Donnerstag, 13. Dezember 2012

Passivität


Stufen der Abwertung („Passives Denken”)

Lehrer: ,,Ich bin empört, daß ihr Karl gestern so brutal geschlagen habt.
Ich erwarte, daß ihr zu ihm geht und das wieder in Ordnung bringt!”
Schüler: „Worüber regen Sie sich eigentlich auf? Da war doch gar nichts los!”
Schüler: „Der soll sich bloß nicht so anstellen. Die paar Knuffe können doch gar nicht weh getan haben!”
Schüler: „Der blöde Schnacker hält doch nie seine Klappe, wenn er nicht ab und zu was drauf kriegt!”
Schüler: „Ja, wenn der sein Maul aufreißt, kann ich nicht anders, als ihm eine zu verpassen!”

Beispiele wie dieses erleben wir häufig in ganz alltäglichen Gesprächen:
Jemand spricht ein Problem an, und zwar eines, das wirklich existiert. Die anderen sehen das Problem nicht oder bewerten es anders. Kennzeichnend sind Äußerungen wie: „Ich weiß gar nicht, wovon du redest!”, oder: „Nun machen Sie mal nicht gleich aus einer Mücke einen Elefanten”, oder: „Sie haben ja vielleicht recht, aber da kann man nichts machen, ich habe schon alles versucht.” Bleibt es dabei, reden die Beteiligten aneinander vorbei, da sie von unterschiedlichen Ebenen des Problembewußtseins ausgehen. In unserem Beispiel werden durch die verschiedenen Reaktionen vier Stufen erkennbar, denen jeweils eine Leugnung bzw. Abwertung von bestimmten Aspekten der Realität entspricht:

Stufe 1: Der Schüler bestreitet, daß überhaupt ein Problem existiert.
Die typische Äußerung auf dieser Stufe: Ich weiß nicht was du hast da war (ist) doch nichts!
Stufe 2: Der Schüler spielt die Bedeutung des Problems herunter.
Typische Äußerung: Das macht doch nichts, das spielt doch weiter keine Rolle!
Stufe 3: Der Schüler behauptet, das Problem sei nicht vermeidbar bzw. nicht anders lösbar. Typische Äußerung: Da kann man nichts (anderes) machen!
Stufe 4: Der Schüler sieht keine Möglichkeit, sich persönlich anders zu verhalten, um das Problem zu lösen bzw. zu vermeiden. Typische Äußerung in diesem Fall: Ich kann das nicht (anders).

