Samstag, 12. Dezember 2015

Kindern helfen, die am Leben verzweifeln

Lena sitzt mit dem Rücken zur Tür, schaut reglos aus dem Fenster. Draußen grauer Novemberbrei. Ihre Arme hängen schlapp herunter, wenn man sie anspricht, reagiert sie nicht, Kopfhörer stecken in ihren Ohrmuscheln. Sie hat noch nichts gesagt, aber ihre Düsterkeit wirkt niederdrückend, als entweiche allen Gegenständen in ihrer Nähe die Farbe. Wann genau es angefangen hat, weiß sie nicht mehr. Vor zwei, drei Jahren dachte sie zum ersten Mal daran, sich umzubringen, malte sich aus, wie sie sich tötet. Erzählt hat sie es niemandem, bis sie solche Kopfschmerzen bekam, dass ihre Eltern sie zum Arzt brachten. Die Ärzte glaubten an einen Hirntumor, aber sie konnten nichts finden. Als alle körperlichen Ursachen ausgeschlossen waren, blieb nur noch die Seele. Lena ging das erste Mal zum Psychologen. Mit 15.

Die Gespräche halfen ihr, aber sie dachte weiter darüber nach, wie sie sich das Leben nehmen könnte. Und sie kotzte nach jedem Essen, um schlank zu bleiben. An einem Mittwoch im Oktober vor einem Jahr sah ihr Vater den Fettfilm in der Toilette, der zurückbleibt, nachdem man sich übergeben hat. "Lena, willst du tot sein?", fragte er seine Tochter. "Ja", antwortete Lena. Ihre Therapeutin hatte ihr geraten, sie solle einen Stein auf den Tisch legen, wenn es nicht mehr gehe. Der Stein als Sinnbild für das In-sich-verschlossen-Sein. Lena hätte das nie getan, also legte ihr Vater den Stein für sie auf den Tisch und brachte sie in die Jugendpsychiatrie nach Eberswalde, Brandenburg. An jenem Mittwoch um 18.15 Uhr kommt Lena auf die Akutstation J2 des Martin Gropius Krankenhauses. Sie hat sich die Uhrzeit gemerkt, als Markierung einer neuen Zeitrechnung, der Eintritt in die Jugendpsychiatrie.

Von außen betrachtet, erscheint bei Lena alles gut: Sie geht auf ein Gymnasium, ist hübsch, ihre Eltern arbeiten als Beamte im gehobenen Dienst. Sie haben sie nicht vernachlässigt oder geschlagen, sie kümmern sich um sie. "In die Klapper wollte ich nie", sagt Lena. Und nun hockt sie im November 2014 in der Jugendpsychiatrie auf ihrem Bett, roter PVC-Boden, die gelben Wände sind kahl, sie kann keine Bilder aufhängen, alles, was spitz ist, ist verboten – Nägel, Stecknadeln, Reißzwecken. Sie trägt die dunklen Haare hochgesteckt, enge Hosen, ihre langen Fingernägel sind orange lackiert. Ein Teenager in der Pubertät. Auf Fragen antwortet sie höflich, doch ihr Blick bleibt abwesend, als laufe in ihren Gedanken ein ganz anderes Programm.

mehr:
- Jugendpsychiatrie – Heile Welt (Jana Simon, ZEIT-Magazin, 11.12.2015)
Von außen betrachtet, erscheint bei Lena alles gut: Sie geht auf ein Gymnasium, ist hübsch, ihre Eltern arbeiten als Beamte im gehobenen Dienst. Sie haben sie nicht vernachlässigt oder geschlagen, sie kümmern sich um sie. […] Und Lena fragt sich nun jeden Tag: "Was stimmt nur nicht mit mir?" […] Die Jugendlichen sprechen am Tisch kaum miteinander. Die gesammelte Traurigkeit legt sich wie ein Schatten auf die Brust, nimmt den Atem. Wenn man Lena und die anderen fragt, wie es ihnen geht, antworten trotzdem alle: "Gut!" […] Lena sagt: "Ich fühle mich hier beschützt vor allem." Drinnen, wie sie die Jugendpsychiatrie nennt, denke sie nicht so oft an Selbstmord. Draußen, sagt sie, erdrückten die Eltern sie mit ihrer Liebe. […] Jedes Wochenende fährt Lena nach Hause. Der Sonnabend fängt gut an, aber am Sonntag sehnt sie sich zurück in die Klinik. Sie kann dann nicht aufhören, daran zu denken, wie sie sich etwas antut, sitzt fest im Gedankensumpf, fügt sich selbst Schmerz zu. Wenn Lena vom Ritzen erzählt, verändert sich ihre Körpersprache. Sie richtet sich auf, ihre Stimme wird weich, klingt verzückt: "Das ist ein unglaublich schönes Gefühl, dieses warme Blut auf deiner Haut. Früher tat es weh, aber für einen Moment nimmt es dir so viel Last."
 mein Kommentar:
Last? Welche Last? Wo sollte es in einer Familie, in der sich das Kind durch die elterliche Liebe erdrückt fühlt, eine Last geben? Hört denn keiner zu?