Sonntag, 27. Mai 2018

Die deutsche Psychoszene im Visier des Verfassungsschutzes

Aus den Aufzeichnungen eines Geheimforschers (1)

Himmelfahrt 1985. – Der Chef muß wieder einmal ein Buch gelesen haben, aber ein falsches.[1]Kam angerannt und stauchte uns zusammen, weil wir die Psychoszene nicht im Auge hätten. Und das nach rund zehn Jahren Psychoboom! Meinen Einwand, der Höhepunkt sei wohl schon überschriteten, schmetterte er ab: das habe man vor 15 Jahren auch von der Protestbewegung gesagt, und dann ... (das alte Lied). Außerdem komme die Welle jetzt erst in der Provinz an (bei ihm). Ich versuchte es nochmals: da gehe es doch nur um individuelle Veränderung oder Erlösung. Er konterte: »Aber in Gruppen! Das ist konspirativ!« Der typische Polizistenblick, geschärft durch überholte Devianztheorien: soziales Milieu x plus kognitiver (konspirativer) Einfluß y gleich abweichendes Verhalten z. (Z wie Zufall: rot oder grün oder braun. Oder blau? Schwarz jedenfalls gilt als normal.) Tatsache ist: Wir ersticken in Daten und wissen nichts damit anzufangen. Es fehlt uns ein klares – Feindbild –, auch wenn der Minister das nicht einsehen will. Für ihn beginnt der »gesetzliche Beobachtungsauftrag« links von ihm selbst. Aber was ist links, was rechts, wenn sich K-Gruppen mit Heimatschützern und Naturfreunden gegen ein technisches Großprojekt verbünden? Oder wenn ein Franz Alt im Namen des Friedens gegen Pro familia zu Felde zieht? Mittlerweile ist die »Kartei 2 zur Identifizierung von Personen, die konspirativ tätig sind oder dessen verdächtig«, ins Unermeßliche angeschwollen. Über 16 ooo Personen werden observiert, und in der H-Skala (Persönlichkeitsmerkmale) häufen sich die Banalitäten, von den Trinkgewohnheiten über »gepflegt/ungepflegt/modisch/auffällig gekleidet« bis zum Sexualleben.[2]Warum nicht noch ein bißchen Psychokram dazupacken? Schaden kann’s ja nicht. Dann wissen wir in ein paar Jahren vielleicht, daß der » Westküstenstil« der Gestalttherapie eher Fundamentalisten erzeugt, der »Ostküstenstil« eher Realpolitiker - na bitte!
Ich kenne diese Unterscheidungen natürlich von Gerda, die seit einiger Zeit (englisch ausgesprochen) »Gestalt« macht. Sie betont allerdings, daß die unterschiedlichen Therapiemethoden – ein paar hundert sollen es sein – sich im Rahmen der Humanistischen Psychologie immer mehr vermischen. »Da wächst alles irgendwie zusammen«, sagte sie, »ganzheitlich eben.« Das sind ihre neuen Lieblingswörter: ganzheitlich und wachsen;heilige Namen für das, was in der Gestalt-Gruppe geschieht. Als ich sie kürzlich fragte, wohin sie eigentlich ganzheitlich wachsen wolle (sie ist über vierzig), las sie mir aus einem Buch vor: »Die Leere wich dem blühenden, fruchtbaren Lebensbaum – mit seinen Blüten, Blättern, Vögeln, Eichhörnchen –, und es entstand ein Gefühl des Erfülltseins, des lebendigen Friedens, des Rauschens einer inneren Quelle. Und dann in der Gegenwart zu sein, mit einem hier-und-jetzt daseienden anderen Menschen, der ebenfalls ... «[3]Hier brach sie unvermittelt ab. Klar, daß ich mit dem anderen Menschen nicht gemeint sein kann. Ich werde in ihrer Gruppe auf den ›leeren Stuhl‹, gesetzt und kleingemacht, damit Gerda wachsen kann. Also, das geht mir langsam gegen den Strich. Deshalb habe ich gestern dem Chef ein Psycho-Forschungsprojekt vorgelegt, das nicht nur seine, sondern auch meine Sorgen berücksichtigt: Ich werde Gerda beobachten lassen. Damit sie mir nicht ganz abdriftet in ihre innere Quelle. (Wie hieß doch gleich ihr Therapeut, der so »super« ist?)