Allen diesen Reaktionen liegt eine Leugnung bzw. Abwertung von Aspekten der Realität zugrunde. Wir sprechen hierbei von passivem Denken. Es ist der Nährboden für einen unproduktiven Umgang mit Problemen, also für passives Verhalten, und zugleich eine Quelle für Blockierungen und Mißberständnissen in der Komunikation. Passives Denken zeigt sich in Strategien, die uns aus alltäglichen Gesprächssituationen vertraut sind: übersehen, vergessen, vermeiden, nicht wichtig nehmen, herunterspielen, bagatellisieren, bestreiten, leugnen usw.
Wenn wir das Gefühl haben, aneinander vorbeizureden, liegt es oft dar an, daß unser Gegenüber sich in Bezug auf das Thema, um das es geht, auf einer anderen Stufe des Problembewußtseins befindet. So hat es natürlich keinen Sinn, Lösungsmöglichkeiten oder gar Schritte persönlicher Veränderung anzusprechen, wenn unsere Geprächspartner das Problem als solches oder seine Bedeutung nicht sehen (wollen). Im Eingangsbeispiel läuft der Impuls „ … daß ihr das wieder in Ordnung bringt!” völlig ins Leere, solange sich die Angesprochenen auf einer der Abwertungsstufen 1 – 3 befinden. Erst wenn sie das Problem sehen, als bedeutsam anerkennen und Verhaltensalternativen in Betracht ziehen, hat es Sinn, mit ihnen über eine Lösung bzw. Veränderung zu reden.
Dieses Konzept des passiven Denkens mit den vier Stufen und den genannten Differenzierungen ermöglicht eine gute Diagnose darüber, wo jemand sich in Bezug auf den Umgang mit einem Problem befindet.
Am weitesten entfernt von einem konstruktiven Umgang mit Problemen sind Menschen, die nicht einmal Stimuli wahrnehmen, die auf eine Schwierigkeit hinweisen (zum Beispiel den Lärm einer randalierenden Klasse nicht hören, berechtigten Ärger in einer entsprechenden Situation nicht fühlen, Scherben auf dem Schulhof nicht sehen). Das passive Denken äußert sich hier in regelrechten Wahrnehmungsstörungen. Der Druck, Problemen auszuweichen, ist offenbar so hoch, daß nur mit dem Ausblenden (Verdrängen) der für andere Personen offensichtlichen Realität das innere Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann.
Einem konstruktiven Handhaben von Problemen am nächsten sind Personen, die die relevanten Stimuli wahrnehmen und beachten, die Bedeutung von Problemen für sich und andere realistisch einschätzen, unterschiedliche Handlungsweisen alternativ in Betracht ziehen und die im Hinblick auf eine gegebene Situation angemessenste Möglichkeit wählen können.
Mit Hilfe dieses Konzepts ist in einem problembezogenen Gespräch und auch in einer längerfristigen Arbeit mit Gruppen oder einzelnen eine gute Erfolgskontrolle möglich. Als bemerkenswerter Erfolg zu werten ist es, wenn jemand sich deutlich und stabil von Stufe 1 (Leugnung der Existenz des Problems) zu Stufe 4 (Leugnung der persönlichen Fähigkeit) entwickelt und auf dieser Ebene weiterarbeitet. Umgekehrt deutet sich eine ineffektive Entwicklung an, wenn jemand am Ende eines Gesprächs, das bereits nahe an einer Lösung zu sein schien, äußert: „ … eigentlich ist das alles doch nicht so schlimm!” – es sei denn, diese Äußerung beruht auf einer durchdachten Neubewertung des Sachverhalts.



Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich einige Regeln zum Umgang mit passivem Denken ableiten:

1. Versuchen Sie einzuschätzen, auf welcher Stufe des passiven Denkens Ihr Gegenüber argumentiert. 


2. Setzen Sie auf dieser Stufe an und geben Sie Unterstützung dabei, die anderen Stufen bis zu einer ungetrübten Sicht der Dinge zu durchschreiten. 


3. Hilfreich ist es, die Partner mit Aspekten zu konfrontieren, die sie auf der jeweiligen Stufe ausblenden – nicht etwa ein oder zwei Stufen weiter. 


4. Wenn eine zu große Divergenz im Problembewußtsein erkennbar wird, prüfen und entscheiden Sie, ob es sinnvoll ist, in der gegebenen Situation das Gespräch weiterzuführen. 


5. Beachten Sie, ob die am Ende des Gesprächs erreichte Stufe aufrechterhalten wird. 


6. Bei einem Rückschritt überlegen Sie, ob Sie selbst durch zu forsches Vorgehen Anlaß für Widerstand geboten haben könnten.


