Mittwoch, 20. Mai 2015

Schuld und Sühne

Schuld und Sühne im zeitlosen Japan

Als junger Mann habe ich einige Zeit in einem Zen-Kloster in Kyoto zugebracht, einen beträchtlichen Teil meiner Zeit, wie mir heute scheint, denn tieferfahrene Bewußtseinserweiterung dehnt sich aus in der Erinnerung. Dieses buddhistische Kloster war Teil eines Tempelareals, und für jeden Tempel war ein eigener Priester verantwortlich. Diese Priester unterschieden sich in der Rangordnung, und je höher ihr Rang war, desto farbenprächtiger waren ihre Gewänder. Einmal im Monat versammelten sie sich im reich ge schmückten Haupttempel zum Tanzen (nicht im Kloster, denn im Kloster lernten die ZenSchüler, wie sie mit Übungen und Meditation die Erleuchtung erlangen können).

Ich habe mir diese Priestertänze angesehen. Einige der jungen Mönche, meine Freunde aus dem Kloster, kümmerten sich um die Musik. Es gab einen Schlagzeuger, einen Perkussionisten, einen Typ an den Gongs, und alle sangen. Das Singen klang so wie in den surrealen japanischen Filmen heutzutage: hohe, durchdringende Töne, die plötzlich abbrechen, als ob jemand die Kehle des Sängers durchgeschnitten hat…; heiseres Stöhnen, pochende Rhythmen und gelegentlich jazzige Ausbrüche mit Scat oder Rap und sogar Gesänge, die jedem Trommelschlag einen ganzen Text zuordneten. Während die Mönche ihren Tanz aufführten und die weiten Ärmel ihrer schwarzen Gewänder flattern ließen, schlurften die ehrwürdigen Priester in ihren Brokat- und Seidengewändern umher. Einer der Priester, ein Bonze namens Roku, war größer und dicker als alle anderen. Er konnte seine platten Füße erstaunlich schnell heben und seine Körpermasse erstaunlich behende bewegen und vollführte sogar Solotänze, während seine leichtfüßigen Glaubensbrüder ihn begleiteten. Dieser Startänzer war ein hochrangiger Priester. Er war der einzige, der ein Auto besaß (damals, in den 50er Jahren, gab es nur wenige Autos). Rokusan beeindruckte mich sehr. Auch die Mönche waren von ihm beeindruckt, grinsten immer voller Neid und schlugen sich auf den Hintern (eine spöttische Geste der japanischen Unterschicht), wenn sie seinen Possen beiwohnten. Aus dem, was man sich erzählte, vernahm ich, daß der «Beerdigungspriester» Roku gute Gewinne machte, indem er sich um die toten Reichen kümmerte und ihren Seelen einen sicheren Übergang in den buddhistischen Himmel garantierte. Ich wurde damals von Krämpfen in den Beinen und Hämorrhoiden geplagt (das kam von den Meditationen im Lotussitz) lind hatte keine Gelegenheit, den Werdegang des tanzenden Priesters ,zu erforschen. Meine Fragen nach seiner Herkunft blieben offen.


Fragen formulieren Antworten, und diese spezielle Frage tauchte in einem meiner Träume auf. Der Traum beantwortete auch andere Fragen. Und obwohl Zen sich nicht besonders um die Fragen von Gut und Böse kümmert, da es sich mit jener Leere beschäftigt, die jenseits von Verbrechen, Rache oder Sühne existiert, und Vergehen eher mit Unwissenheit entschuldigt und weniger anklagt, fragte ich mich, ob ein ZenPriester wohl habgierig sein darf.


