Sonntag, 30. November 2014

Hilft Wissen?

Für die meisten Menschen in der heutigen Welt hat das Leben viel mit Verbalisieren zu tun – mit Reden, Lesen, Schreiben, Denken, Sich-Vorstellen. Sprache ist eine großartige menschliche Erfindung (auch wenn andere Spezies gut ohne sie auszukommen scheinen), aber sie ist so in unser Bewußtsein eingebettet, daß uns nicht klar ist, wieviel sich um sie dreht. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, daß wir Sprache geradezu anbeten oder daß wir süchtig nach ihr sind. Wir setzen sie mit dem Leben selbst gleich.

Ein anderer Aspekt im Leben der meisten Menschen – der offensichtlich mit dem Sprechen in Zusammenhang steht – ist irgendeine Art von Handlung. Dinge tun. Etwas erschaffen. Dinge bewegen, sie anhäufen und ordnen. Den Körper in einer physischen Aktivität einsetzen, manchmal einfach nur, um unsere Körperlichkeit in der Freizeit zu genießen.
In diesen beiden Bereichen ist unsere westliche Kultur – im Vergleich zu anderen heutigen Kulturen, und insbesondere im Vergleich zu Kulturen der Vergangenheit – reich. Wir besitzen mehr Dinge und haben mehr Dinge zu tun, wir gebrauchen Gedanken und Sprache in vielfältigerer Weise, als es zu irgendeiner Zeit in der menschlichen Geschichte der Fall war. Wir sind mehr als reich. Wir leben in außerordentlicher Fülle.

Innerlich jedoch sind wir verarmt. Unsere Kehle ist ausgedörrt und unser spiritueller Körper abgemagert. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum wir so viele äußere Dinge haben. Wir verwenden sie, um einen Hunger zu stillen, der nie aufzuhören scheint. Er scheint unstillbar zu sein.

Wir haben ein ähnlich heftiges Verlangen nach Beziehung. Ich kenne zum Beispiel jemanden, der sich sehr für das Bergsteigen interessiert und der mir vor kurzem die Wunder des Internets gepriesen hat. Am Abend zuvor hatte er mit einem Bergsteiger in Sibirien gechattet. Das ist wunderbar, sagte ich. Aber hast du in letzter Zeit auch mit deiner Frau gesprochen? Und mit deinen Kindern? Wir haben diese wunderbare Technologie, aber sie scheint uns nicht bei dem Leben direkt vor unserer Nase zu helfen. Ich habe keinen Zweifel daran, daß mein Freund die Polizei gerufen hätte, wenn der sibirische Bergsteiger in seinem Vorgarten aufgetaucht wäre. Er wollte ihn auf dem Bildschirm kennenlernen, nicht von Angesicht zu Angesicht.

Ich will damit die Technologie nicht herabwürdigen. Der Computer ist genau wie die Sprache eine wunderbare menschliche Erfindung. Ich schreibe dieses Kapitel auf einem Computer. Ich bezweifle überhaupt nicht, daß das Internet ein wunderbares Hilfsmittel ist; es ist so, als hätte man die größte Bibliothek der Welt zur Hand. Aber wenn sich anhäufende Informationen uns retten könnten, dann hätten wir das schon vor langer Zeit geschafft.
Die Nachteile einer solchen Art von Wissen wurden mir vor mehr als zwanzig Jahren deutlich, als ich in Korea war und mich unter einem Mönch namens Byok Jo Sunim schulte, der einer der denkwürdigsten Menschen war, denen ich je begegnet bin. Er glühte geradezu innerlich und strahlte die Freude aus, die die Übung ihm brachte. Er war außerordentlich liebevoll und besaß einen wunderbaren Sinn für Humor – und er war ein totaler Analphabet. Er konnte nicht einmal seinen Namen schreiben.

Während ich mich eines Tages mittels eines Dolmetschers mit ihm unterhielt, stellte ich fest, daß er glaubte, die Welt sei eine flache Scheibe. Ich war perplex und beschloß natürlich, ihn aufzuklären. Ich ging zu meinen Schulkenntnissen in den Naturwissenschaften zurück und brachte all die klassischen Argumente vor: Wenn die Welt flach ist, wie können wir sie dann umsegeln? Wie kommt es, daß ein Schiff nicht über den Rand fällt? Er lachte einfach nur. Er war unerbittlich. Ich kam bei ihm einfach nicht an.

Schließlich sagte er: „Okay. Vielleicht habt ihr Westler recht. Ich bin nur ein alter Mann, der nicht lesen und nicht schreiben kann. Die Welt ist rund, und du weißt das, und ich bin zu dumm, um es zu kapieren. Aber hat dieses Wissen euch irgendwie glücklicher gemacht? Hat es euch geholfen, eure Lebensprobleme zu lösen?“

Tatsächlich hat es das nicht. Es hat uns bei unseren Problemen überhaupt nicht geholfen. Kein Wissen hat uns dabei geholfen.

Bei allem, was wir gelernt haben, haben wir Menschen nicht einmal das Problem des Zusammenlebens gelöst. Wir haben unglaubliche Technologien, die uns in Kontakt mit Menschen auf der anderen Seite der Erde bringen können, aber wir wissen nicht, wie wir mit den Menschen in unserer Nachbarschaft, ja nicht einmal mit denen in unserem eigenen Haus auskommen sollen.

Ein Teil unserer Kultur steigt rasant schnell in den Himmel auf, und ein anderer Teil hat kaum das Kriechen gelernt. Wir sind in einer Illusion gefangen, einem wunderbaren Zaubertrick, der uns vorgaukelt, daß die Dinge, die wir produzieren, uns glücklich machen werden. Wir sind nicht nur selbst das Publikum für diesen Trick, sondern wir sind auch die Zauberer. Wir haben uns selbst etwas vorgemacht.


Wir müssen viel tiefer in unseren Geist hineingehen. Es ist, als wären wir von weiten Feldern und fruchtbarem Boden umgeben, soweit das Auge reicht, hätten aber nur ein winziges Stück davon bebaut. Wir haben auf diesem winzigen Fleckchen Wunderbares geleistet, aber wir müssen noch sämtliche Felder darum herum erforschen. Wir müssen von all dem Bauen und Tun, dem Kommen und Gehen, von dem Reden und Denken und Lesen und Schreiben wegkommen.

(aus Larry Rosenberg, Mit jedem Atemzug, Arbor Verlag, Freiamt, 2. Auflage 2007, S. 256 ff.)