Passives Verhalten

Das Abwerten ist ein innerer Prozeß, den wir als solchen von außen nicht direkt erkennen können. Er manifestiert sich jedoch in bestimmten Sichtweisen, die uns in den Äußerungen unserer Gesprächspartner deutlich werden. Passivität (im Sinne von Vermeiden oder unproduktivem Umgehen mit Problemen) wird freilich auch auf der Verhaltensebene und damit konkret und unmittelbar sichtbar.
Die offensichtlichste Form passiven Verhaltens ist das Nichtstun angesichts eines bestehenden Problems oder einer zu lösenden Aufgabe. Anstatt die Energie für die Problemlösung einzusetzen, wird sie in die Vermeidung von Aktivität investiert. Bisweilen genießt es die Person mit einem gewissen Triumph, den Prozeß zu blockieren und die anderen „zappeln” zu lassen. Oft aber fühlt sie sich selbst unbehaglich und spult eine Menge Phantasien ab ( … was alles Schlimmes passieren könnte, was die anderen jetzt über sie denken; manchmal auch: was sie im Grunde Tolles zustande bringen könnte, wenn sie nur … ). Die anderen Beteiligten fühlen sich in der Regel ebenfalls unbehaglich. In gewisser Weise findet ein stummer Kampf darum statt, wer es länger aushalten kann – und meistens „gewinnt” die passiv(st)e Person: Die anderen werden aktiv und übernehmen Verantwortung für die passive Person und die Lösung des Problems. Das zu erreichen, ist die heimliche Absicht allen passiven Verhaltens.
Eine scheinbar aktive und deshalb oft nicht erkannte, bisweilen sogar hoch geschätzte Form passiven Verhaltens ist die Überanpassung. Jemand liest anderen die Wünsche von den Augen oder Lippen ab, sagt stets Ja und Amen und zeigt eine Art von vorauseilendem Gehorsam. Sie ist nicht in Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen und Zielen, sondern versucht, ständig das zu tun, was sie für die Erwartung der anderen hält, und überprüft dabei nicht einmal, ob es das ist, was diese wollen. Von anderen wird diese Haltung oft geschätzt oder sogar unterstützt, da sie als hilfreich und pflegeleicht erlebt wird. In der Überanpassung ist von allen passiven Verhaltensweisen am meisten Denken enthalten – wenn auch kein eigenständiges. Der Haken dabei ist, daß Personen in der Überanpassung keine Verantwortung für ihr Handeln und dessen Folgen übernehmen: „Aber Sie haben doch gesagt … ; ich hatte Sie so verstanden, daß ich … tun sollte”. Dieses Verhalten bringt häufig Ihrem Gegenüber, (“Da habe ich genau getan, was Sie mir geraten haben, und nun sehen Sie, was dabei herausgekommen ist!”), bisweilen aber auch Ihnen selbst am Ende Ärger ein („Hören Sie endlich auf mit Ihrem Ja und Amen!”).
So liegt es in der Natur der Überanpassung, daß keine aus der Sicht der betreffenden Person stimmige und für sie passende Problemlösung stattfindet. Probleme werden nur scheinbar gelöst, aber es bleibt ein ungutes Gefühl zurück, da eine wirkliche Auseinandersetzung, die oft zu einer echten Lösung gehört, nicht stattgefunden hat.
Zu den passiven Verhaltensweisen zählt auch eine andere Form von scheinbar hoher Aktivität: Zielloses, ungerichtetes, ruheloses Tun und Treiben, das in der Regel nicht zu Ende gebracht wird, auf jeden Fall aber nicht das diesem Verhalten zugrunde liegende Problem löst. Wir nennen dieses Verhalten Agitation. Agitation zeigen Personen, die sich mit ihrer Situation oder Aufgabe sehr unbehaglich fühlen und ihre Spannung abzufackeln versuchen. Anzeichen dafür sind zum Beispiel ruheloses Hin- und Herlaufen, nervöses mit den Fingern trommeln, im Haar oder Bart zwirbeln. Bisweilen ist Agitation schwer erkennbar. Sie kann auch vorliegen, wenn jemand viele Fragen stellt (ohne mit den Antworten etwas anzufangen oder ihnen überhaupt zuzuhören), immer neue spontane Einfälle äußert (statt sie von einem bestimmten Punkt an zu entfalten und in Zusammenhang zu bringen), unzählige Brief- oder Buchanfänge schreibt und wieder zerknüllt (mit dem illusionären Ausblick, daß es immer noch nicht so ist, wie man schreiben will und kann). Ein typisches Argumentationsmuster zur Rechtfertigung von Agitation ist es, Dinge, die zu tun sind, mit dem Gedanken zu verzögern: „Bevor ich dieses Problem erfolgreich anpacken kann, muß ich zuerst noch … “ Agitation ist mehr auf Energieabfuhr als auf Problemlösung gerichtet. Klares Denken fehlt, die Person erlebt sich als verwirrt und hofft, daß das Problem sich löst, indem sie irgendetwas tut.