[…]

Aus den Aufzeichnungen eines Geheimforschers (4)

Allerheiligen 1985. – Sechs Monate Forschung und Ermittlung haben uns nicht weitergebracht, und der Termin für den Zwischenbericht rückt bedenklich näher. Was soll ich dem Chef hinschreiben – daß das alles nichts bringt? Dann geht er an die Decke. Oder daß die ganze westdeutsche Psychoszene – ein paar Millionen Menschen, schätzungsweise – verdächtig ist? Dann kriegt er einen Infarkt.
Ich glaube immer weniger, daß das, was in der Therapie geschieht, nach außen irgendeine Wirkung hat. Die Leute gehen da hin, wie sie ins Kino oder in die Disko gehen – um etwas zu erleben. Aber was? Ihre Gefühle? In den Protokollen stehen dauernd die Aufforderungen »Geh da rein«, »Laß es raus«, »Du mußt da durch«, und das heißt: »Sei angstvoll«, »Sei wütend«, »Sei schwach«, ja sogar »Sei katatonisch« und »Stirb«. Und dann wird geflennt, getobt, gewinselt, gezittert, gekotzt. Aber geht es dabei um Gefühle oder vielmehr um deren Abschaffung zugunsten irgendwelcher Sensationen im Hier-und-Jetzt? Bei Arthur Janov las ich, daß das »wahre Selbst«, zu dem der Klient durch den Urschrei gelange, ohne jedes gesellschaftliche Interesse sei, indifferent gegenüber allem Streben, Mühen und Hoffen – Reaktionen, die für Janov »neurotisch« sind, »symbolischer Ersatz«.39 Die Therapie soll davon befreien, und solange man in Therapie ist, scheint man auch, indem man solche Gefühle nicht passiv erleidet, sondern aktiv »agiert«, von ihrem Druck befreit zu sein. Gefährlich (gefährdet) wären dann nur diejenigen, die aus der Therapie aussteigen – oder sich ihr überhaupt verweigern.
Aber wie sag ich das dem Chef? Am besten, ich lege ihm zur Illustration ein paar Protokolle bei. Etwa jenes Bekenntnis eines jungen Mannes, der freimütig erzählte – vor der Fernsehkamera!-, er habe in den vergangenen Jahren alles mitgemacht, habe demonstriert und blockiert und sabotiert, an der Startbahn West und anderswo – »und es hat alles nichts gebracht, die Startbahn wird doch gebaut«. Jetzt macht er körperorientierte Selbsterfahrung auf Tantra-Basis und ist heiter und lieb. Der für die junge Generation so typische » Terror des unmittelbaren Wertevollzugs« – ein Ausdruck von Carl Schmitt – wird am eigenen Leib exekutiert: das müßte ich dem Chef klarmachen können!
Was eignet sich sonst noch? Einen brauchbaren Bericht über die »Friedensmeditation« habe ich leider nicht. Unser freier Mitarbeiter war der Sache spirituell einfach nicht gewachsen. (Er behauptete, bei den »kosmischen Flammen« handle es sich um eine Art geistiger Laser-Strahlen zur Abwehr von Raketen – ist der Kerl übergeschnappt? Oder ist er schon infiziert? Schade um die Spesen.) Vielleicht eignet sich als zweites Dokument das Protokoll aus einer Trainingsgruppe »Selbsterfahrung und Menschenführung« (für Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik), wo ein harter Boß buchstäblich verflüssigt wurde. Und als drittes ein ganz harmlos wirkender Fall aus einer Psychodrama-Sitzung, wo die Klientin so weit kommt, aus ihrer devoten Haltung ihrem Mann gegenüber auszubrechen – jedenfalls im Rollenspiel. Also wenigstens ein Beispiel für Widerstand, für Subversion, wie der Chef es sich wünscht! Ich mach gleich mal einen Auszug:
