Freitag, 1. Dezember 2017

Mahāmudrā-Meditation: Ausstieg aus dem Verstricktsein mit den drei Zeiten

Durch diese grundlegenden Kontemplationen werden wir uns über unsere Situation klar. Wir sind in der Lage, die große Gelegenheit wahrzunehmen, die sie uns bietet, Befreiung zum Wohle aller zu erlangen. und entwickeln Dankbarkeit und Wertschätzung für sie. Außerdem erkennen wir klar, wie dringlich es ist, diese außergewöhnliche Situation sofort zu nutzen und dies nicht auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben, der vielleicht gar nicht eintreten wird. Und dies alles nicht nur, weil wir es vom Kopf her verstehen, sondern weil es eine tief gefühlte Erfahrung ist. Wenn dies zusätzlich klar in der Zuflucht und im Mitgefühl verankert wird, schaffen wir uns einen Rahmen, in dem es uns leichter fällt, das Beschäftigtsein mit Alltagsgedanken zurückzustellen, weil wir nun hochmotiviert sind, den Geist aus Verstrickungen zu lösen. Da geht es in der Mahāmudrā-Tradition an erster Stelle um das Verstricktsein mit den drei Zeiten: das Denken an Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Das bereits erwähnte Zitat vom Neunten Karmapa hierzu war: 
»Verfolge nicht die Vergangenheit.
Gehe nicht in die Zukunft voraus.
Verweile im wahrnehmenden, doch nicht-begrifflichen
Zustand des gegenwärtigen Bewusstseins.«
 
 Die Unterweisung hierzu sei nochmals kurz zusammengefasst: Wir nehmen uns für die jeweilige Meditationsperiode vor, uns nicht mit Vergangenem zu beschäftigen. Das gilt nicht nur für das, was gestern oder früher im Leben war, sondern auch für den gerade vergangenen Sinneseindruck, was wir gerade eben gehört, gesehen oder gedacht haben. Wir denken nicht über den letzten Gedanken nach.
Nicht an die Zukunft zu denken bedeutet nicht nur, während der Meditation keine Pläne und Projekte für morgen oder später zu kontemplieren, sondern auch, nicht den nächsten Gedanken einzuladen! Nicht schon innerlich darauf warten und wie vorformulieren, was wir als Nächstes denken möchten. Das ist gemeint mit »nicht die Zukunft einladen« – nicht vorausdenken, sondern jetzt sein.
Wir öffnen uns ins nicht-begriffliche Gegenwartsbewusstsein. Dafür müssen wir mit unserer geradezu zwanghaften Neigung aufräumen, das gegenwärtige Erleben zu kommentieren – wie ich mich im Körper fühle, was ich gerade höre, sehe, rieche, schmecke, denke. Erleben an sich ist immer frisch, immer gegenwärtig. Kommentare darüber sind unnötig. Falls solche Kommentare aufsteigen, was ja recht häufig der Fall ist, nehmen wir dieses kommentierende Denken als die Erfahrung des »Jetzt« und kommentieren nicht den Kommentar. Wir bleiben in der Erfahrung dessen, was gerade ist, ohne etwas hinzuzufügen, im einfachen »So-Sein«. Das unterscheidet sich nicht von der Vipassanā-Praxis. Im Mahāmudrā lassen wir den Geist in der Erfahrung des So-Seins ruhen; aus sich heraus gewahr, in sich selbst ruhend.



Rezensionen:
- Mahamudra & Vipassana: Gewahr Sein. (Peter Riedl, UrsacheWirkung.at)
- Mahamudra & Vipassana (Christina Thiel, Buddhismus aktuell)
- Mahamudra und Vipassana - Tilmann Lhündrup, Ursula Flückiger und Fred von Allmen (Cornalia Weishaar-Günter, Tibetisches Zentrum e. V. Hamburg)