Samstag, 23. Januar 2016

Beziehungsfallen vergiften die Seele

Vor drei Jahren habe ich bei den Lindauer Psychotherapiewochen einen Vortrag gehört (Michael Dümpelmann [ärztlicher Leiter der Abteilung Psycho- und Soziotherapie der Fachklinik Tiefenbrunn], Psychodynamische Psychotherapie bei Psychosen), in welchem folgendes Behandlungsbeispiel berichtet wurde:
In einer therapeutischen Sitzung klagte der Patient seinen Therapeuten an (den Vortragenden): »Sie vergiften mich!«

Noch vor zwanzig Jahren wäre dies der Beweis für den Psychiater gewesen, daß der Patient Wahnvorstellungen hatte.

Heutzutage sind einige Therapeuten in der Lage, die Worte des Patienten als Ausdruck einer realen (subjektiven) Not zu verstehen, für die der Patient keine anderen Worte hat als die, die die Ärzte noch vor zwanzig Jahren eins zu eins mit der Realität verglichen. (Diagnose: Wahnvorstellung) 

Ich erfinde einen Zwischenschritt (ein wirkliches Ereignis, von dem mir einmal ein Patient erzählt hat):
Der Patient muß auf dem Weg zu seinem Therapeuten mit seinem Auto an der roten Ampel einer Kreuzung halten. Es ist 15:30h. Er stellt sich nun Folgendes vor: 
»Wenn ich geradeaus weiterfahre und meine Hemden von der Reinigung abhole, komme ich bei dem Verkehr möglicherweise 10 Minuten zu spät zur Therapie, und der Therapeut ist ärgerlich. Wenn ich links abbiege und gleich zur Praxis meines Therapeuten fahre, komme ich dort wahrscheinlich 20 Minuten zu früh an, und ich werde mich blöde fühlen, weil ich Zeit verschwendet habe.«
Der Patient konnte sein Dilemma klar formulieren: »Entweder ich werde mich abgelehnt fühlen, weil der Therapeut ärgerlich ist, wenn ich 10 Minuten zu spät komme, oder ich werde mich blöde und lebensunfähig fühlen, wenn ich 20 Minuten zu früh bei ihm ankomme und so viel Zeit verschenkt habe.«

Ein noch prägnanteres Beispiel führt Wolfgang Walker in seinem Buch Abenteuer Kommunikation auf:

In dem Aufsatz „Epidemiologie einer Schizophrenie“ schrieb BATESON: 
„Gemeinhin wird gesagt, daß Schizophrene unter einer ,Ich-Schwäche’ leiden. Ich definiere hier Ich- Schwäche als Schwierigkeit, diejenigen Signale zu identifizieren und zu interpretieren, die dem Individuum anzeigen sollten, zu welcher Mitteilungsart eine Mitteilung gehört. …Zum Beispiel kommt ein Patient in die Krankenhauskantine und das Mädchen hinter der Theke sagt: ‚Was kann ich für Sie tun?’ Der Patient ist im Zweifel, um was für eine Art von Mitteilung es sich dabei handelt – ist es eine Mit- teilung, mit der er reingelegt werden soll? Ist es ein Hinweis, daß sie mit ihm ins Bett gehen will? Oder ist es das Angebot einer Tasse Kaffee? Er hört die Mitteilung und weiß nicht, wie er sie einordnen soll. Er ist unfähig, die abstrakteren Etikettierungen zu erfassen, die die meisten von uns tagtäglich benutzen, ohne sie jedoch in dem Sinne identifizieren zu können, daß wir wüßten, woher wir die Information haben, um welche Art von Mitteilung es sich handelt. Es ist, als würden wir irgendwie richtig raten. ... Die Schwierigkeit mit Signalen dieser Art scheint das Zentrum eines Syndroms zu sein, das für eine Gruppe von Schizophrenen charakteristisch ist, so daß wir allen Grund haben, bei unserer Suche nach einer Ätiologie von dieser formal definierten Symptomatik auszugehen.“