»Patientin klagt, daß sie sich von ihrem Mann völlig entmündigt fühle und daß sie das ganz fertig mache. Damit hänge es auch zusammen, sagt sie, daß sie so viele körperliche Beschwerden habe.
Therapeut fordert sie auf, eine typische Situation zu beschreiben.
Patientin berichtet: Morgens beim Frühstück habe ihr Mann ihr mitgeteilt, er werde heute seine Sekretärin beauftragen, im Reisebüro die Tickets für die geplante Urlaubsreise zu besorgen. Sie habe erwidert, das sei nicht nötig, da sie selbst am Nachmittag mit dem (achtjährigen) Sohn in die Stadt wolle, um Schuhe für ihn zu kaufen. Sie könne dann gleich zum Reisebüro gehen.
Therapeut bittet sie, diese Szene zu spielen. Ein Gruppenmitglied übernimmt die Rolle des Ehemannes. Dann wird ein Rollenwechsel vorgenommen.
Patientin (in der Rolle des Mannes): ›Du hast doch genug zu tun mit dem Schuhkauf. Wenn du weißt, daß du noch etwas anderes erledigen mußt, läßt du dir womöglich nicht-passende Schuhe aufschwätzen. Und wer weiß, wie lange es dauern würde, bis du im Reisebüro klarkamst, Dafür ist meine Sekretärin wirklich kompetenter als du, Schatz ... ‹
Therapeut fordert die Patientin auf, zu sagen, wie sie sich fühle.
Patientin: ›Immer wird mir unter die Nase gerieben, daß andere tüchtiger sind als ich ... Ich bin schon wieder ganz fertig ... ‹ Sie berichtet dann, daß sie sich als ihr Mann ganz anders gefühlt habe, nämlich selbstsicher und stark.
Therapeut führt einen Doppelgänger ein, der in der Rolle der Patientin mit dieser selbst einen Dialog führt.
Doppelgänger: ›Jetzt habe ich schon wieder Angst. Warum bloß?‹
Patientin: ›Ja, warum bloß? Mein Mann ist doch kein Ungeheuer.‹
Doppelgänger: ›Nein, wirklich nicht. Deshalb könnte ich doch jetzt mal offen mit ihm reden.‹
Patientin: ›Eigentlich schon ... ‹
Doppelgänger: ›Eigentlich schon, aber irgendwie schaffe ich es nicht. Vielleicht will ich auch nicht richtig ran. Es hat ja auch was für sich, wenn einem immer alles abgenommen wird.‹
Patientin(protestierend): ›Nein, davon habe ich genug.‹ (Zum imaginierten Ehemann gewandt:) ›Ich habe genug davon, von dir wie ein Kind behandelt zu werden, hörst du, endgültig genug.‹«[4]
Fragt sich nur, ob es dazu wirklich einer Therapie bedarf. Wenn ich da an Gerda denke! Übrigens habe ich über Gerdas Therapieleistungen immer noch kein Protokoll bekommen, sie wechselt ihre Leib- und Seelsorger zu oft. Im Sommer besuchte sie in Italien einen Workshop »Corpographic: Pantomime und Bioenergetik« und kam etwas verbogen zurück. Dann war plötzlich Bauchtanz das Heißeste. »Weißt du«, sagte sie fromm, »das ist auch ein Stück weit Therapie.« (Ich würde es bei ihr eher eine Mutprobe nennen.) Als nächstes kam ein Tarot-Kurs, angeregt durch die Lektüre von Timothy Learys Spiel des Lebens (1984), wo die 24 Tarot-Karten mit den 24 Aminosäuren des genetischen Codes, den zwölf Sonnenzeichen der Astrologie und einigen anderen Dutzendwaren analogisiert werden. Gerda liegt wirklich voll im Trend. Dann wollte sie – im »Mondjahr« – unbedingt noch eine »nasse Wiedergeburt« erleben (oder war es sogar eine Past-livesTherapie?), bekam aber keinen Geburtshelfer. Und jetzt hat sie, weil ihr alles andere zu labberig sei, eine »sehr harte« Primärarbeit begonnen. »Da kommt alles raus – über uns beide!« Hm. »Und wenn ich da durch bin«, schmeichelte sie, als ich den Scheck unterschrieb, »bin ich bestimmt wie neugeboren.« Naja.

