Dienstag, 11. Oktober 2016

Was tue ich gerade jetzt? – eine erste Annäherung an die unangenehmen Seiten der Erleuchtung

„Tage und Nächte fliegen vorüber: Was tue ich denn gerade jetzt?“

Der Buddha lässt euch diese Frage jeden Tag stellen, damit ihr nicht selbstgefällig werdet und um euch daran zu erinnern, dass die Praxis im Tun besteht. Obwohl wir hier sehr still sitzen, gibt es dennoch Tätigkeit in unserem Kopf. Da ist der Wunsch, sich auf den Atem zu konzentrie-ren, der Wunsch nach dem Aufrechterhalten dieser Konzentration und schließlich die Absicht, über das Verhalten von Atem und Geist zu wachen. Meditation als Ganzes ist eine Tätigkeit. Selbst wenn ihr „Nicht- Reaktivität“ oder „Das Wissen sein“ praktiziert, so ist da noch das Element der Absicht, des Wunsches. Auch das ist Tätigkeit.

Es war eine der wichtigsten Einsichten des Buddhas: Selbst wenn ihr vollkommen still sitzt, mit der Absicht, überhaupt nichts zu tun, so ist da doch die Absicht und diese Absicht selbst ist eine Tätigkeit. Sie ist ein saíkhâra, etwas Hervorgebrachtes, Gestaltetes. Wir leben ständig damit. Tatsächlich basiert ja all unsere Erfahrung auf Hervorgebrachtem. Die Tatsache, dass ihr euren Körper spüren könnt: die Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken-Gebilde und das Bewusstsein – all diese Daseinsgruppen: Um fähig zu sein, sie in diesem Augenblick zu erfahren, müsst ihr ein entsprechendes Potential zu einer tatsächlichen Daseinsgruppe gestalten. Ihr fabriziert aus dem Potential für Form die tatsächliche Erfahrung von Form, aus dem Potential für Gefühl die tatsächliche Erfahrung von Gefühl, etc. Dieses Element des Gestaltens ist im Hintergrund immer vorhanden. Es ist wie die Hintergrundfrequenz des Urknalls, der durch das gesamte Universum tönt und nicht verschwindet. Das Element des Gestaltens ist immer da, formt unsere Erfahrung und ist so beharrlich gegenwärtig, dass wir es manchmal aus den Augen verlieren. Wir erkennen gar nicht, was wir da tun.


Während ihr meditiert, versucht ihr, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren, um die elementaren Gestaltungen sehen zu können, die im Geist vor sich gehen, das kamma, welches ihr jeden Augenblick bewirkt. Wir machen unseren Geist nicht einfach nur still, um einen netten, erholsamen Ort des Verweilens zu erhalten, oder eine angenehme Erfahrung von Entspannung zu schaffen, die unsere Nerven beruhigt. Dies mag Teil davon sein, aber es ist nicht die gesamte Praxis. Der andere Teil ist klare Erkenntnis, die Erkenntnis dessen, was vor sich geht, das Potential menschlichen Handelns zu sehen: Was tun wir denn die ganze Zeit über? Welche Potentiale enthält dieses Tun? Dann wenden wir dieses Verständnis menschlichen Handelns an, um zu sehen, wie weit wir dabei gehen können, all den unnötigen Stress und das Leid abzustreifen. Stress und Leid, die vom Handeln auf ungeschickte Weise herrühren.


