I Ost und West
Viele Denker des Westens haben, jeder
von seinem besonderen Gesichtspunkt aus, das abgenutzte Thema »Ost und West«
behandelt, aber soviel ich weiß, gab es nur verhältnismäßig wenige
Schriftsteller des Fernen Ostens, die als Vertreter des Ostens ihre Ansichten
zum Ausdruck gebracht haben. Deshalb habe ich dieses Thema als eine Art
Einleitung zu dem Folgenden gewählt.
»Yoku mireba »Wenn ich aufmerksam schaue,
Nazuna hana saku Seh’ ich die Nazuna
Kakine kana.« An
der Hecke blühen!«
Wahrscheinlich ging Basho eine
Landstraße entlang, als er etwas bemerkte, das unscheinbar an der Hecke stand.
Er näherte sich, sah genau hin und fand, daß es nichts als eine wilde Pflanze
war, die recht unbedeutend ist und für gewöhnlich von Vorübergehenden nicht
beachtet wird. Es ist eine einfache Tatsache, die in dem Gedicht beschrieben
wird, ohne daß dabei ein besonders poetisches Gefühl zum Ausdruck kommt, außer
vielleicht in den beiden letzten Silben, die auf japanisch »kana« lauten. Diese
Partikel, die häufig an ein Hauptwort, ein Adjektiv oder ein Adverb angehängt
wird, drückt ein gewisses Gefühl der Bewunderung, des Lobes, des Leidens oder
der Freude aus und kann manchmal in der Übersetzung ziemlich treffend durch ein
Ausrufungszeichen wiedergegeben werden. im vorliegenden Haiku endet der ganze Vers
mit einem solchen Ausrufungszeichen.
Es ist nicht leicht, dem, der mit der
japanischen Sprache nicht vertraut ist, das Gefühl zu vermitteln, das die
siebzehn oder vielmehr fünfzehn Silben mit einem Ausrufungszeichen durchdringt.
Ich will versuchen, so gut ich kann, es zu erklären. Der Dichter selbst wäre
vielleicht mit meiner Interpretation nicht einverstanden; aber das macht nicht
viel aus, wenn wir nur wissen, daß es überhaupt jemand gibt, der es so versteht
wie ich.
Zunächst war Basho, wie die meisten
Dichter des Ostens, ein Naturdichter. Sie lieben die Natur so sehr, daß sie
sich mit ihr eins fühlen, daß sie jeden Pulsschlag in den Adern der Natur
spüren. Die meisten Menschen des Westens neigen dazu, sich der Natur zu
entfremden. Sie glauben, der Mensch und die Natur hätten außer in einigen
wünschenswerten Punkten nichts gemeinsam, und die Natur sei nur dazu da, um vom
Menschen ausgenützt zu werden. Den Menschen des Ostens jedoch ist die Natur
sehr nahe. Dieses Gefühl für die Natur wurde angesprochen, als Basho eine
unauffällige und fast unbedeutende Pflanze entdeckte, die an der alten,
schäbigen Hecke entlang der abgelegenen Landstraße so unschuldig und
anspruchslos blühte und keineswegs begehrte, von jemandem bemerkt zu werden.
Und doch, wenn man sie betrachtet, wie zart ist sie, wie voll göttlicher Pracht
und Herrlichkeit, die die Salomos weit übertrifft! Ihre Demut, ihre schlichte
Schönheit erwecken Bewunderung. Der Dichter kann aus jedem Blütenblatt das
Geheimnis des Lebens oder Seins lesen. Vielleicht war sich Basho selbst dessen
gar nicht bewußt, aber ich bin sicher, daß sich damals in seinem Herzen ein
Gefühl regte, in etwa mit dem verwandt, das die Christen göttliche Liebe nennen
und das bis in die Tiefen des kosmischen Lebens reicht.