Oft durchlaufen Menschen im Umgang mit bestimmten Problemen mehrere Stufen passiven Verhaltens.
Ein Beispiel:
Ein Student hat eine Hausarbeit anzufertigen, das Thema reizt ihn, der Termin läßt ausreichend Zeit. Er fängt sogleich an, emsig Material zu sammeln, insbesondere Forschungsbeiträge des Professors, der ihm das Thema stellte (Überanpassung). Nach wenigen Tagen hat er sich einen ganz ordentlichen Apparat zusammengestellt und könnte loslegen – gönnt sich jetzt aber erst einmal eine ausgiebige Ruhepause und schiebt den Beginn der eigentlichen Arbeit vor sich her (Nichtstun). Von Tag zu Tag wächst nun sein Unbehagen, er erlebt erste Anflüge von Panik und sagt sich jeden Abend: „Morgen muß ich aber unbedingt anfangen!” „Deshalb” räumt er erst einmal sein Zimmer oder auch die ganze Wohnung gründlich auf, geht „vorausschauend” einkaufen. Dabei fallen ihm weitere Dinge ein, die er vorher noch unbedingt erledigen muß (Agitation). Schließlich wirft er beim Aufräumen „aus Versehen” wichtige Arbeitsunterlagen in den Müll, arbeitet Tag und Nacht durch, schwächt seinen Körper durch den Konsum von Unmengen Koffein und Nikotin und strapaziert auch seine Umgebung aufs äußerste. Entweder bricht er zusammen und erzwingt sich so die Fürsorge der anderen und die Nachsicht seines verehrten Professors, oder er schafft es gerade noch, mit Hilfe einiger eilends zusammengetrommelter Freunde und ist letztlich sogar noch stolz darauf, daß in so knapper Zeit kaum jemand vor ihm eine solche Arbeit bewältigt hat.
Dieses Beispiel zeigt in der letzten Phase der Eskalation den Übergang zur vierten Form passiven Verhaltens, die wir Gewalt bzw. sich oder andere unfähig machen nennen. Dazu zählt im weitesten Sinne jedes Verhalten, mit dem wir uns selbst, andere oder Sachen verletzen bzw. schädigen und uns damit unfähig machen, ein Problem zu lösen. Neben direkten Formen aggressiven Verhaltens gegen andere Personen oder Sachen gehören hierzu auch die vielfältigen Formen von Autoaggression (zum Beispiel Nägelkauen, Alkohol- und Drogenkonsum, risikoreiches, schnelles Fahren etc.) sowie die Bildung psychosomatischer Symptome als Reaktion auf unbewältigte Konflikte oder als Mittel, um ängstigenden Situationen auszuweichen.
Gewalt in diesem Sinne zeigen Personen, die glauben, „es” nicht mehr aushalten zu können. Sie setzen sich selbst oder andere außer Gefecht, zeigen kein eigenes Denken und keine Verantwortlichkeit mehr und zwingen so andere Personen, einzugreifen und Verantwortung zu übernehmen. Ganz deutlich wird dies bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.
Vorsichtig sollte man allerdings damit sein, jegliches Mißgeschick oder jedes körperliche Symptom vorschnell als passives Verhalt zu zu interpretieren. Bei wiederholtem Auftreten ist es freilich angezeigt, sich selbst oder andere mit der Frage zu konfrontieren, ob man auf diese Weise einem Problem ausweicht, das man glaubt, nicht lösen zu können.
Wichtig ist die Frage, wie man passives Verhalten erkennt. Zwar gibt es eine Reihe von Verhaltensweisen, die so eindeutig passiv sind, daß es auch für ein ungeschultes Auge offensichtlich ist. Auf der anderen Seite gibt es einen fast unmerklichen Übergang zu Situationen und Verhaltensweisen, in denen es doch „ganz verständlich ist, daß jemand nicht anders konnte” oder in denen man „ihr doch nun wirklich keinen Vorwurf machen kann”. Ein brauchbares Kriterium dafür, daß passives Verhalten vorliegt, ist es, wenn man sich in eine „Symbiose” gelockt sieht, in der man sich mit guten Gründen unwohl fühlt. Ziel passiven Verhaltens ist es nämlich, daß jemand anders Verantwortung für die betreffende Person übernehmen soll, die sie im Blick auf Alter, Fähigkeiten und Lebensumständen selbst zu tragen imstande wäre. Wenn das gelingt, wird eine unangemessene Symbiose hergestellt.