Es ist wichtig, dass uns dies im Geist gegenwärtig bleibt, während wir meditieren. Denkt daran: Wir sind hier, um menschliches Handeln zu verstehen und dabei ganz besonders unser eigenes. Ansonsten sitzen wir hier, hoffen, überhaupt nichts tun zu müssen und einfach nur zu warten bis überwältigende Erfahrungen in unserem Kopf aufsteigen oder ein warmes Gefühl des Einsseins in uns emporquillt. Und manchmal können solche Dinge ja tatsächlich ganz unerwartet geschehen. Wenn dies jedoch passiert, ohne dass ihr versteht wie und warum sie aufsteigen, dann ist dies gar nicht hilfreich. Für eine Weile sind sie entspannend oder erstaunlich, aber dann verschwinden sie wieder und ihr müsst mit eurem Verlangen nach ihnen fertig werden. Natürlich kann sie kein noch so großes Verlangen zurückholen, wenn es nicht vom rechten Verständnis begleitet wird.


Ihr könnt menschliches Handeln nicht völlig ablegen, bevor ihr nicht die Natur des Handelns versteht. Das ist entscheidend. Wir denken gerne, dass wir ganz einfach aufhören können zu handeln und dann die Dinge zur Ruhe kommen, still werden und sich der Leerheit öffnen. Aber das ist mehr ein Sich-ausblenden statt Meditation. In der Meditation ist ja tatsächlich ein Element des Beendens vorhanden, ein Element des Gehenlassens, aber ihr könnt es nicht wirklich beherrschen, bis ihr ver- steht, was ihr da zu beenden versucht. Achtet darauf. Wenn ihr aus einer guten Meditation zurückkommt, steht nicht einfach auf und begebt euch in die Küche, trinkt einen Kakao und legt euch schlafen. Denkt darüber nach, was ihr getan habt, um das Muster von Ursache und Wirkung zu verstehen und genau zu sehen, was ihr im Verlauf des Prozesses, den Geist in einen Ruhezustand zu versetzen, hervorgebracht habt. Schließlich ist der Pfad ja ein hervorgebrachter Weg, das höchste Gestaltete. Wie der Buddha sagte, ist von allen gestalteten Phänomenen, die es in der Welt gibt, der Edle Achtfache Pfad das Höchste. Dies ist der Pfad, dem wir eben jetzt zu folgen versuchen. Er ist etwas, das sich aus ver- schiedenen Teilen zusammensetzt und ihr werdet ihn nicht verstehen, bis ihr seht, wie ihr selbst das Gefüge beeinflusst.


Behaltet also immer im Hinterkopf, dass ihr hier etwas tut. Manchmal mag es recht frustrierend erscheinen, eine ganze Stunde damit zuzubringen, den Geist wieder und wieder zum Atem zurückzuholen. Er wandert davon, also holt ihr ihn zurück, dann wandert er erneut – wann kommt denn nun Frieden und Ruhe? Bevor sie kommen können, müsst ihr einiges Verständnis entwickeln. Wenn ihr den Geist zurückholt, so versucht zu verstehen, was ihr da tut. Wenn er davon wandert, versucht zu verstehen, was geschieht, was ihr getan habt, um ihn zu ermutigen oder ihn wandern zu lassen. Versucht besonders, all die geschickten und ungeschickten Absichten aufzudecken, die in diesen Prozess eingehen. Wenn ihr versteht, wie der Geist hin und her geht, werdet ihr einen Punkt erreichen, an welchem ihr ihn davon abhalten könnt. Gleichzeitig werdet ihr die Art von Einsicht entwickeln, die wir in der Meditation haben wollen: Einsicht in das Handeln.



aus: Meditationen, Vierzig Dhamma-Gespräche von Ajahn Ṭhanissaro Bhikkhu, Buddhistische Gesellschaft München, 2011


Der aus Hanau stammende hochangesehene Theravada-Mönch Nyanaponika zitiert in seiner Schrift Das Reine Beobachten und die Hauptquellen seiner Wirkungskraft in der Sattipatthāna-Übung Schu Gua (auf der Seite des Fördervereins Theravada-Buddhismus Berlin, PDF, S. 11):
„Unter allem, was die Dinge endet und die Dinge anfängt, gibt es nichts Herrlicheres als das Stillehalten.“  