Vielleicht liegt es an meinem besonders visuellen Gedächtnis. Ich erinnere mich an viel Verwerfliches, das in diesem Kloster passierte, an viele menschliche Schwächen. Einige Priester zogen sich Anzüge an, verbargen ihre kahlen Köpfe unter Hüten und kletterten über die KJostermauern, um sich hastig ins Vergnügungsviertel zu begeben, wo sie jene Spenden verpraßten, die ihnen die zum ewigen Leiden verdammten Laien zukommen ließen, wenn sie, die Papa-sans und Mama-sans, an den Sonntagen uns besuchten, um ihre Ersparnisse zu verteilen. Hot dogs wurden in vegetarischen Küchen verspeist. Zigaretten aus dunklem Tabak wurden in Reiswein getunkt, bevor ihr aufputschender Rauch eingesogen wurde. Kleine Transistorradios wurden in Ärmeln versteckt und während der Meditationsstunden mit Ohrhörern benutzt. All das machte mir nichts aus, wohl aber Roku, dem Priester, der über den Tempelhof wirbelte mit seinen herumfliegenden orange und rot gefärbten Seidenschals, den grotesk gestikulierenden Ärmeln und den Sonnenstrahlen, die auf seinem schwitzenden fetten Schädel glänzten – bei seinem Anblick fragte ich mich, ob vom Tao, dem Weg der Rechtschaffenheit, dem Weg des Nichts und der Weisheit, den ich gehen wollte, überhaupt noch etwas übriggeblieben war.


Man wird ja wohl noch mal fragen dürfen ...


Die Zeit verging. Ich verließ das Kloster und zog zu einem französischen Geschäftsmann, der in einem wohlhabenden Vorort von Kobe lebte. Die Küche des Hauses leitete ein chinesischer Koch, und ich bekam andauernd Nudeln (mit Beilagen natürlich) als Lohn dafür, daß ich die Kunstsammlung meines Gastgebers katalogisierte. Meine Arbeitszeit war kurz, und ich hatte die Wochenenden frei. Ich konnte sogar mein eigenes Badezimmer benutzen, und dort saß ich dann zwischen weißen leuchtenden Lilien und erfreute mich am Frühlingswind, während ich ab und zu meinen Blick hob und mein Nachsinnen über die Weisheit auf der Comic-Seite der Wochenendzeitung unterbrach, um den Wald auf einer Erhebung am Horizont zu betrachten. Ich bekam nie heraus, was ich dort eigentlich betrachtete. War dort ein Schrein versteckt zwischen den Pinienbäumen, ein kleiner buddhistischer Tempel mit einem schiefen Dach? Bewegte sich dort unter dem Dach etwas, ein grauer Schatten? Ein tanzender Schatten?


Ich verbrachte ebenfalls viel Zeit damit, durch die kleinen und diskret geöffneten Fenster des Badezimmers auf die zahlreichen, aus Papier und Holz gebauten Häuser hinunterzublicken. Die Villa des Franzosen befand sich auf einem Hügel, und man konnte von dort auf diese aus Fertigteilen gebaute Siedlung hinunterblicken, die recht schnell anwuchs. In diese pittoreske Altjapanische-Siedlung-mit-modernem-Komfort sollten, so sagte man mir, bald Staatsangestellte der mittleren Laufbahn einziehen. Bald schon kamen die ersten Auserwählten, und ich sah Männer in bequemen Baumwollkimonos, die ihr Wochenende genossen, indem sie es sich auf ihren mit Strohmatten ausgelegten Fußböden bequem machten in ihren Räumen, die kunstvoll spärlich eingerichtet waren, und sich von ihren anmutig knienden Ehefrauen grünen Tee und Seetangkekse auf rotlackierten Tabletts servieren ließen, während die Kinder draußen in den moosbewachsenen Gärten zwischen den dekorativen Büschen herumtollten. Ich sah auch einen älteren Mann sich an die Brust fassen und vornüberkippen, seine Frau oder Haushälterin zum Telefon laufen, einen Krankenwagen zu spät und einen Priester zur rechten Zeit kommen. Die singende Stimme des Priesters und der Duft der Räucherkerzen wehten hinauf zur Villa des Franzosen. 