Symbiose

Die Symbiose ist ein uns allen aus der Kindheit vertrautes Beziehungsmuster. Wenn wir – als Kinder – noch nicht imstande sind, für uns selbst zu denken und Verantwortung zu übernehmen, da die dafür erforderlichen Ichzustände noch nicht ausgereift sind, benötigen wir die symbiotische Ergänzung durch andere, in der Regel durch unsere Eltern. Sie stellen ihr Erwachsenen- und Eltern-Ich so weit zur Verfügung, wie es im Blick auf unseren Reifungszustand nötig ist. Je weiter wir in unserer Entwicklung fortschreiten, desto mehr lösen wir uns aus der anfänglich notwendigen, gesunden Symbiose. Im günstigsten Fall bekommen wir von unseren Bezugspersonen die ausdrückliche Erlaubnis und Ermutigung, uns von ihnen loszulösen und zugleich das, was wir an Fürsorge, Schutz und Information noch von ihnen brauchen, auf angemessene Weise in Anspruch zu nehmen. Wenn diese Loslösung gut gelingt, gehen wir daraus als Erwachsene hervor, die in der Lage sind, auf eigenen Beinen zu stehen und als selbständige Menschen mit anderen, auch mit den eigenen Eltern, in Kontakt zu treten.
Freilich gibt es auch für Erwachsene Situationen, in denen es in Ordnung ist, symbiotische Wünsche zu haben. Dazu gehören Momente extremer Belastung, in denen wir dazu tendieren, vor allem das Kindheits- Ich zu besetzen, so zum Beispiel bei starker Betroffenheit durch einen Verlust, bei Schock, Unfall, schlimmer Krankheit etc. Sofern dann andere Menschen dafür zur Verfügung stehen, ist es angemessen und sinnvoll, sich für eine Weile trösten und versorgen zu lassen, um das belastende Gefühl durchleben und verarbeiten zu können. Gleichfalls ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Partner in Beziehungen eine ausbalancierte wechselseitige Symbiose eingehen, in der beide Seiten sich angemessen selbst verwirklichen können und sich wohl fühlen.
Davon abzugrenzen ist allerdings die ungute Symbiose, wie man sie in vielen Varianten im Alltagsleben antrifft. (Wenn wir im Blick auf Situationen des alltäglichen Erwachsenenlebens von Symbiosen sprechen, so meinen wir in aller Regel diese Art von Symbiose). Viele Menschen haben sich aus der ursprünglich vielleicht gesunden Symbiose mit ihren Eltern noch nicht vollständig gelöst. So glauben sie unbewußt noch als Erwachsene, nur dann klar kommen und sieh wohlfühlen zu können, wenn sie das vertraute Abhängigkeitsmuster in irgendeiner Weise wieder hergestellt bekommen.
Dafür ein (beinahe) alltägliches Beispiel: Er (47) sitzt im Sessel und wirft ihr wie selbstverständlich die Bemerkung hin: „Ich habe Durst!”. In der Struktur ähnelt diese Äußerung der eines Kindes, das sich noch nicht allein fortbewegen kann und sich sprachlich auf der Stufe der Artikulation einfachster Grundbedürfnisse befindet. Er leugnet, genau besehen, die Fähigkeit, für sich selbst sorgen zu können, und zeigt als passives Verhalten Nichtstun. Erfolg hat er, wenn sie sich seine Selbstabwertung zu eigen macht, ihre eigenen Bedürfnisse abwertet und/oder glaubt, nur dadurch die Beziehung zu ihm stabilisieren zu können (Grandiosität). Wiederholter Erfolg dieses Verhaltens läßt ihn natürlich daran festhalten. Sein „Gewinn” ist vermutlich, neben augenscheinlicher Bequemlichkeit, das Wiedererleben eines angenehmen Versorgtwerdens durch eine mütterliche Bezugsperson, vielleicht auch ein gelegentliches „Ausgeschimpftwerden” mit dem nicht konsequent verfolgten Anspruch, er müsse nun aber endlich mal selbst „in die Puschen kommen”.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Passives Verhalten basiert auf einer internen Abwertung, meist verbunden mit einer grandiosen Übertreibung bestimmter Aspekte der eigenen Person, anderer Menschen oder der Situation. Es zielt auf die (Wieder-) Herstellung einer Symbiose, in der andere sich so unbehaglich fühlen sollen, daß sie aktiv werden und Verantwortung übernehmen.