Dies muß an Castanedas »Anhalten der Welt« (bzw. das Anhalten des inneren Dialogs) erinnern:
 - Die Welt anhalten (Castaneda, Die Lehre, Chello.at, undatiert)

Dies wiederum erinnert an Meister Eckhart

Du brauchst Gott weder hier noch dort suchen;
er ist nicht ferner als vor der Tür des Herzens.
Da steht er und harrt und wartet,
wen er bereit finde,
der ihm auftue und ihn einlasse.
Du brauchst ihn nicht von weit her herbeizurufen;
er kann es weniger erwarten als du,
dass du ihm auftust.
Es ist ein Zeitpunkt:
Das Auftun und das Eingehen.


und an Rumi:
Ich habe die ganze Welt
auf der Suche nach Gott durchwandert
und ihn nirgendwo gefunden.
Als ich wieder nach Hause kam,
sah ich ihn
an der Türe meines Herzens stehen.
Und er sprach:
"Hier warte ich auf Dich
seit Ewigkeiten."
Da bin ich mit ihm
ins Haus gegangen.


und an Hakuin:
Wie grenzenlos frei
der Himmel der Versenkung!
Wie hell
der volle Mond
der vierfachen Weisheit!
In diesem Augenblick
- was mangelt Dir?
Das gelobte Land
vor unseren Augen.
Das gelobte Land
an diesem Ort.
Dieser Leib
das Leben des Höchsten.



[Die beiden letzten Gedichte hab ich gefunden auf: Einkehr-in-Stille]

In allen obigen Texten wird eine Art Verzückung ob der Begegnung mit etwas Numinosem zum Ausdruck gebracht.

Doch was passiert, wenn wir die Welt bzw. den inneren Dialog anhalten – oder Gott begegnen? (ich erlaube mir, dies gleichzusetzen)

Als Psychotherapeut frage ich mich immer: Über was wird nicht gesprochen?
Erleuchtung bzw. die Begegnung mit Gott  wird in allen Texten als etwas Erstrebenswertes dargestellt.

Wenn ich den Freud-Schüler C. G. Jung richtig interpretiere, darf der Innere Dialog dagegen auch als eine Art Schutzwall gegen das Unbewußte verstanden werden. Wenn diese Interpretation richtig ist, würde das Beenden des inneren Dialogs eine Art »Vakuum der Stille« herstellen und das Einströmen dessen bewirken, was wir – psychologisch betrachtet – bisher nicht wissen wollten: nämlich des Unbewußten.

1. Der Begriff »Erleuchtung« macht nur im Kontext des Wissenserwerbs einen Sinn (siehe Platons Höhlengleichnis). Das Wissen, um das es da geht, geht weit über rein intellektuelles Wissen hinaus. Die entstehende Frage lautet: Was macht unser Geist mit der riesigen Menge an Wissen, die wahrscheinlich auf ein Verstehens- und Ordnungssystem trifft, welches neu organisiert werden muß?

Während die obigen drei mehrere hundert Jahre alten Gedichte auf die Großartigkeit des Ereignisses der Begegnung mit etwas abheben, das weit über uns hinausgeht, berichtet der Maler Kandinsky Anfang des 20. Jahrhunderts von seinem Gefühl der Verunsicherung nach der Begegnung mit neuen physikalischen Modellen:
 [In seinem 1905 erschienenen Bestseller „L'Evolution de la Matière".] behauptete der Autor Gustave Le Bon, jede Art von Strahlung sei auf den Zerfall von Atomen zurückzuführen, es gebe gar keine stabile Materie. Auch dies verunsicherte die Menschen. „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Alles wurde unsicher, wackelig und weich", erinnerte sich der Maler Wassily Kandinskyin seinem Buch „Rückblicke". Die Schockwellen der neuen Physik waren bis in die Künstlerzirkel eingedrungen und bereiteten den Boden für eine weitere Revolution: die Entdeckung vierdimensionaler Räume und nicht-euklidischer Geometrien. 
[Thomas Bührke, Picasso, Einstein und die vierte DimensionBild der Wissenschaft, 15.03.2005, Hervorhebung von mir]