Die Gebirgszüge des Himalaya erregen in
uns vielleicht das Gefühl von Ehrfurcht gegen ihre Erhabenheit; die Wogen des
Stillen Ozeans lassen uns an die Unendlichkeit denken. Aber wenn der Geist
eines Menschen poetisch, mystisch oder religiös aufgeschlossen ist, fühlt er
wie Basho, daß selbst in jedem Grashalm etwas liegt, das über alle gemeinen,
niedrigen menschlichen Gefühle hinausreicht und in einen Bereich erhebt, der an
Glanz dem Land der Reinheit gleichkommt. Größe hat in solchen Fällen nichts zu
bedeuten, in dieser Hinsicht hat der japanische Dichter eine besondere
Begabung, in kleinen Dingen etwas zu entdecken, das alle quantitativen Ausmaße
übertrifft.
Das ist der Osten. Sehen wir nun, was
uns der Westen in einer ähnlichen Situation zu bieten hat. ich wähle Tennyson,
der zwar vielleicht kein so typischer Dichter des Westens ist, um ihn zum
Vergleich mit dem Dichter des Fernen Ostens heranzuziehen. Aber sein kurzes
Gedicht, das ich hier zitiere, ist dem Bashos nahe verwandt. Es lautet:
»Blume in der geborstenen Mauer,
ich pflücke dich aus den Mauerritzen,
Mitsamt den Wurzeln halte ich dich in
der Hand,
Kleine Blume – doch wenn ich verstehen
könnte,
Was du mitsamt den Wurzeln und alles in
allem bist,
Wüßte ich, was Gott und Mensch ist.«
In diesen Zeilen ist zweierlei
bemerkenswert:
1. Tennyson pflückt die Blume, hält sie
»mitsamt den Wurzeln« in der Hand und betrachtet sie wohl mit Aufmerksamkeit.
Höchstwahrscheinlich hatte er ein ähnliches Gefühl wie Basho, als er die
Nazuna-Blume an der Hecke am Wegrand entdeckte. Aber der Unterschied zwischen
den beiden Dichtern besteht darin: Basho pflückt die Blume nicht, er betrachtet
sie nur. Er ist in Gedanken versunken. Er fühlt etwas in seinem Innern, aber er
spricht es nicht aus. Er läßt ein Ausrufungszeichen alles sagen, was er sagen
will; denn er hat keine Worte; sein Gefühl ist zu voll, zu tief, und er hat
nicht den Wunsch, es in Begriffe zu fassen.
Tennyson hingegen ist aktiv und
analytisch. Als erstes pflückt er die Blume von der Stelle, wo sie wächst. Er
reißt sie aus ihrem Nährboden. Ganz anders als der östliche Dichter läßt er die
Blume nicht in Frieden. Er muß sie »mitsamt den Wurzeln« aus der geborstenen
Mauer reißen, was bedeutet, daß die Pflanze sterben muß. Offenbar ist ihm ihr
Schicksal gleichgültig; seine Neugier muß befriedigt werden. Wie gewisse
Mediziner viviseziert er die Blume. Basho berührt die Nazuna nicht einmal, er
betrachtet sie nur, er schaut sie »aufmerksam« an, weiter nichts. Er ist
vollkommen passiv, ein guter Kontrast zu Tennysons Aktivismus.
Ich möchte diesen Punkt besonders
betonen und komme später nochmals darauf zurück. Der Osten schweigt, der Westen
ist beredt. Aber das Schweigen des Ostens bedeutet nicht, einfach stumm zu sein
und wortlos oder sprachlos zu bleiben. Oft ist das Schweigen ebenso beredt wie
ein Wortschwall. Der Westen liebt es, alles in Worte zu fassen. Und nicht nur
das, er verwandelt das Wort in Materie und läßt diese Materialität manchmal
überdeutlich oder vielmehr allzu grob und sinnlich in seiner Kunst und Religion
zum Ausdruck kommen.
2. Was tut Tennyson als nächstes? Er
betrachtet die gepflückte Blume, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu welken
beginnt, und fragt sich: »Verstehe ich dich?« Basho fragt überhaupt nicht. Er
fühlt das ganze Geheimnis, das seine bescheidene Nazuna offenbart – das
Geheimnis, das bis zum Ursprung aller Existenz reicht. Er ist von diesem Gefühl
berauscht und äußert sich in einem unaussprechbaren, unhörbaren Schrei.