In dieser Nacht unterhielt mich Monsieur de Monnaie, mein Wohltäter, und sein chinesischer Koch kochte all jene Gerichte, von denen es hieß, die Kaiser der T’ang-Zeit hätten sich damit verwöhnen lassen. Wir tranken auch den ganzen Schnaps aus, bevor wir zum Bier wechselten. Mein Gastgeber erzählte in mehreren Sprachen von seiner glorreichen Vergangenheit und seinen derzeitigen Plänen und verlor seine neuen Zähne, die zu Boden fielen und von den koreanischen Dienern aufgehoben wurden. Erschöpft von diesem geselligen Zusammensein und meiner Teilnahme daran, schaffte ich es irgendwann, in mein Zimmer zu wanken und fiel dort in einen unruhigen Schlaf. 


Im Traum reiste ich in Japans unbewohnbaren Westen. Ich war ein Mönch. Der Zen-Meister des Klosters in Kyoto hatte mich von den Versuchungen in Kobe abberufen und mich für weitere Studien aufs rauhe Land geschickt. Auf zerschlissenen Sandalen war ich den ganzen Tag lang über gefrorene Sümpfe gewandert und froh, als ich endlich einen Schrein im Schatten von Pinienbäumen erreichte, der auf einer Anhöhe errichtet worden war. Ein alter, zahnloser Einsiedler in einem geflickten grauen Gewand hieß mich nicht direkt willkommen.


«Hochwürden», sprach ich ihn an, «ich bin ein demütiger Mönch der Rinzai-Sekte» - als ob er das nicht bemerkt hätte, ich trug schließlich den gleichen, aus Knochen gefertigten Ring am Gewand wie er - «und auf der Suche nach Erleuchtung und ganz speziell auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. Wie geht es Ihnen? Und bitte seien Sie mir gefällig.»


Der grobschlächtige Kerl verwies mich barsch an das Dorf jenseits der Anhöhe.


Die Dorfbewohner hatten bessere Manieren als der Einsiedler. Etwa fünfzig Leute hatten sich im Bürgerhaus versammelt und bestimmten einen Dorfrat, der mich in sein Haus führte, mich verköstigte und mir ein Bett gab.


«Entschuldigen Sie, Hochwürden», sagte der Dorfrat, «aber im Bürgerhaus findet eine wichtige Versammlung statt, die meine Anwesenheit erfordert.» Und er lief davon.


Mir schien, daß ich nur wenige Minuten geschlafen hatte, als mein Gastgeber schon wieder zurückkam. «Entschuldigen Sie, Hochwürden.» 


«Ja?» Ich rieb mir die Augen.


«Bitte.» Er war den Tränen nahe. «Mein Vater, der Dorfvorsteher, er ist heute gestorben. Und da Sie ein heiliger Mann sind, obwohl Sie blaue Augen haben und unserer Sprache kaum mächtig sind, und weil Sie vorhin so müde und hungrig waren, wollte ich Sie nicht mit meinen Sorgen belasten und habe Sie einige Stunden schlafen lassen. Doch in wenigen Stunden ist Mitternacht, und alle Dorfbewohner bereiten sich darauf vor, den Ort zu verlassen.»


«Haben Sie ein Problem?» fragte ich.


«Sie müssen mit uns kommen, Hochwürden.» Der Dorfrat erklärte mir seine schwierige Lage. Offensichtlich gab es in diesem Dorf ein Tabu in bezug auf Verstorbene: Sie mußten in der Nacht allein gelassen werden. Es gab eine Scheune einige Kilometer entfernt, wo alle Dorfbewohner bequem übernachten konnten. Am Morgen würden wir dann alle wieder zurückkehren.


Ich hatte keine Lust, schon wieder loszuziehen, und erinnerte mich daran, daß ich ein Mönch war. «Dorfrat-san, zeigen Sie mir bitte die sterblichen Überreste Ihres Vaters.»


Der alte Mann lag, angezogen mit seinen besten Gewändern, auf einem langen Tisch. Kerzen und Räucherstäbchen brannten. Reiskuchen und verschiedene Süßigkeiten häuften sich in Schalen.