BATESON und seine Kollegen beobachteten auch, daß die Familien von Schizophrenen einige auffällige Charakteristika aufweisen. Besonders auffallend ist die Angst der Mütter vor zärtlichen, ablehnenden oder gar feindseligen Gefühlen gegenüber dem Kind. Die Folge ist, daß sie sich nonverbal abwenden, wenn das Kind ihre Nähe sucht. Gleichzeitig leugnen sie dies und sind bemüht, sich nach außen hin scheinbar liebe- voll zu verhalten. Dabei stellen sie ihr abweisendes nonverbales Verhalten verbal in einen Rahmen, der vorgibt, das Beste für das Kind zu wollen. In der Regel fehlt hier eine Bezugsperson, die das Kind angesichts der auftretenden Widersprüche unterstützt. BATESON et al. illustrieren dies wie folgt:
„Kommen in der Mutter etwa feindselige (oder zärtliche) Gefühle gegenüber ihrem Kind auf und verspürt sie auch den Zwang, sich von ihm abzuwenden, dann könnte sie sagen: ‚Geh ins Bett, du bist sehr müde, und ich möchte, daß du deinen Schlaf bekommst.’ Mit dieser nach außen hin liebevollen Bemerkung soll ein Gefühl geleugnet werden, das man so in Worte fassen könnte: ‚Geh mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr sehen.’ Würde das Kind ihre metakommunikativen Signale richtig unterscheiden, so wäre es mit der Tatsache konfrontiert, daß sie es sowohl ablehnt als auch mit ihrem liebevollen Verhalten täuscht. Es würde dafür ,bestraft’ zu lernen, wie man Arten von Mitteilungen richtig voneinander unterscheidet. Das Kind wird also dazu neigen, eher die Vorstellung zu akzeptie- ren, daß es müde ist, als die Täuschung seiner Mutter zu durchschauen. Dies bedeutet, daß es sich selbst über seinen eigenen inneren Zustand täuschen muß, um die Mutter in ihrer Täuschung zu unterstützen. ... 
Das simuliert liebevolle Verhalten der Mutter für bare Münze zu nehmen, ist allerdings für das Kind auch keine Lösung. Träfe es diese falsche Unterscheidung, dann näherte es sich ihr; diese Annä- herung würde in ihr Empfindungen der Furcht und Hilflosigkeit auslösen, und sie wäre gezwungen, sich abzuwenden. Zöge es sich dann aber von ihr zurück, dann würde sie diese Abwendung als einen Vorwurf auffassen, daß sie keine liebevolle Mutter sei, und das Kind entweder für die Abwendung be- strafen oder sich ihm nähern, um es enger an sie zu bringen. Käme es daraufhin näher, dann würde sie damit reagieren, daß sie wieder Distanz herstellt. Das Kind wird bestraft, wenn es genau unterscheidet, was sie ausdrückt, und es wird bestraft, wenn es ungenau unterscheidet – es ist in einem double bind gefangen.“
Fußnote zum vorherigen Absatz:
[Bateson 1985, 5. 285f. Batesons These von der „schizophrenogenen Mutter“ wird in der Forschung mittlerweile sehr kritisch betrachtet. Seine Tochter, Mary Catherine Bateson, wies in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Sachverhalt hin. Sie schreibt: „In Gregorys Arbeiten der fünfziger Jahre wurde die Auffassung der Schizophrenie als einer ‚logischen Störung’ mit der schizophrenogenen Familie in Zusammenhang gebracht, in der die Mutter eine double bind erzeugende Hexe war und der Vater abseits stand. Gregory hatte Frauen gegenüber dunkel-komplizierte Gefühle, die auf seine eigene Mutter zurückgingen – er war ausgesprochen gern von ihr weggegangen. Aber ein Teil seiner Auslassungen über die Schizophrenie auslösende Mutter scheint mir auch Ausdruck seiner Abneigung gegen die amerikanische Kultur und die Rolle der Frau im amerikanischen Heim jener Zeit gewesen zu sein, eine Rolle, die als Momismus bezeichnet wurde, eine Falle für sie und ganz folgerichtig auch für ihre Kinder.“ (Bateson, M. C. 1986, 5. 67.) ]