Im Gegensatz dazu fährt Tennyson mit
seiner Gedankenarbeit fort: »Wenn ich
dich verstehen könnte« (ich betone das Wenn), »wüßte ich, was Gott und Mensch
ist.« Sein Appell an das Verstehen ist typisch für den Westen. Basho nimmt hin,
Tennyson widersteht. Tennysons Individualität distanziert ihn von der Blume,
von »Gott und Mensch«. Er identifiziert sich weder mit Gott noch mit der Natur.
Er ist stets von ihnen abgesondert. Sein Verstehen ist »wissenschaftlich
objektiv«, wie es heutzutage genannt wird. Basho ist durch und durch
»subjektiv«. (Das ist kein gutes Wort; denn das Subjekt wird immer einem Objekt
gegenübergestellt. Mein »Subjekt« ist etwas, was ich »absolute Subjektivität«
nennen möchte.) Basho beharrt auf dieser »absoluten Subjektivität«, mit der er
die Nazuna und die Nazuna ihn sieht. Hier gibt es weder Einfühlung noch Mitgefühl
und auch keine Identifizierung.
Basho sagt: »Wenn ich aufmerksam
schaue.« Das Wort »aufmerksam« deutet an, daß Basho hier nicht mehr Zuschauer
ist, sondern daß sich die Blume ihrer selbst bewußt wurde und sich schweigend,
beredt ausdrückt. Und diese schweigende Beredsamkeit, dieses beredte Schweigen
der Blume wird in menschlicher Ausdrucksweise durch Bashos siebzehn Silben
wiedergegeben. Welche Gefühlstiefe, welches Geheimnis des Ausdrucks, ja sogar
welche Philosophie der »absoluten Subjektivität« darin liegt, ist nur denen
verständlich, die das alles selbst schon erlebt haben.
Bei Tennyson gibt es, soviel ich sehen
kann, zunächst keine Gefühlstiefe; typisch für die westliche Mentalität, ist er
ganz Intellekt. Er ist ein Verfechter des Logos. Er muß etwas sagen, er muß
sein konkretes Erlebnis abstrahieren oder gedanklich verarbeiten. Er muß aus
dem Bereich des Gefühls in das des Intellekts treten und das Leben und das
Gefühl einer Reihe von Analysen unterwerfen, um die Neugier des westlichen
Menschen zu befriedigen.
Ich habe diese zwei Dichter, Basho und
Tennyson, gewählt, weil sie zwei charakteristische Arten zeigen, die
Wirklichkeit zu betrachten. Basho kommt aus dem Osten und Tennyson aus dem
Westen. Wenn wir sie vergleichen, sehen wir, daß jeder die Traditionen seiner
Umwelt offenbart. Demnach ist der westliche Geist analytisch, unterscheidend,
differenzierend, induktiv, individualistisch, intellektuell, objektiv,
wissenschaftlich, verallgemeinernd, begrifflich, schematisch, unpersönlich, am
Recht hängend, organisierend, Macht ausübend, selbstbewußt, geneigt, anderen
seinen Willen aufzuzwingen, usw. Die Wesenszüge des Ostens können dagegen
folgendermaßen charakterisiert werden: synthetisch, zusammenfassend,
integrierend, nicht unterscheidend, deduktiv, unsystematisch, dogmatisch,
intuitiv (bzw. affektiv), nicht diskursiv, subjektiv, geistig individualistisch
und sozial kollektivistisch usw.[1].
Sollen diese charakteristischen
Eigenschaften von Ost und West durch Personen symbolisiert werden, muß ich auf
Laotse (viertes Jahrhundert v. Chr.), einen großen Denker im alten China,
zurückgehen. Ich lasse ihn den Osten vertreten, und das, was er »die Vielen«
nennt, den Westen. Wenn ich »die Vielen« sage, will ich meinerseits jedoch
nicht dem Westen in irgendeinem abfälligen Sinne die Rolle jener Masse
zuteilen, die der alte Philosoph beschreibt.