Die heute weltberühmte mexikanische Malerin Frida Kahlo spricht von etwas Furchtbarem:


aufgehübschter Screenshot aus dem Film »Bei Frida Kahlo«


Wenige Wochen nach ihrem furchtbaren Straßenbahnunfall 1925 schrieb die damals 18jährige Frida Kahlo:
»Ich weiß bereits alles! Ohne Lesen und Schreiben. Vor wenigen Tagen noch war ich ein kleines Mädchen […] Alles war ein Geheimnis, alles verbarg irgendetwas. Es machte Spaß, es zu entschlüsseln und zu lernen. Wenn Du wüßtest, wie furchtbar es ist, plötzlich alles zu wissen, so, als hätte ein Blitz die Erde erhellt.« 
[zitiert im Film »Bei Frida Kahlo« (ab 
Min. 05:10), noch bis 16.08.2016 in der Arte-Mediathek abrufbar]

C. G. Jung warnt: 
Die Auseinandersetzung mit den archaischen kollektiven Bildern des Unbewußten als Aufgabe der [Individuation] kann also Gefahr laufen, daß die archetypischen Komplexe aufgrund ihrer "Numinosität" das Ich-Bewußtsein inflationieren. "Die Individuation wäre eine geordnet verlaufende ,Psychose', die Psychose eine mißglückte Individuation" (Blomeyer 1975, S. 260). "Wie die Neurose, so ist auch die Psychose in ihrem inneren Verlauf ein Individuationsprozeß, der aber nicht ans Bewußtsein angeschlossen ist und darum als Ouroboros im Unbewußten verläuft" (Jung, in Jacobi 1971, S. 44 f). Daraus ergibt sich allerdings auch der positive Aspekt zumindest der neurotischen Störung eines Menschen, denn "seine Neurose hat den Sinn daß er zu einer vollständigen Persönlichkeit wird, und das schließt Anerkennung seines ganzen Wesens, seiner guten und schlechten Seiten, seiner entwickelten und minderwertigen Funktionen ein, sowie die Fähigkeit, selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen" (Jung 1975, S. 167)[24]. [aus: Tewes Wischmann, Der Individuationsprozeß in der analytischen Psychologie C.G. Jungsundatiert]

2. Erleuchtung ist also nicht unbedingt das – oder noch viel mehr als das, – was wir uns gemeinhin darunter vorstellen…

Siehe dazu den 
nicht ganz unproblematischen Einsichtsprozeß von Henry und Malv (merke: Erleuchtung kann wie die Begegnung mit einem fallenden Zementsack sein):


Kevin allein in New York [2:52]
Hochgeladen am 08.09.2008
Verdammt lustig! 
viel spaß beim anschauen
wenn ihr gute Musik wollt schaut mal bei diesem Kanal vorbei :)
http://www.youtube.com/user/phil97ism

und 
3. Die Realität (sowohl außen wie auch innen) ist nicht vollständig kontrollierbar (siehe dazu das Interview mit Bazon Brock in: Anerkennen, daß man selber der Fall ist!, Post, 25.06.2015, erstes Video), da sie chaotisch (fraktal) organisiert ist, was bedeutet, daß unser Handeln möglicherweise Ergebnisse zeigt, die sich von unserer Absicht stark unterscheiden bzw. weit darüber hinausgehen…

Scrat muß immer wieder die Erfahrung machen, daß selbst recht einfach erscheinende Handlungen weitreichende und unangenehme Auswirkungen haben können:

Scrat - Gone Nutty [4:13]

Veröffentlicht am 01.11.2012
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Feuerzangenbowle [1:09]

Hochgeladen am 01.01.2008
Es ist die letzte Szene eines wunderbaren Filmes