte Macht, Theologie der Medizin und Recht, Freiheit und Psychiatrie. Sie sind so nachhaltig und freiheitsliebend orientiert, daß man begreifen kann, warum dieser Autor 1973 von der Humanistischen Vereinigung Amerikas zum „Humanisten des Jahres” gewählt wurde.
Auch andere Institutionen, denen die Freiheit des Individuums am Herzen liegt, haben Szasz unterstützt und geehrt.
In Psychiatrie – Die verschleierte Macht (eine Aufsatzsammlung über alle Themen, die unseren Autor zu beschäftigen pflegen) gibt es einen Abschnitt, der die humanistische Haltung unseres psychiatrischen Don Quixote, der keine institutionelle Windmühle unattackiert läßt, vortrefflich illustriert. Es ist das Kapitel „Psychiatrisches Klassifizieren als eine Strategie der Persönlichkeitsknebelung” (S. 148-182).
Im Alten Testament fordert Jehowah von den Menschen: „Du sollst dir kein Bildnis von mir machen!” Der Sinn dieses Gebotes besteht wohl darin, daß derjenige, der sich ein Bild oder einen festen Begriff von etwas (oder jemand) macht, bald darauf auch seine Herrschaftsambitionen an ihm auslassen kann. Nun ist es nach Szasz – und damit rekapituliert er seine Psychiatrie- und Psychoanalysekritik – der Fehler aller „Psychopathologen”, daß sie die „Patienten” klassifizieren, rubrizieren und (falsch) benennen. Dieser Bilder- und Begriffskult ist asozial, ungerecht und antihuman. Er wird vor allem gegen hilflose Menschen angewandt; daher heißt es in diesem Buch (S. 176):

Das Klassifizieren eines Menschen nach seinem Verhalten ist meines Erachtens gewöhnlich ein Mittel zu dem Zweck, ihm Beschränkungen aufzuerlegen. Das gilt besonders für das psychiatrische Klassifizierungswesen, dessen traditionelles Ziel es immer war, die sozialen Kontrollen, denen sogenannte geisteskranke Patienten unterworfen wurden, zu rechtfertigen. Aber derart kujonieren kann man einen anderen Menschen nur unter der Voraussetzung, daß man auch die Macht dazu hat. Wenn meine Ausführungen über das psychiatrische Klassifizieren der Wahrheit entsprechen, müßte sich herausstellen, daß solche Einstufungen viel öfter mit Armen und Hilflosen als mit Reichen und Mächtigen vorgenommen werden. Und genau das stellt sich auch heraus.
Unsere Gesellschaft kennt zwei Formen von Zugehörigkeit, die Menschen gegen ihren Willen aufgedrängt werden können – Kriminalität und Geisteskrankheit. Diese Klassen unterscheiden sich von denjenigen, deren Mitgliedschaft man erwerben oder ablehnen kann. Es trifft auch zu, daß Kriminalität und Geisteskrankheit in den unteren sozialen Schichten am weitesten verbreitet und in. den höheren Klassen am seltensten sind. Es gibt da einen zynischen Spruch: Wer fünf Dollar stiehlt, ist ein Dieb, wer fünf Millionen stiehlt, ist ein Finanzmann. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Der kleine Taschendieb ist leichter zu knebeln als der einflußreiche Kapitalist. Nicht anders steht es mit den menschlichen Ereignissen, die wir Geisteskrankheit nennen. Das Problem, das eine reiche Frau nach Reno treibt, wird eine arme Frau wahrscheinlich ins staatliche Krankenhaus treiben. Wenn sich ein Fleischer, Bäcker oder Kerzenhaltermacher von den Kommunisten verfolgt wähnt, kann man ihn mühelos in die Nervenklinik stecken, aber wer würde zum Beispiel einen von den gleichen Wahnvorstellungen geplagten Verteidigungsminister einsperren?