Laotse ähnelt nach seiner eigenen
Beschreibung einem Idioten. Er sieht aus, als wisse er nichts, als berühre ihn
nichts. In dieser utilitaristischen Welt ist er praktisch unnütz. Er ist fast
ausdruckslos. Und doch ist etwas in ihm, das ihn von einem unwissenden
Einfältigen unterscheidet; er gleicht diesem nur äußerlich.
Im Gegensatz dazu besitzt der Westen
ein Paar scharfe, durchdringende Augen, die tief in den Höhlen liegen und die
Außenwelt überblicken wie die Augen eines Adlers, der hoch in den Lüften
schwebt. (Tatsächlich ist der Adler das nationale Symbol einer gewissen
westlichen Macht.) Seine scharfgeschnittene Nase, seine dünnen Lippen und die
gesamten Gesichtszüge – sie alle deuten auf eine hochentwickelte Intelligenz
und eine Bereitschaft zum Handeln hin. Diese Bereitschaft ist mit der eines
Löwen vergleichbar. Und in der Tat sind Löwen und Adler die Symbole des
Westens.
Tschuangtse im dritten Jahrhundert v.
Chr. erzählt die Geschichte von Konton (hun-tun), dem Chaos. Die Freunde des
Chaos verdankten ihm vieles von dem, was sie erreicht hatten, und wollten sich
erkenntlich zeigen. Sie beobachteten, daß das Chaos keine Sinnesorgane hatte,
um die Außenwelt zu unterscheiden. So gaben sie ihm an einem Tag Augen, am
nächsten eine Nase, und innerhalb einer Woche vollendeten sie das Werk, es in
eine fühlende Person wie sie selbst zu verwandeln. Während sie einander zu
ihrem Erfolg gratulierten, starb das Chaos.
Der Osten ist das Chaos, der Westen die
Schar jener dankbaren und wohlmeinenden, aber unkritischen Freunde.
Zweifellos erscheint der Osten in
vieler Hinsicht dumm und stupide, da die Menschen des Ostens nicht so viele
sichtbare und greifbare Zeichen von Intelligenz erkennen lassen. Sie sind
chaotisch und scheinbar gleichgültig. Aber sie wissen, daß ihre angeborene
Intelligenz ohne diesen chaotischen Zug dem menschlichen Zusammenleben nicht
viel nützen würde. Die fragmentarischen Einzelglieder können ohne Bezug auf das
Unendliche selbst, das tatsächlich jedem einzelnen der endlichen Glieder
zugrundeliegt, nicht harmonisch und friedlich zusammenwirken. Die Intelligenz
gehört dem Kopf an; und ihr Wirken ist auffallender und leistet viel, wogegen
das Chaos still und stumm hinter aller oberflächlichen Betriebsamkeit verharrt.
Seine wahre Bedeutung tritt niemals so stark hervor, daß sie für Beobachter
erkennbar würde.
Der wissenschaftlich eingestellte
Westen gebraucht seine Intelligenz, um alle möglichen Einrichtungen zu erfinden,
um den Lebensstandard zu erhöhen und sich seiner Meinung nach unnötige Arbeit
und Plackerei zu ersparen. Er gibt sich daher alle Mühe, die ihm zugänglichen
natürlichen Hilfsquellen zu »entwickeln«. Dem Osten hingegen macht es nichts
aus, alle möglichen niedrigen und manuellen Arbeiten zu verrichten; er ist
offenbar mit dem »unentwickelten« Stand seiner Zivilisation zufrieden. Er
möchte nicht dem Maschinendenken verfallen; sich zu einem Sklaven der Maschine
machen. Diese Liebe zur Arbeit darf man wohl charakteristisch für den Osten
nennen. Die Geschichte eines Bauern, die Tschuangtse erzählt, ist in vieler
Hinsicht bezeichnend und vielsagend, obwohl sie sich vor über zweitausend
Jahren in China abgespielt haben soll.
