Sonntag, 8. März 2015

Das Fundament von Angstlosigkeit ist die Angst selbst.

Die Meditationsmeister im alten Indien beschrieben die Angst oft mit folgendem Bild: Wir befinden uns in einem nur schwach beleuchteter Raum, wo wir ein Seil auf dem Boden liegen sehen, das wir für eine Schlange halten. Genauso ist es oft mit unserer Angst. Sie beginnt mit einer falschen Wahrnehmung, und dann führt ein ängstlicher Gedanke zum nächsten. Die Praxis beginnt damit, klar zu sehen: Ein Seil ist ein Seil, und eine Schlange ist eine Schlange. Wenn wirklich ein Schlange im Raum ist, dann wäre Furcht eine durchaus angebrachte Reaktion. Aber vielfach geht es bei unseren Ängsten um Seile, die wir nie genau angesehen haben, und wir verbringen unser Leben damit, sie kontrollieren zu wollen, vor ihnen wegzurennen, sie zu verbergen, zu verdrängen, komplizierte begriffliche Erklärungen auszutüfteln.
Unsere gewöhnliche Reaktion auf Angst besteht darin, daß wir ein Schlachtfeld erzeugen. Unsere Angst steht auf Kriegsfuß mit unserer großen Sehnsucht, frei von ihr zu sein, und der Schauplatz der Schlacht sind Geist und Körper, wo dieser Prozeß stattfindet. Während der Schlacht verknoten wir uns und kehren unser Inneres nach außen. Das Ziel der Praxis liegt darin, diesen Prozeß offenzulegen und zu sehen, daß all seine Elemente ein Teil von uns sind: die Angst, der Wunsch davon frei zu sein, der Geist und der Körper, die Achtsamkeit, die alles beobachtet, das bewußte Atmen, das die Achtsamkeit unterstützt. Wir sitzen mit all dem, und all das ist eins.
Wenn Sie ein starkes Gefühl der Angst betrachten, kann es sein, daß Sie zuerst vor allem sehen, auf welchen Wegen Sie vor ihr flüchten. Auch das kann etwas sehr Wertvolles sein. Sie sehen, wie Sie verdrängen, unterdrücken, erklären, wegrennen, phantasieren. Sie betrachten diese Dinge vielleicht wieder und immer wieder, bis der Geist schließlich - weil Sie nicht länger darauf hereinfallen - müde wird. Dann eines Tages, und das können Sie nicht erzwingen, entsteht Angst und trifft auf Achtsamkeit, wird eins mit ihr und kann dadurch in ihrer vollen Gestalt erblühen, so wie sie es schon immer wollte.
„Die Welt besteht aus vielen blühenden Blumen in einem blühendem Universum“, pflegte ein Zen-Meister zu sagen. Das klingt zuckersüß und sentimental, aber so hat er es nicht gemeint. Er zählte auch Angst, Zorn, Einsamkeit, Haß und Neid zu den blühenden Blumen. Das ist das, was alle Erscheinungen wollen, sie wollen die Erlaubnis haben, zu erscheinen und zu ihrer eigenen Zeit wieder zu verschwinden.
Wenn wir dieses Erblühen verhindern, indem wir die Angst ignorieren oder unterdrücken, dann bleibt sie und drückt uns nieder, weil so viel Energie darauf verwendet werden muß, sie fernzuhalten. Wenn wir sie aber erblühen lassen, dann kann sie leben und wieder verschwinden. Dann behalten wir all die Energie, die wir sonst für die Flucht oder den Kampf mit ihr verbraucht hätten. Uns bleibt auch die Energie der Angst selbst erhalten. Wir gewinnen sehr viel Energie, wenn wir die Dinge einfach geschehen lassen.
Das Fundament von Angstlosigkeit ist die Angst selbst.
Um furchtlos werden zu können, müssen Sie mitten in Ihrer Angst stehen. Wir sollten keiner Angstlosigkeit trauen, die dies nicht als Grundlage hat. Der Anfang der Angstlosigkeit ist, daß Sie Ihre Angst sehen und sie sich eingestehen. Geben Sie zu, daß Sie Angst haben, und haben Sie dann den enormen Mut – und die Demut –, diese Angst zu erforschen. Das kann ein langer Prozeß sein.
In unserer Übung gehen wir – wie in unserem Leben – oft von der Meinung aus, Meditation sollte aus einer stets warmen, erfüllenden Erfahrung bestehen. Ständig sollten Verzückung und Glückseligkeit in uns herrschen und ein warmer Glanz auf unserem spirituell und erfüllt anmutenden Gesicht liegen. Es ist ganz natürlich, daß wir uns diese Dinge wünschen, aber sie werden leicht zu einer Falle. Dann stolziert man umher, zeigt eine Fassade und leugnet tatsächlich seine wahren Gefühle.
Wenn Sie todunglücklich sind und wirklich bei ihrem Unglücklichsein sind, dann entspricht das mehr dem, worum es hier geht, als wenn Sie vor Glück strahlen und innerlich taub sind. Ersteres ist die echtere Praxis. Achtsamkeit führt nicht dazu, daß Sie unablässig glücklich sind. Wenn Sie Angst oder blankes Entsetzen erleben – und niemand möchte diese Gefühle erfahren –, dann empfinden Sie eine bestimmte Art der Befriedigung, wenn Sie wirklich dabeibleiben. Es ist nicht gerade das Gefühl, daß Sie damit etwas erreichen. Sie leben einfach nur Ihr Leben, so wie es jetzt gerade ist.
Das ist mit „die geistigen Aktivitäten zur Ruhe kommen lassen“ gemeint. Ein Gefühl, und sei es ein so starkes wie Angst, entsteht, und Sie bleiben bei dem Gefühl, indem Sie das Atembewußtsein zu Hilfe nehmen – Sie bleiben dabei, Sie bleiben dabei. Sie lassen es einfach sein. Bewußtes Atmen und die Achtsamkeit nehmen dem Gefühl seine Macht, so daß es Ihren Geist nicht mehr dazu bringen kann, hysterisch zu reagieren. Unsere Gefühle verlieren das Potential, uns in diese unweisen Geisteszustände hineinzuschleudern.