[…]

Aus den Aufzeichnungen eines Geheimforschers (5)

Heiliger Abend 1985. – Großer Krach im Amt. Der Chef hat mich zu sich bestellt und mir meinen Zwischenbericht um die Ohren gehauen. Ob ich denn von allen guten Geistern verlassen sei, ein Managerseminar beobachten zu lassen! Daß da nichts Subversives geschehe, zeigten doch schon die hohen Kursgebühren. Meinen Einwand, auch eine ordentliche Wiedergeburt sei nicht eben billig, wischte er knurrend weg: ich hätte wohl noch nie etwas davon gehört, daß Sensitivity-Trainingsgruppen in den USA schon seit langem von der Großindustrie und der Regierung gefördert würden und jetzt endlich auch in der Bundesrepublik Fuß faßten. (Er sagte zünftig ›T-groups‹ und dachte dabei sicher an Tee.) »Aber das ist keineswegs alles«, schnaubte er weiter. »Hier: die Frau eines Ministers zu bespitzeln – das ist ja der Gipfel! Könnte mich meine Stellung kosten. Und Sie natürlich auch.« Er meinte die Psychodrama-Dame, die sich aus der Bevormundung durch ihren Mann befreien will. Anscheinend hat er in ihr jemand wiedererkannt. Aber Frauen, auf die die erwähnten Merkmale zutreffen, gibt es sicher wie Sand am Meer. Ich stotterte, ich hätte keine Ahnung gehabt, daß ... »Keine Ahnung? Dann forschen Sie gefälligst nach!« Das war ein Eigentor, er merkte es und polterte weiter. Als ich schließlich fragte, ob wir die Beobachtung der Psychoszene einstellen sollten, trotz Friedensmeditation usw., sagte er: »Natürlich, die sind doch alle verrückt – äh, ich meine harmlos, ganz normal! Beobachten Sie lieber die anderen, die nicht zur Therapie gehen. Davon wird es ja auch noch welche geben!« – »Ja«, sagte ich beschämt, »eine ganze Menge.« – »Na also – das ist doch verdächtig!« Damit war ich in die Weihnachtsferien entlassen. Ich habe die gesammelte Psycho-Literatur ins Auto gepackt und nach Hause gefahren, für Gerda. Und nachher, wenn am Baum die Kerzen brennen, werde ich sie mit einer Frohbotschaft überraschen: daß ich jetzt auch eine Therapie brauche. Beim selben Therapeuten wie sie, Primärarbeit, aber in einer anderen Gruppe (hoffentlich ist bald ein Platz frei). Dann werden wir vielleicht gemeinsam gesund werden. Oder verrückt.

gnadenlos abgeschrieben aus:
Karl Markus Michel, Im Bauch des Wals – Abgesang auf die gesunde Persönlichkeit in: Kursbuch 82, Die Therapie-Gesellschaft, Kursbuch / Rotbuch Verlag, November 1985



[1] Möglicherweise handelt es sich bei dieser Lektüre um ein zehn Jahre altes Kultbuch aus Amerika, das 1982 auch auf deutsch erschienen ist: Theodore RoszakDas unvollendete Tier. Im letzten Abschnitt schwärmt Roszak von der »echten Freundschaft der Seelen ... , deren Ziel die gegenseitige Erleuchtung ist ... In manchen Fällen ist in unserer Gesellschaft das Verhältnis zum Ashram oder zu der entsprechenden therapeutischen Gruppe aufrichtiger und herzlicher als zu jeder anderen Sozialform ... Ob diese Konstellation im Einzelfall zu einer Hinwendung zum Sufismus oder Mystizismus, zur Psychosynthese oder zum Zen führt, ist nebensächlich. Das ist eine Frage des persönlichen Stils, die an der Tatsache nichts ändert, daß hier eine allgemeine Kultur als einzigartige politische Kraft auf unsere Welt einwirkt: als die Kraft der kreativen Desintegration, die aus menschlichen ›Restbeständen‹ und dem Tode geweihten Institutionen gesunde Gemeinschaften macht.« (rororo-Ausgabe 1985, S. 304f., 308).
[2]  Vgl. Der Spiegel Nr. 25, 1985, S. 22f.
[3]  So schildert Ruth Cohn, die Erfinderin der Themenzentrierten Interaktion, ihren Zustand nach einem Impass-Erlebnis mit Fritz Perls, dem Vater der Gestalt-Therapie; in: Alfred Farau / Ruth C. Cohn, Gelebte Geschichte der Psychotherapie, Stuttgart 1984, S. 308.
[4]  Hier liegt eine Fälschung vor. Dieses angebliche »Protokoll« hat ein V-Mann ungeniert (mit gewissen Veränderungen) aus einem Aufsatz von Helga Heike Staub abgeschrieben: »Was ist Psychodrama?«, in Neue Formen der Psychiatrie, psychologie-heute-Sonderband, Winheim 1980, S. 127 f.

siehe auch:
- Verpasste Chance, verlorenes Jahrzehnt (Uwe Wittstock, Welt, 03.02.2001)
Karl-Markus Michel: Ein critischer Geist (Michael Naumann, Tagesspiegel, 15.11.2000)

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