Tschuangtse war einer der größten Philosophen
des alten China. Man sollte ihn viel mehr studieren, als dies zur Zeit
geschieht. Die Chinesen sind nicht so spekulativ wie die Inder und
vernachlässigen leicht ihre eigenen Denker. Obwohl die Kenner der chinesischen
Literatur Tschuangtse als den größten Stilisten sehr gut kennen, werden seine
Gedanken nicht so gewürdigt, wie sie es verdienten. Er war ein hervorragender
Sammler von Geschichten, die zu seiner Zeit in Umlauf waren Wahrscheinlich hat
er jedoch auch viele Geschichten selbst erdacht, um seine eigenen
Lebensansichten zu illustrieren. Hier ist eine Geschichte, die seine
Philosophie der Arbeit prächtig veranschaulicht, die Geschichte eines Bauern,
der es ablehnte, ein Ziehgestänge zu benutzen, um Wasser aus seinem Brunnen zu
heben.
Ein Bauer grub einen Brunnen, um sein
Land zu bewässern. Das Wasser trug er in einem Eimer mühsam aus dem Brunnen
herauf. Als das ein Vorübergehender sah, fragte er den Bauern, warum er dazu
nicht einen Ziehbrunnen verwende; er spare Arbeit und leiste mehr als die
primitive Methode. Der Bauer sagte: »Ich weiß, daß er Arbeit spart, und gerade
das ist der Grund, warum ich ihn nicht verwende. Ich fürchte, daß man dem
Maschinendenken verfällt, wenn man eine solche Einrichtung verwendet, und das
führt zu Indolenz und Faulheit.«
Die Menschen des Westens fragen oft,
warum die Chinesen nicht mehr Wissenschaften und mechanische Vorrichtungen
entwickelt haben. Das ist eigenartig, sagen sie, da doch die Chinesen für ihre
Entdeckungen und Erfindungen wie den Magneten, das Schießpulver, das Rad, das
Papier und andere Dinge bekannt sind. Der Hauptgrund ist der, daß die Chinesen
und andere asiatische Völker das Leben so lieben, wie es ist, und es nicht in
ein Mittel verwandeln wollen, etwas zu erreichen, was den Lauf des Lebens in
eine völlig andere Bahn lenken würde. Sie lieben die Arbeit um ihrer selbst
willen, wenn auch, objektiv gesehen, arbeiten etwas vollbringen heißt. Aber bei
der Arbeit freuen sie sich an der Arbeit und beeilen sich nicht, sie zu
beenden. Mechanische Vorrichtungen sind wohl wirksamer, sie leisten mehr, aber
die Maschine ist unpersönlich und unschöpferisch und hat keinen Sinn.
Mechanisierung bedeutet
Verstandesarbeit, und da der Verstand in erster Linie zweckmäßig denkt, hat die
Maschine keine geistige Ästhetik und keinen ethischen Geist. Hierin liegt der
Grund, der Tschuangtses Bauern veranlaßte, sich nicht der Maschine
auszuliefern. Die Maschine drängt uns, die Arbeit zu beenden und das Ziel zu
erreichen, für das sie geschaffen wurde. Die Arbeit an sich ist wertlos, außer
als Mittel zum Zweck. Das heißt, das Leben verliert hier seine schöpferische
Kraft und wird zu einem Instrument, und der Mensch ist nunmehr ein Mechanismus,
der Güter produziert. Die Philosophen sprechen von der Bedeutung der Person;
wie wir jetzt sehen, ist in unserem hochindustrialisierten und mechanisierten
Zeitalter die Maschine alles und der Mensch fast völlig zur Knechtschaft
verdammt. Das ist es, glaube ich, was Tschuangtse fürchtete. Natürlich können
wir das Rad der Industrialisierung nicht bis zum Zeitalter der primitiven
Handarbeit zurückdrehen. Aber es wird gut sein, wenn wir der Bedeutung der
Hände eingedenk sind und auch der Übel, die mit der Mechanisierung des modernen
Lebens einhergehen, das den Intellekt auf Kosten des Lebensganzen zu sehr
betont.