Redefinieren

Der Mechanismus, mit dem passive Menschen das Abwerten bzw. Übertreiben in Transaktionen mit anderen Menschen zur Geltung bringen, ist das Redefinieren, das wir schon im Kapitel über den Bezugsrahmen erläutert haben. Stimuli, die nicht in den eigenen Bezugsrahmen, die festgelegte Meinung über sich, die anderen und die Welt passen, werden so umgedeutet, daß sie das eigene System nicht .in Frage stellen. Die Erwartungen, Nachfragen, Hinweise und Informationen anderer Menschen werden auf diese Weise derart blockiert oder so umgebogen, daß keine Korrektur der eigenen Vorstellungen erforderlich wird und die passive Haltung aufrechterhalten werden kann. Dafür werden tangentiale und blockierende Transaktionen verwendet.
In einer tangentialen Transaktion beziehen sich Stimulus und Reaktion auf unterschiedliche Themen oder verschiedene Aspekte desselben Themas. Besonders tückisch sind die oft fast unmerklichen Verschiebungen auf andere Aspekte ein und desselben Themas. Der Partner glaubt zunächst, eine Reaktion auf seine Aussage zu bekommen, und wird sich nicht oder erst sehr viel später bewußt, daß die redefinierende Person ausgewichen ist. Die Beispiele im Abschnitt „Das Wort im Munde herumdrehen” machen das klar (vgl. Seite 40f.). Zur Verdeutlichung ein Beispiel, bei dem in einer kurzen Antwort von drei Worten gleich drei Redefinitionen stecken:
A: „Was wirst Du tun?”
B: „Man könnte versuchen, … “

B redet nicht in persönlicher Verantwortung, sondern verallgemeinert (von „Du” zu „man”). Er verschiebt die Frage nach seinem tatsächlichen künftigen Verhalten auf die Ebene der Eventualität (von „wirst” zu „könnte”). Schließlich münzt er den Aspekt der Realisation in vages Probehandeln um (von „tun” zu „versuchen”). B entzieht sich damit der von A intendierten Verbindlichkeit, ohne die Frage begründet zurückzuweisen. B kann auf diese Weise passiv bleiben, ohne gegenüber A direkt dazu stehen zu müssen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird A – zumindest bei einem entsprechenden Fortgang des Gesprächs – eine gewisse Unzufriedenheit spüren, sich möglicherweise aber nicht klar sein, woran es liegt. Oder aber, A redefiniert im Gegenzug den ausweichenden Aspekt in der Antwort von B zu einer festen Absicht im Sinne der Ausgangsfrage und ist später dann ärgerlich oder enttäuscht, wenn B – wie zu erwarten war – passiv bleibt und nichts ändert.
Gerade die vielfältigen Möglichkeiten tangentialer Transaktionen bieten „versierten Passiven” ein reichhaltiges Feld subtiler Techniken, andere auflaufen oder für sich selbst aktiv werden zu lassen, ohne daß die Betroffenen selbst dies merken. Wenn man einmal darauf achtet, wie die ganz alltägliche Kommunikation von tangentialen Transaktionen strotzt, dann kommt man bisweilen nicht umhin, die – oft unbewußte – Kreativität, die in derartigen Abwehrmanövern entfaltet wird, in gewisser Weise zu bewundern.
In blockierenden Transaktionen wird die Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Thema dadurch vermieden, daß man die Definition des Themas an sich bestreitet bzw. zum Gesprächsgegenstand erhebt.

Zwei Beispiele:
A: „Liebst du mich?”
B: „Was heißt denn Liebe? Da müssen wir erst mal … “

A: „Wie lange brauchst du noch, um damit fertig zu werden?”
B: „Was heißt hier fertig werden? Fertig wird man letztlich nie …“

Diese Art von Transaktionen ist offensichtlicher frustrierend für die anderen Beteiligten und dadurch auch der Wahrnehmung und Bearbeitung leichter zugänglich. Gleichwohl kann sich daraus eine rasche und dramatische Eskalation mit nachhaltigen Folgen ergeben.