«Ich werde hierbleiben», sagte ich, «Und die nötigen Gebete des Todes und der Wiedergeburt singen.»

«Wir werden Sie morgen früh bezahlen, Hochwürden.» Voller Angst hob ich meine Arme, denn ich erinnerte mich an die Verführungen, denen ich in Kobe ausgeliefert gewesen war: «Keine Bezahlung!»

Die Dorfbewohner gingen davon, und ich setzte mich in der korrekten Haltung neben die Leiche des Dorfvorstehers (gerader Rücken, Bauch nach vorn gedrückt), zog mein Gewand zurecht, betätigte meine Glocke und sang meine Gebete.

Mitternacht näherte sich, und ich mußte eingenickt sein, aber ein kalter Schauer weckte mich, und ich bemerkte, wie ein grauer gedrungener Schatten das Haus betrat. Ich schlug meine Glocke, aber sie blieb stumm. Ich versuchte zu singen, doch meine Kehle war zugefroren. Der graue Schatten beugte sich über den Kopf des Verstorbenen und verschluckte ihn in einem Stück. Den restlichen Teil der Leiche verschluckte er ebenfalls, und dann machte sich der Schatten über die Süßigkeiten her. Ich konnte nichts weiter tun als zittern. Dann stand der Geist auch schon in der Tür, stöhnte, verbeugte sich und verschwand.

Bei Tagesanbruch kehrten die Dorfbewohner zurück und wunderten sich keineswegs darüber, daß ihr verstorbener Ortsvorsteher verschwunden war. «Das passiert jedesmal» , erklärte der Ratsherr. «Natürlich sparen wir die Begräbniskosten, aber wir mögen es trotzdem nicht. Vielen Dank, daß S.ie über Nacht geblieben sind, Hochwürden, können Sie uns erzählen, was passiert ist?»

Ich erzählte es ihm und den anderen Einwohnern.

Eine schöne junge Frau kniete vor mir nieder und bat mich, den Ort von seinem Fluch zu befreien.

«Natürlich nicht umsonst», fügte der Ratsherr hinzu.

Ich erinnerte mich an Kobe und an meinen strengen Zen-Meister, der meinen schwachen Geist kannte und mir gedroht hatte, er würde mich auf falsche Erkenntnispfade schicken, solange bis ... Das hatte er nie gesagt. Die junge Frau lächelte süß. Ich schielte fürchterlich: «Keine Bezahlung, wenn ich bitten darf.»

«Was für ein heiliger Mann», seufzte die junge Frau.

Was mich an etwas erinnerte: Sie hatten doch einen eigenen Heiligen. Ich fragte nach dem Einsiedler auf der Anhöhe. «Wer?» fragten die Dorfbewohner.

«Mein Mitbruder aus dem Rinzai-Kloster», sagte ich. «Der alte Knabe mit dem Knochenring an der Kutte.» Ich berührte meinen eigenen: «So wie dieser.»

Leere Blicke.

«Er hat einen Tempel dort oben auf dem Hügel.» Ich zeigte darauf.

Kein Tempel, kein Einsiedler, kein Ring, versicherten sie mir.

Ich verließ sie und begab mich zur Anhöhe. Der Tempel war immer noch dort und der Einsiedler ebenfalls.

«Du also», sagte ich. Er war der Schatten gewesen, der den Ortsvorsteher und seine ganzen Süßigkeiten verspeist hatte, und tatsächlich war es Roku, der tanzende Priester aus dem Kloster in Kyoto. Er sei, so erklärte er mir, die Verkörperung aller hochrangigen tanzenden Priester, die «in Beerdigungen machten», den schmerzlosen Übergang ins Jenseits garantierten, gepfefferte Rechnungen schrieben, nach Cadillacs, RollsRoyces, Infinitis und Luxus gierten und mit den Geishas der Stadt verkehrten.

Das lockere Leben. Der Fettwanst auf dem Lande.

«Doch sieh nur, wohin es mich gebracht hat», jammerte der Einsiedler. Und seine Umrisse verschwanden, wie auch sein Tempel.