Soviel für den Osten. Nun einige Worte
über den Westen. Denis de Rougemont sagt in seinem Man’s Western Quest, daß »der Mensch und die Maschine« die beiden
hervorstechendsten Merkmale der westlichen Kultur seien. Das ist bezeichnend, weil
der Mensch und die Maschine einander widersprechende Erscheinungen sind und der
Westen schwer darum kämpft, sie miteinander in Einklang zu bringen. Ich weiß
nicht, ob die Menschen des Westens dies bewußt oder unbewußt tun. Ich möchte
nur auf die Art und Weise hinweisen, wie diese beiden heterogenen Ideen
gegenwärtig die Gedanken des Westens beeinflussen. Es muß beachtet werden, daß
die Maschine zu Tschuangtses Philosophie der Arbeit in Widerspruch steht und
daß die westlichen Auffassungen von individueller Freiheit und persönlicher
Verantwortung den östlichen Auffassungen von absoluter Freiheit widersprechen.
Ich will hier keine Einzelheiten anführen, sondern will nur versuchen, die
Widersprüche zusammenzufassen, denen der Westen gegenwärtig gegenübersteht und
unter denen er leidet:
1. Mensch und Maschine bilden einen
Widerspruch, und wegen dieses Widerspruches steht der Westen unter großer
psychologischer Spannung, die sich in verschiedenen Bereichen seines modernen
Lebens äußert.
2. Zum Begriff des Menschen gehören
Individualität und persönliche Verantwortung, wogegen die Maschine das Produkt
von Gedankenarbeit, Abstraktion, Verallgemeinerung, Totalisierung und
Kollektivdasein ist.
3. Objektiv, intellektuell oder vom
Maschinendenken aus gesehen, hat persönliche Verantwortung keinen Sinn. Die
Verantwortung hängt logisch mit der Freiheit zusammen, und in der Logik gibt es
keine Freiheit, denn alles wird durch starre syllogistische Regeln beherrscht.
4. Überdies wird der Mensch als
biologisches Produkt von biologischen Gesetzen beherrscht. Die Vererbung ist
eine Tatsache, die keine Persönlichkeit ändern kann. Ich werde nicht durch
meinen eigenen freien Willen geboren. Die Eltern bringen mich nicht durch ihren
freien Willen zur Welt. Geburtenplanung hat in Wirklichkeit keinen Sinn.
5. Freiheit ist ebenfalls eine
unsinnige Idee. Ich lebe sozial, in einer Gemeinsehaft, wodurch ich in all
meinen Bewegungen eingeschränkt werde, und zwar sowohl in geistiger als auch
physischer Hinsicht. Selbst wenn ich allein bin, bin ich keineswegs frei. Ich
habe alle möglichen Impulse, die ich nicht immer beherrsche. Einige Impulse
gehen ohne meinen Willen mit mir durch. Solange wir in dieser begrenzten Welt
leben, können wir niemals behaupten, wir seien frei oder handelten, wie wir
wollten. Selbst dieser Wunsch ist etwas, das uns nicht gehört.
6. Der Mensch kann von Freiheit
sprechen, soviel er mag; die Maschine schränkt seine Freiheit doch so sehr ein,
daß sie leeres Gerede bleibt. Der Mensch des Westens ist von Anfang an genötigt,
beschränkt, gehemmt. Seine Spontaneität ist keineswegs seine eigene, sondern
die der Maschine. Die Maschine hat keine schöpferische Kraft; sie arbeitet nur
soweit oder soviel, wie es das, was in sie hineingesteckt wird, ermöglicht. Sie
handelt nie als »Person«.
7. Der Mensch ist nur frei, wenn er
unpersönlich ist. Er ist frei, wenn er sich verleugnet und im Ganzen aufgeht.