Über die Familie schreibt der Soziologe Rainer Paris in einem so wunderbaren wie hochwissenschaftlichen Essay im „Merkur“, eines ihrer Grundelemente seien Beziehungsfallen, in denen jede mögliche Reaktion negativ sanktioniert wird und der Betroffene die Zwickmühle weder durch Metakommunikation noch durch Verlassen des Handlungsfeldes auflösen kann“. Ein Beispiel hierfür sei die Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes zum Geburtstag zwei Pullover schenkt. Als sie sich einige Wochen später erneut zu Besuch ankündigt, zieht die Schwiegertochter einen davon an. Noch vor der Begrüßung herrscht die Schwiegermutter sie an: „Der andere gefällt dir wohl nicht!“ (aus: Schöne Bescherung, Post, 29.03.2010)
Dazu Walker:
Diese Beispiele genügen, um die allgemeinen Charakteristika einer Beziehungsfalle zu benennen: Zunächst gehört dazu eine Beziehung, die für das „Opfer“ subjektiv (über)-lebenswichtig ist, d.h. es kann sich aus der Falle nicht befreien, indem es den Schauplatz verläßt. Innerhalb der Beziehung ist das „Opfer“ in einer Situation gefangen, in der sein Gegenüber zwei Arten von Mitteilungen ausdrückt, die einander wechselseitig negieren. Metakommunikation ist unmöglich, da das „Opfer" dazu entweder nicht in der Lage ist oder aber von seinem Gegenüber aktiv daran gehindert wird.[Vgl. dazu Bateson 1985,S. 278f.]

Es gehört nicht allzuviel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß, wenn der Patient als Kind viele Jahre lang in einer Familienatmosphäre voller solcher Beziehungsfallen gelebt hat, in welchen er regelmäßig »verkehrt war«, sein Geist (sprich: Phantasien, Gedanken und Gefühle) immer wieder – auch bei recht geringfügigen und für normale Menschen unwichtigen Anlässen – solch massive und nicht bewältigbar erscheinende »Zwickmühlen«-Situationen (wissenschaftlich: »Double-Bind«) herstellt und er in massive innere Bedrängnis gerät.

Double Bind - Gregory Bateson [1:19]

Hochgeladen am 20.08.2010
Double Bind: In einer Minute erklärt.

Über Therapeuten in Beziehungsfallen siehe:

- Die Wahrnehmung spezifischer Beziehungsmuster (in Martin Wendisch, Beziehungsgestaltung als spezifische Intervention auf vier Ebenen, veröffentlicht in Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin 2000, S. 368ff. PDF, Wendisch, Psychotherapie Freiburg)

Folgt man diesem Modell, gehört ebenfalls nicht allzuviel Phantasie dazu, nachzufühlen, wenn der Patient ein solches, immer wieder Zwickmühlen-Situationen herstellendes, seelisches System als »vergiftet« bezeichnet.


In den beiden aufgeführten Beispielen ist es die Mutter, die eine solche Beziehungsfalle auf- bzw. herstellt. Es wäre für den Therapeuten, der die Geschichte seines Patienten gut kennt, ohne Weiteres nachvollziehbar, wenn dieser die Beziehung zu seiner Mutter so beschreiben würde: »Sie hat mein ganzes Leben vergiftet.« (Was ich als Therapeut folgendermaßen verstehen würde: »Sie hat mein ganzes Erleben vergiftet!«)


Jetzt fehlt nur noch ein kleiner Schritt



Wenn der (seinen Vater auf seinen Therapeuten projizierende) Patient äußert: »Sie vergiften mich«, wird sich ein Therapeut, der um den oben dargelegten Sachverhalt weiß, diesen Satz nicht eins zu eins mit der Realität abzugleichen versuchen und als »Wahnvorstellung« abwehren, sondern als Beschreibung einer äußerst mißlichen inneren Realität verstehen, die der Patient nicht anders in Worte zu fassen in der Lage ist.