Praktische Hinweise

Die Wahrnehmung zu schulen für die vielfältigen Wege des Redefinierens und zugleich über ein Spektrum von Reaktionsmöglichkeiten zu verfügen, ist für die Gesprächsführung von großem Vorteil. Zum Umgang mit und zur gezielten Konfrontation von Redefinitionen gibt es einige sinnvolle Strategien:

1. Beim Thema bleiben, insistieren: Achten Sie darauf, daß Fragen zum Punkt beantwortet werden. Kehren Sie, falls nötig, beharrlich zum Ausgangsthema zurück. Achten Sie auch darauf, daß Äußerungen nicht unmerklich verdreht und in dieser Form zur weiteren Gesprächsgrundlage gemacht werden.
2. Auf die Redefinition eingehen: Durch die Redefinition wird ein neues Thema oder ein neuer Aspekt eingebracht. Sie haben die Wahl, darauf bewußt einzugehen und eventuell Hindernisse für eine gute Kommunikation auszuräumen, um später zu dem ursprünglichen Thema zurückzukehren.
3. Konfrontieren: Sprechen Sie Ihre Beobachtungen direkt an, wenn Ihr Gegenüber hartnäckig in wichtigen Punkten redefiniert. Fragen Sie nach bzw. fordern Sie ihn auf, direkt zu sagen, was er will oder nicht will.
4. Konfrontieren und analysieren: Wenn Ihr Vertrag das erlaubt, können Sie Ihre Beobachtungen nennen und mit der anderen Person zu klären versuchen, ob sie ein altes Muster in der aktuellen Situation wiederholt. („Kennen Sie das, daß Sie so reagieren ?”).

Was ist ansonsten zu tun angesichts von passivem Verhalten und Denken? Vor allem nicht das, worauf es zielt, nämlich unüberlegt die Verantwortung zu übernehmen. Statt dessen empfiehlt es sich, passives Denken und Verhalten zu konfrontieren und Unterstützung dafür zu geben, das verdrängte Problem zu betrachten und die eigenen Ressourcen zu dessen Lösung zu entdecken und einzusetzen.
Das ist natürlich nicht unmittelbar möglich, wenn Gewalt angewendet wird. Hier steht zunächst der Schutz für die Person (vor sich selbst) und für andere Beteiligte im Vordergrund. Bei Agitation und Gewalt wird es oft sinnvoll sein, den Betreffenden, wenn nötig auch massiv, zu stoppen und – durch die Phase der Überanpassung – zum Denken zu bringen. Denn von allen passiven Verhaltensweisen ist in der Überanpassung das meiste Denken enthalten.
Aussichtslos erscheint – im normalen Rahmen – das Gespräch mit Personen, die das Problem leugnen und Gewalt anwenden (zum Beispiel Alkoholiker) oder die nach dem Motto leben: „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!” Solche Menschen sind zerstörerisch, da sie nicht an die Wurzeln des Problems gehen, nichts Neues gestalten und den eigenen Anteil übersehen. Bevor ihnen mit den Methoden der Gesprächsführung sinnvoll zu begegnen ist, sind andere Interventionen nötig, die wir hier nicht entfalten können.
Verbreitet sind Verhaltensweisen, in denen ein „harmloser” Gewaltanteil enthalten ist (laut werden, mit der Faust auf den Tisch schlagen, etwas Wertloses an die Wand pfeffern). „Harmlos” sind sie insofern, als niemand regelrecht geschädigt wird. Entlastend daran ist, daß körperliche Spannung ausagiert werden kann, was im Prinzip eine sinnvolle Voraussetzung für eine anschließende Konfliktlösung sein kann, denn Wut „verklebt” das Gehirn. Problematisch ist, daß solches Verhalten oft zerstörerisch auf die Beziehung wirkt, indem es Angst auslöst und die Gefahr der Eskalation in sich birgt, zumal dann, wenn lediglich ausagiert, anschließend jedoch keine konstruktive Lösung angestrebt wird. Besser wäre es, Verabredungen über „Ärgerrituale” (zum Beispiel das „Dampf ablassen”) zu treffen. Dabei ist eine konstruktive Verbindung zwischen Denken, Fühlen und Verhalten anzustreben. (Näheres dazu in BACH und GOLDBERG: Keine Angst vor Aggressionen, 1981).
Insgesamt am wichtigsten ist es, aufmerksam, frühzeitig und konsequent die dem passiven Verhalten zugrundeliegenden Abwertungen zu konfrontieren. Dazu können Sie die Hinweise nutzen, die Sie am Schluß des Abschnitts über die Stufen der Abwertungen finden (vgl. S. 113).

aus Gührs, Nowak, Das konstruktive Gespräch

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