Genauer gesprochen, er ist frei, wenn er er selbst und doch nicht er selbst
ist. Solange er diesen scheinbaren Widerspruch nicht voll und ganz versteht,
steht es ihm nicht zu, von Freiheit, Verantwortung oder Spontaneität zu
sprechen. So ist zum Beispiel die Spontaneität, von der die Menschen des
Westens, vor allem einige Psychoanalytiker, sprechen, nicht mehr und nicht
weniger als kindliche oder tierische Spontaneität und nicht die Spontaneität
der voll ausgereiften Persönlichkeit.
8. Maschine, Behaviorismus, bedingte
Reflexe, Kommunismus, künstliche Besamung, Automation allgemein, Vivisektion,
Wasserstoffbombe – sie alle stehen in innigster Beziehung zueinander und bilden
zusammengeschweißte feste Glieder einer logischen Kette.
9. Der Westen bemüht sich, einen Kreis
in ein Quadrat zu verwandeln. Der Osten versucht, einen Kreis dem Quadrat
gleichzusetzen. Für das Zen ist der Kreis ein Kreis und das Quadrat ein
Quadrat, und gleichzeitig ist das Quadrat ein Kreis und der Kreis ein Quadrat.
10. Freiheit ist ein subjektiver
Begriff, der sieh objektiv nicht interpretieren läßt. Wenn wir es versuchen,
verwickeln wir uns unentwirrbar in Widersprüche. Deshalb sage ich, es ist
Unsinn, in dieser objektiven Welt der Beschränkungen um uns von Freiheit zu
sprechen.
11. Im Westen ist Ja gleich Ja und Nein
gleich Nein. Ja kann niemals Nein bedeuten und umgekehrt. Der Osten läßt Ja zu
Nein und Nein zu Ja hinübergleiten; zwischen Ja und Nein gibt es keine starre
Grenze. Es liegt in der Natur des Lebens, daß dies so ist. Nur in der Logik ist
die Grenze unverwischbar. Die Logik wurde vom Menschen als Hilfsmittel für
nützliche Zwecke geschaffen.
12. Wenn dem Westen diese Tatsache
bewußt wird und er gewisse physikalische Phänomene nicht durch Erklärungen aus
der Welt schaffen kann, erfindet er Begriffe, wie sie in der Physik als
Komplementarität oder als Unschärferelation bekannt sind. Wie gut es ihm aber
auch gelingen mag, einen Begriff nach dem anderen zu erfinden, er kann
bestehende Tatsachen nicht überlisten.
13. Wir befassen uns hier nicht mit der
Religion, aber es ist vielleicht nicht uninteressant, folgendes festzustellen:
Das Christentum, die Religion des Westens, spricht von Logos, Wort, Fleisch,
Inkarnation und leidenschaftlicher Weltlichkeit. Die Religionen des Ostens
streben nach Exkarnation, Stille, Absorption, ewigem Frieden. Für Zen ist
Inkarnation gleich Exkarnation, die Stille dröhnt wie Donner, das Wort ist
wortlos, das Fleisch fleischlos, Hier-jetzt ist gleich Leere (sunyata) und
Unendlichkeit.
II Das Unbewußte im Zen-Buddhismus
Es ist vielleicht nicht dasselbe, was
ich unter dem »Unbewußten« verstehe und was Psychoanalytiker damit meinen, und
ich muß daher meine Auffassung erklären. Vor allem, wie ich an die Frage des
Unbewußten herangehe. Wenn ich einen solchen Ausdruck gebrauchen soll, würde
ich sagen, mein »Unbewußtes« ist »metawissenschaftlich« (überwissenschaftlich)
oder »antewissenschaftlich« (vorwissenschaftlich). Sie alle sind
Wissenschaftler, und ich bin ein Anhänger des Zen, und meine Auffassung ist
»antewissenschaftlich« manchmal sogar »antiwissenschaftlich«, fürchte ich.