«Hilfe, Hilfe!» Seine schwache Stimme verfolgte mich, als ich weitermarschierte, über verschneite Berge und eisige Pfade.

Ich erinnerte mich an die Bitte der schönen jungen Frau, an die schwierige Lage der Dorfbewohner, an die Ermahnungen meines Meisters. «Na gut», sagte ich mir, «ich leide so sehr, daß ich auch noch dein Leid auf mich nehmen kann. Fahr zum Himmel, Roku-san!»

Man sollte vorsichtig mit solchen Angeboten sein, selbst dann, wenn man hübschen Frauen aus Träumen imponieren will. Auch der Drang, Heiligkeit zu erlangen, ist geprägt von Selbstsucht. Und abgesehen davon wird in Alpträumen nicht vergeben. Bald schon war ich ein böser Geist, der Leichen in kleinen Dörfern verspeist.

Ich erwachte.

An diesem Tag nahm ich mir frei, und anstatt Kunstwerke zu katalogisieren, machte ich einen Spaziergang hinter dem Anwesen des Franzosen. Jenseits des Ortes betrat ich den Wald, den ich von meinem Badezimmer aus gesehen hatte. Es gab dort Pinien, aber nichts weiter. Ich hatte erwartet, wenigstens einen zerbrochenen Grabstein zu finden, von Flechten überzogen, auf dem mit kaum noch lesbaren Buchstaben eingeritzt worden war, daß hier einst ein Mönch begraben worden war. Ein habgieriger Mönch.

Also ging ich zurück. Am Abend, als ich aus dem Badezimmer blickte, entdeckte ich wieder einen seltsamen verschwommenen Fleck zwischen den Pinien am Horizont. Ein Schrein, dachte ich. Und von diesem Schrein löste sich ein grauer Schatten, der zu tanzen begann und sich verbeugte. Er winkte, hob ein Bein, sprang und war für immer verschwunden.

aus: 
Janwillem van de Wetering, Das Koan – und andere Zen-Geschichten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 1996, S. 76ff.



Explizit findet sich die Philosophie zum Krimi jedoch an anderer Stelle, denn einen Namen machte sich Janwillem van de Wetering nicht zuletzt als Experte für Zen-Buddhismus. Über Jahrzehnte hinweg entstand so eine Trilogie lakonischer Erfahrungsberichte, in der er seine Auseinandersetzung mit Meditation und klösterlicher Lebensweise verarbeitet. Der leere Spiegel zeichnet van de Weterings Aufenthalt im Kloster Daitoku-ji in Kyoto in den Jahren 1958 und 1959 nach, wo sich der damals 26jährige Philosophiestudent Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens erhofft. Statt erhabener Einsicht erwarten ihn endlose, schmerzhafte Stunden im Lotussitz, Disziplin und Gehorsam: „Ich, ein Zugvogel, ein Beatnik – es gab damals noch keine Hippies – ein Ungebundener, ausgerechnet ich hielt jetzt feste Zeiten ein und stellte mich in Schlangen an“. Erst Jahre später, in einer Zen-Gemeinde in den USA, gelingt es van de Wetering, Koans zu lösen und in der winterlichen Einsamkeit von Maine etwas von der Befreiung zu spüren, die er in Japan noch vergeblich gesucht hat (Ein Blick ins Nichts, 1975). Umso überraschender beschäftigt er sich Ende der 1990er Jahre in Reine Leere – wie immer alles andere als verbittert – mit den Absurditäten und Widersprüchen organisierter Religion und demaskiert insbesondere seinen früheren nordamerikanischen Meister, der die Gemeinde durch ein Geflecht von Psychoterror, Begünstigungen und Misshandlungen der Schüler längst gegen die Wand gefahren hat. Van de Wetering verabschiedet sich hier jedoch nicht vom Zen, sondern von dessen nihilistischer Seite, von Gleichgültigkeit und Weltflucht. Der „Coolness des Nichts“ setzt er abschließend das Ideal einer leidenschaftlichen Kreativität im Hier und Jetzt entgegen – eine Kreativität, die Janwillem van de Wetering selbst Zeit seines Lebens auf den unterschiedlichsten Gebieten praktiziert hat.
[Kerstin Schoof, Zum Tode von Janwillem van de Wetering – Outsider in Amsterdam, CulturMag, 02.08.2008]