Klassifizieren, Rubrizieren, Bilder und Modelle machen sind durchaus gerechtfertigt in den Naturwissenschaften, die – wie man spätestens seit Max Scheler weiß – schon wesensmäßig „Herrschaftswissenschaften” sind. Naturerkenntnis oder Begreifen der Dinge ist eine Vorstufe zu ihrer Beherrschung und Manipulation durch die Technik; denn Technik ist, wie man zu definieren pflegt, u. a. „angewandte Naturwissenschaft”. Aber im Bereich der Human- und Sozialwissenschaften, zu dem nach Szasz das Studium des Menschen und seiner tausendfältigen Verhaltensabweichungen gehört, ist Herrschaft fehl am Platze. Solche Wissenschaften haben die sittliche Würde des Menschen zu wahren. Denn man hat es hier mit „Personen” zu tun, die nach Immanuel Kant nicht mit „Sachen” zu verwechseln sind. Es ist ein ontologischer Lapsus der neuzeitlichen Wissenschaft, daß sie die Probleme von Personen und Persongemeinschaften mit Sachkategorien abzuhandeln versucht: wir nennen das etwa Positivismus, Behaviorismus, Materialismus usw. Demgegenüber führt Szasz abschließend mit Recht folgende Grenzziehung ins Feld (S. 179):

Tatsächlich ist das Zentralproblem der Naturwissenschaft in einer einschneidenden Hinsicht das genaue Gegenteil dessen der Moralwissenschaft. Wohl suchen beide ihre Beobachtungsobjekte zu verstehen, allein zu verschiedenen Zwecken. Die Naturwissenschaft will sie dadurch besser kontrollieren können, während die Moralwissenschaft auf diese Weise ihre Fähigkeit verbessern möchte, sie unangetastet zu lassen.
Wie gesagt – so schwierig das Klassifizieren von Dingen sein mag, noch schwieriger ist es, sie nicht zu klassifizieren, das heißt, das Urteil auszusetzen und den Einstufungsakt aufzuschieben. Jetzt können wir ergänzend hinzufügen: So schwierig das Beherrschen von Menschen auch sein mag, noch schwieriger ist es, sie nicht zu beherrschen, nämlich ihre Selbständigkeit anzuerkennen und ihre persönliche Freiheit zu achten.