»Antewissenschaftlich« ist vielleicht kein passender Ausdruck, aber er scheint
das auszudrücken, was ich damit sagen möchte. Auch »metawissenschaftlich« ist
vielleicht nicht schlecht, denn die Auffassung des Zen kommt zur Entfaltung,
nachdem die Wissenschaft oder die Intellektualisierung seit geraumer Zeit das
gesamte Gebiet menschlicher Forschung eingenommen hat; und das Zen verlangt,
daß wir, bevor wir uns bedingungslos der Herrschaft der Wissenschaft über den
gesamten Bereich menschlicher Tätigkeit unterwerfen, innehalten und nachdenken,
ob die Dinge, so wie sie sind, in Ordnung sind.
Die wissenschaftliche Methode, die
Wirklichkeit zu untersuchen, besteht darin, einen Gegenstand vorn sogenannten
objektiven Standpunkt aus zu betrachten. Nehmen wir beispielsweise an, eine
Blume hier auf dem Tisch sei Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Die
Wissenschaftler werden sie allen möglichen botanischen, chemischen und
physikalischen Analysen unterziehen und uns mitteilen, was sie von diesen
verschiedenen Blickwinkeln aus über die Blume gefunden haben, und sie werden
sagen, daß die Untersuchung der Blume abgeschlossen und nichts weiter über sie
zu sagen sei, wenn nicht zufällig im Verlauf anderer Untersuchungen etwas Neues
entdeckt werde.
Das Hauptmerkmal, das die Einstellung
der Wissenschaft zur Wirklichkeit auszeichnet, besteht darin, daß sie einen
Gegenstand beschreibt, über ihn spricht, um ihn herumgeht, alles festhält, was
unsere Sinne und unseren Verstand erregt, und es vom Gegenstand selbst
fortabstrahiert, und wenn sie glaubt, fertig zu sein, diese analytisch gebildeten
Abstraktionen synthetisiert und das Ergebnis für den Gegenstand selbst hält.
Aber es bleibt immer noch die Frage
offen: »Ist wirklich der ganze Gegenstand im Netz gefangen?« Ich möchte sagen;
»Keineswegs!« Denn der Gegenstand, den wir glauben gefangen zu haben, ist bloß
eine Summe von Abstraktionen und nicht der Gegenstand selbst. Für praktische
utilitaristische Zwecke scheinen all diese sogenannten wissenschaftlichen
Formeln mehr als ausreichend zu sein, aber der sogenannte Gegenstand ist nicht
ganz da. Wenn wir das Netz eingeholt haben, finden wir, daß etwas durch die
feineren Maschen geschlüpft ist.
Es gibt jedoch noch einen anderen Weg,
der Wirklichkeit gegenüberzutreten, der vor oder nach den Wissenschaften kommt.
Ich nenne ihn Zen.
aus einem
Vortrag, den Suzuki anläßlich einer Arbeitstagung über Zen-Buddhismus und
Psychoanalyse hielt, die unter der Leitung des Instituts für Psychoanalyse an
der medizinischen Fakultät der autonomen Staatsuniversität von Mexiko im August
1957 in Cuernavaca, Mexiko, abgehalten wurde – entnommen aus: Fromm, Suzuki, deMartino, Zen-Buddhismus und Psychoanalyse
[1] Die Christen betrachten
die Kirche als Mittel zur Erlösung, weil sie Christus, den Erlöser,
symbolisiert. Die Christen stehen nicht unmittelbar, sondern durch Christus mit
Gott in Verbindung, und Christus ist die Kirche, und die Kirche ist der Ort, wo
sie sich versammeln, um Gott anzubeten und ihn durch Christus um Erlösung zu
bitten. In dieser Hinsicht sind die Christen kollektivistisch, während sie in
gesellschaftlicher Hinsicht für den Individualismus eintreten.
siehe auch:
- Zen für Dummies (GoogleBooks)
- Giulio Cesare Giacobbe Wie Sie Ihre Hirnwichserei abstellen und stattdessen das Leben genießen (Leseprobe, Goldmann-Verlag)
- Neurose und Erleuchtung – Überlegungen zu Sinnfindung (Zwiebel, Zen-Forum, 2004, PDF)
aktualisiert am 22.07.2015
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