Die definitive Aussage Buddhas über die Gefühle ist: „Der Erleuchtete hat Freiheit gefunden und wurde von allem Anhaften befreit, indem er betrachtete, wie die Gefühle sich wirklich verhalten, daß sie kommen und gehen. Er erfuhr den Genuß, den sie bereiten, die Gefahr, die von ihnen ausgeht, und die Erlösung von ihnen.“
[aus: Larry Rosenberg, Mit jedem AtemzugArbor Verlag, Freiamt 2007, 2. Aufl. S. 114f.]
Zitat:
»Der Punkt, wo sich gewöhnlich das Konzept von Erfolg und Mißerfolg und damit etwas Zwanghaftes in die Übung einschleicht, liegt in der Aufgabe, beim Atem zu bleiben. Aus dieser Aufforderung machen wir ein Drama von Erfolg und Mißerfolg: Wir sind erfolgreich, wenn wir beim Atem bleiben können, wir versagen, wenn wir nicht dabei bleiben können. In Wahrheit besteht die Meditation in dem gesamten Ablauf: mit dem Atem sein, abschweifen, sehen, daß wir abgeschweift sind, sanft zum Atem zurückkehren. Es ist außerordentlich wichtig, daß wir zurückkommen, ohne uns selbst Vorwürfe zu machen, uns zu verurteilen oder ein Gefühl des Versagens aufkommen zu lassen. Wenn Sie während einer Sitzperiode innerhalb von fünf Minuten tausendmal zum Atem zurückkehren müssen, dann tun Sie es einfach. Das ist kein Problem, es sei denn, Sie machen eines daraus.«

"Wenn Dein Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart Deines Herrn. Und selbst, wenn Du in Deinem Leben nichts getan hast außer Dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart unseres Gottes zu versetzen, obwohl es jedes mal wieder fortlief, nachdem Du es zurückgeholt hattest, dann hast Du Dein Leben wohl erfüllt."  (Franz von Sales)