Kritische Bewertung

Szasz' Lebenswerk ist überwiegend kritischer Natur. Einzig in seinem Buch Geisteskrankheit – Ein moderner Mythos hat er ein positives Anliegen in Angriff genommen, nämlich die Formulierung einer Neurosenlehre auf sprach- und spieltheoretischer Basis. Diese Neurosentheorie ist originell und unseres Erachtens auch fruchtbar. Sie ließ sich, vermutlich mit kleinen Einschränkungen, auch auf die Psychosen anwenden; denn die tiefenpsychologische Theorie und Praxis der Psychosenbehandlung scheint doch darauf hinzuweisen, daß Störungen wie z. B. die Schizophrenie in weiten Bereichen mit dem Instrumentarium des Neurosenverständnisses begriffen werden können.
Der Rückgriff auf die Sprach- und Spieltheorie brachte es mit sich, daß die „Spiele” der seelisch normalen und der (angeblich) abnormen Menschen als weitgehend ähnlich definiert wurden. Das führte zu einer Destruktion des psychoanalytischen und psychiatrischen „Krankheitsbegriffes” , die Szasz in allen seinen Werken mit bemerkenswerter Leidenschaft unternimmt. Aber es ist fraglich, ob er hierbei in den Grenzen des Maßes und der Vernunft bleibt. Gewiß ist es in der Psychopathologie sehr schwierig, die Idee des „Normalen” zu bestimmen. Alfred Adler behalf sich hierbei mit dem Hinweis auf den Aufgabencharakter des Menschenlebens. Er wies darauf hin, daß dem Menschen „von Natur gleichsam” die Aufgaben der Arbeit, der Liebe (der Sexualität) und der Gemeinschaft gestellt sind; weiter betonte er die Notwendigkeit, das Leben stilvoll zu gestalten („Kunst als Lebensaufgabe”), die eigene Individualität zu entfalten u. a. m. So gesehen, enthält jede Psychotherapie implizit einen „ethischen Kern”.
Szasz, der Adler sehr zu schätzen weiß, geht im Akzeptieren seelisch-geistiger Normvorstellungen nicht so weit wie dieser Vorläufer seiner Anzweifelung der psychopathologischen „Krankheitslehre”. Um so radikaler attackiert er die These, daß es im Seelenleben überhaupt „Krankheit” gibt. Natürlich hören das „seelisch gestörte Menschen” nicht ungerne. Denn sie haben meistens kein Abnormitätsbewußtsein; auch ist es eine der Definitionen von Psychopathie, daß nicht etwa der Betroffene selbst, sondern seine Umgebung zu leiden hat. Wir meinen, daß die Mitte zwischen dem psychiatrischen Krankheitsverständnis und dem Szaszschen Normalitätsuniversalismus irgendwie das Richtige treffen könnte. Es ist wahr, daß Psychiater und Psychoanalytiker überall „Pathologie” zu sehen pflegten und auch heute noch sehen. Das ist ebenso unvernünftig wie die Meinung, daß es überhaupt keine Anomalien im Seelen- und Geistesleben gibt.
Eine der kulturellen Errungenschaften der Neuzeit besteht darin, daß man etwa im Bereich krimineller Delikte danach fragt, ob der Täter „geistig gesund oder abnorm” war (im Augenblick der Tat). Danach wird unter Umständen das Strafmaß bemessen oder gar die Straffähigkeit verneint. Szasz in seinem denkerischen Absolutismus will diese Fragestellung ebenso abschaffen wie die „Neurosen- und Psychosenbehandlung” . Das ist ein Rückfall in reaktionäres Denken bei einem fortschrittlichen Menschen, dem Freiheit und Verantwortung für alle Bürger offensichtlich viel bedeuten. Szasz geht sogar so weit, zu behaupten, auch offenbar gestörte oder desorientierte Menschen müßten die volle Wucht des Gesetzes erleiden, wenn sie zum Rechtsbrecher werden. Er übersieht dabei, daß die Biographie vieler Delinquenten lehrt, wie sehr zuerst die Gesellschaft an ihnen schuldig wurde, bevor sie ihren Mitmenschen Leid zufügten.
Diese Einseitigkeiten und übersteigerten Radikalismen mindern jedoch nicht unseren Respekt vor Szasz, der so manche „heilige Kuh” der Psychiatrie und Psychoanalyse geschlachtet hat. Diese beiden Berufsstände sind heutzutage schier allmächtig (vor allem der erstgenannte); es braucht einen Löwenmut, um sie anzugreifen und in die Schranken zu weisen. Oppositionelle Geister wie Szasz sind in einer Demokratie lebenswichtig; sie erfüllen eine anregende, Erstarrung bekämpfende und Freiraum schaffende Funktion, die durch nichts ersetzt werden kann. Da Menschen und Institutionen zum Konservatismus neigen, braucht es immer wieder „revoltierende Geister”, damit wir das Reich der Humanität nicht aus dem Auge verlieren.


Ausgewählte Literatur

Adler, A. (1933). Der Sinn des Lebens. Frankfurt: Fischer 1973.
Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien. Reprint München: K. Saur 1978.
Freud, S. (1895). Studien über Hysterie. GW I.
Laing, R. (1972). Das geteilte Selbst. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Mead, G. H. (1934). Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt: Suhrkamp 1968.
Piaget, J. (1946). Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart: Klett-Cotta 1969.
Szasz, T. (1961). Geisteskrankheit – Ein moderner Mythos. Olten: Walter 1972. – (1963). Recht, Freiheit und Psychiatrie. Wien: Europaverlag 1978.
- (1974). Die Fabrikation des Wahnsinns. Olten: Walter.
- (1978). Psychiatrie – Die verschleierte Macht. Frankfurt: Fischer.
- (1978). Das Ritual der Drogen. Wien: Europaverlag.
- (1979). Schizophrenie – Das heilige Symbol der Psychiatrie. Wien: Europaverlag.
- (1980). Theologie der Medizin. Wien: Europaverlag.
- (1982). Der Mythos der Psychotherapie. Wien: Europaverlag.

aus Rattner, Klassiker der Psychoanalyse, Beltz, 2. Aufl., S. 800ff.



Thomas Szasz: Does mental illness exist? {22:21}
Veröffentlicht am 05.07.2012
A conversation with Thomas Szasz. Filmed at the Centre of Excellence in Interdisciplinary Mental Health where he discusses 'does mental illness exist?'

