Mittwoch, 10. Dezember 2014

Anregungen zu einer Psychoanalyse des europäischen „Rechtsrucks“

Der Ausgang der Europawahl vom Mai 2014 hat die Frage nach den Wurzeln „rechter“2 Bewegungen und Ideologien mit neuer Schärfe aufgeworfen. Die Entwicklung in der Ukraine belegt einmal mehr, dass faschistoide Gruppierungen auf unserem Kontinent „hoffähig“ sind. In Deutschland kontinuierlich vorgenommene Untersuchungen zum – in der „Mitte“ der Bevölkerung verankerten – Rechtsextremismus ergeben seit Jahren bedenkliche Resultate.3 An den Forschungen der Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler Erich Fromm (1900-1980) und Wilhelm Reich (1897-1957) anknüpfend, lassen sich dafür Erklärungen finden, die über die üblicherweise angeführten Faktoren4 hinausgehen und deshalb in die laufenden Diskussionen einbezogen werden sollten. 

Fromm und Reich über den Nationalsozialismus

Ab 1929 widmete Erich Fromm den psychischen Strukturen deutscher Arbeiter und Angestellten eine empirische Untersuchung. Diese zeigte, dass „die in Parteien und Gewerkschaften erzogenen Arbeiter trotz ihrer revolutionären Bekenntnisse nicht jenen Widerstand gegen ein autoritäres und diktatorisches Regime verkörperten, den man ihnen gern zuschrieb und von dem die Arbeiter selbst überzeugt waren.“5 Was sie tatsächlich kennzeichnete, war ein massenhaftes Bedürfnis nach autoritärer Führung – bester Nährboden für jenen Machtwechsel, der bald folgen sollte.6

Zur gleichen Zeit arbeitete auch Wilhelm Reich daran, die Wurzeln „rechter“ Bewegungen aufzudecken.7 Im Spätsommer 1933 veröffentlichte er, nun im dänischen Exil, seine Massenpsychologie des Faschismus – ein Buch, das bis heute in der psychoanalytischen Literatur seinesgleichen sucht.8 Ausgangspunkt waren u.a. Reichs gestiegene „Zweifel an der marxistischen Grundauffassung des gesellschaftlichen Geschehens“.9 Dass sich Werktätige millionenfach entgegen ihren angeblich „objektiven“ Klasseninteressen verhielten, indem sie „rechte“ Parteien wählten, sei mit Marx nicht mehr zu erklären. Nicht nur, dass sich materielles „Sein“ in Bewusstsein umsetzt, müsse berücksichtigt werden, sondern auch, wie das geschehe, wie dieses Bewusstsein dann auf äußere Vorgänge zurückwirke – und welche unbewussten Prozesse abliefen. Dazu sei die Psychoanalyse vonnöten.10

„Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind“, schrieb Reich zu Beginn seines Buches, „aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen.“11 Eine dieser Stärken sei, dass Hitler bewusste, vor allem aber unbewusste und neurotische Vorstellungen von Millionen Deutschen in zugespitzter Weise verkörperte und ausleb- te: „Nur dann, wenn die [psychische – A.P.] Struktur einer Führerpersönlichkeit mit massenindividuellen Strukturen breiter Kreise zusammenklingt, kann ein ‚Führer‘ Ge- schichte machen.“12 Grundlage dafür sei eine in wesentlichen Punkten übereinstim- mende Sozialisierung, der Führer wie Geführte ausgesetzt gewesen waren: Als Kinder durchliefen sie zunächst „den autoritären Miniaturstaat der Familie, [...] um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein.“13 Je „hilfloser das Massenindividuum aufgrund seiner Erziehung“, desto intensiver werde der Wunsch nach einem – autoritären – Ersatzvater,14 mit dem es sich identifizieren könne. Statt sein „völliges Herabsinken“ zur „kritiklosen Gefolgschaft“ wahrzunehmen, fühle es sich als „kleiner Hitler“.15

Als Erich Fromm 1941 in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit als erster Psycho- analytiker nach Reich öffentlich gegen den Faschismus Stellung bezog, formulierte er ähnliche Thesen.16 „Der Nazismus“, insbesondere die Tatsache, „dass er ein ganzes Volk erfasst hat“, sei „ein psychologisches Problem“, das jedoch „aus den sozioökonomischen Faktoren“ abgeleitet werden müsse. „Hitlers Persönlichkeit, seine Lehren und das Nazi-System“ seien extreme Ausformungen des „autoritären“ Charakters, wodurch Hitler „jene Teile der Bevölkerung so stark ansprach, die – mehr oder weniger – die gleiche Charakterstruktur besaßen.“17

Das sind zum einen Gegenpositionen zu allen Auffassungen, die Hitlers angeblichem Charisma die ausschlaggebende Bedeutung für seinen Erfolg beimessen. Wäre es nicht Hitler gewesen, hätte sich – die gegebenen Rahmenbedingungen vorausgesetzt – mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ähnlich strukturierter Psychopath als umjubelter „Führer“ gefunden. Fromm sollte später schreiben: „Unter uns gibt es Hunderte von Hitlern, die hervortreten würden, wenn ihre historische Stunde gekommen wäre.“18

Zum zweiten widerlegen diese Einsichten die ab 1945 immer wieder gern gebrauchte Floskel „Hitler war an allem Schuld“: Ohne die auf ihn setzenden Fanatiker und das Millionenheer der Mitläufer wäre Hitler der politisch orientierungs- und bedeutungslose Niemand geblieben, der er erwiesenermaßen19 bis 1919 war. Die hinter ihm stehenden Drahtzieher aus Politik und Wirtschaft hätten zudem niemanden gefördert, der nicht bei den Massen ankam.
mehr:
- Anregungen zu einer Psychoanalyse des europäischen „Rechtsrucks“ (Andreas Peglau, Fromm-Gesellschaft, 2014)

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