- The Philosophical Exercises of Janwillem van de Wetering (Henry Wessels, Avram Davidson.org) 
 Zitat:
Van de Wetering verdeutlicht den Schwerpunkt der neuen Romane und seine Verwendung des Wortes amoralisch, indem er eine Passage aus Robert Powells Epilog zur Weisheit von Sri Nisargadatta Maharaj (Globe Press / Blue Dove Press, 1992) zitiert:  

Der Punkt ist, dass der von seinen Fesseln befreite Mensch die personifizierte Moral ist. Ein solcher Mann braucht daher keine moralischen Anweisungen, um gerecht zu leben. Befreie einen Mann von seiner Knechtschaft und danach wird alles andere für sich selbst sorgen. Andererseits kann der Mensch in seinem unerlösten Zustand unmöglich moralisch leben, egal welche moralische Lehre er erhält. Es ist eine intrinsische Unmöglichkeit, denn seine Grundlage ist Unmoral. Das heißt, er lebt eine Lüge, einen grundlegenden Widerspruch: Er fungiert in all seinen Beziehungen als die separate Einheit, von der er glaubt, dass sie sie ist, während in Wirklichkeit keine solche Trennung existiert. Jede seiner Handlungen übt daher Gewalt gegen andere "Selbst" und andere "Kreaturen" aus, die nur Manifestationen des einheitlichen Bewusstseins sind. Die Gesellschaft musste also einige Beschränkungen erfinden, um sich vor ihren eigenen schlimmsten Exzessen zu schützen und damit einen Status quo aufrechtzuerhalten. Die daraus resultierenden willkürlichen Regeln, die je nach Ort und Zeit variieren und daher rein relativ sind, werden als "Moral" bezeichnet. Indem diese vom Menschen erfundene "Idee" als das höchste Gut angesehen wird, das die Gesellschaft häufig durch religiöse "Offenbarungen" und Schriften sanktioniert hat gab dem Menschen eine weitere Entschuldigung, um das Streben nach Befreiung zu ignorieren oder es auf eine ziemlich niedrige Priorität in seinem Schema der Dinge zu verbannen.


Van de Wetering clarifies the focus of the new novels and his use of the word amoral by citing a passage from Robert Powell’s epilogue to The Wisdom of Sri Nisargadatta Maharaj (Globe Press/Blue Dove Press, 1992): 

The point is that man freed from his fetters is morality personified. Such a man therefore does not need any moralistic injunctions in order to live righteously. Free a man from his bondage and thereafter everything else will take care of itself. On the other hand, man in his unredeemed state cannot possibly live morally, no matter what moral teaching he is given. It is an intrinsic impossibility, for his very foundation is immorality. That is, he lives a lie, a basic contradiction: functioning in all his relationships as the separate entity he believes himself to be, whereas in reality no such separation exists. His every action therefore does violence to other `selves' and other `creatures,' which are only manifestations of the unitary consciousness. So Society had to invent some restraints in order to protect itself from its own worst excesses and thereby maintain some kind of status quo. The resulting arbitrary rules, which vary with place and time and therefore are purely relative, it calls `morality,' and by upholding this man-invented `idea' as the highest good – oftentimes sanctioned by religious `revelation' and scriptures – society has provided man with one more excuse to disregard the quest for liberation or relegate it to a fairly low priority in his scheme of things.
  From a pair of police officers in Amsterdam to a peaceful porcupine, the scope of work of van de Wetering can best be described as diverse. In this rare interview, he discusses Zen Buddhism, police work, lovable porcupines and why he settled in Surry, Maine.


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