Thomas Szasz on Psychiatry and Religion {42:15}

Veröffentlicht am 24.04.2012
Thomas Szasz is a psychiatrist and author well known for his criticism of the modern psychiatry movement. He has consistently sought to apply classical liberal principles (such as bodily and mental self ownership) to social science and also explored the consequences of mandatory institutionalization of persons the state deemed to be insane. In his book, The Myth of Mental Illness (1960), Szasz claims that psychiatry ultimately robs people of the responsibility of being moral agents by obscuring the difference between socially unacceptable behavior and disease.
In this lecture, given at the National Libertarian Party's Nominating Convention in 1983, Szasz compares the influence of psychiatry on the public with the influence of religion on the public (usually with the backing of the respective king or government body) during the Middle Ages. Szasz points out that the state's tendency to use science as a justification for trampling the rights of individuals today is much like the state's tendency to use religious justifications to trample the rights of individuals in days past. Szasz once wrote in 1974:
"Since theocracy is the rule of God or its priests, and democracy the rule of the people or of the majority, pharmacracy is therefore the rule of medicine or of doctors."
Download the .mp3 version of this lecture here: http://bit.ly/HXbnP3

Tomas Szasz on mental health {3:58}

Hochgeladen am 06.07.2010
You must watch this then follow the link to his website http://www.szasz.com/
Perhaps most radically ... Thomas Szasz deemed mental illness a mythic and monstrous beast, and proclaimed that 'mntal illness' was a fiction. Insanity, he has continued ever since to claim, is not a real disease, whose nature has been progressively scientifically unveiled; Essence or Existence: The Problem of Psychiatry-Schizophrenia

mental illness is rather a myth, forged by psychiatrists for their own greater glory.
Over the centuries, medical men and their supporters have been involved, argues Szasz, in a self-serving 'manufacture of madness.' In this, he indicts both the pretensions of organic psychiatry and the psychodynamic followers of Freud, whose notion of the 'unconscious' in effect breathed new life into the obsolete metaphysical Cartesian dualism. For Szasz, any expectation of finding the etiology of mental illness in body or mind -- bove all in some mental underworld -- must be a lost cause, a dead-end, a linguistic error, and even an exercise in bad faith. 'Mental illness' or the 'unconscious' are not realities but at best metaphors. In promoting such ideas, psychiatrists have either been involved in improper cognitive imperialism or have rather naively pictorialized the psyche -- reifying
the fictive subtance behind the substantive. Properly speaking, contends Szasz, insanity is not a disease with origins to be excavated, but a behavior with meanings to be decoded.Social existence is a rule-governed game-playing ritual in which the mad person bends the rules and exploits the loopholes. Since the mad person is engaged in social performances that obey certain expectations so as to defy others, the pertinent questions are not about the origins, but about the conventions, of insanity. In this light, Szasz dismisses traditional approaches to the history of madness, as questions mal posés, and aims to
reformulate them." --From: Porter, R., Introduction, in Porter, R. and Wright, D., eds.,The Confinement of the Insane: International Perspectives, 1800-1965 (Cambridge: Cambridge University Press, 2003); pp. 1-19; p. 2.

The Last Interview of Thomas Szasz (2013) - Trailer {2:48}

Andrew Lyman-Clarke
Am 29.07.2013 veröffentlicht 
The Last Interview of Thomas Szasz, a film by Philip Singer, Ph.D, is a documentary exploring the controversial beliefs of the legendary anti-psychiatry psychiatrist Dr. Thomas Szasz, M.D. For more information please see
http://www.witnessfilms.com/documentary. To inquire about purchasing the film you can contact us directly: andrew@witnessfilms.com
Film and trailer edited by Andrew Lyman-Clarke.

siehe auch:
- Die subjektive Seite der Schizophrenie (Tagungsflyer, Hanse-Klinikum, Stralsund, P2012, DF)
‘Freedom is more important than health’: Thomas Szasz and the problem of paternalism (Joanna Moncrieff, International Psychiatry, Mai 2014, PDF, S. 46)
The legacy – or not – of Dr Thomas Szasz (1920-2012) (Trevor Turner, International Psychiatry, Mai 2014, PDF, S. 48)
Thomas Szasz: Philosopher of Liberty (John Breeding, Journal of Humanistic Psychology, Januar 2011, gefunden auf The Wildest Colts)