Donnerstag, 13. Juni 2013

Die Seele als Maschine, der Therapeut als Klempner: Das AOK - Behandlungsprogramm Depression und Burn - out

Burn-out ist in aller Munde. Und wenn etwas in aller Munde ist, dann gibt es das natürlich auch. Vor einigen Jahren haben die Psychotherapeuten versucht, den Begriff »Hysterie« durch »histrionisch« zu ersetzen, weil der Hysterie-Begriff negative Assoziationen wecke. Dazu der bekannten Psychiater Stavros Mentzos:

Hysterie stammt aus dem griechischen Wort hystera (= Gebärmutter). In der Antike glaubte man vielfach, dass die hysterischen Symptome mit einer Austrocknung der Gebärmutter in Zusammenhang stehen. Aber auch unabhängig davon brachte man bis zum 18. Jahrhundert das Hysterische (was man nur bei den Frauen zu erkennen glaubte) mit der Gebärmutter in Zusammenhang. In der naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts wurden solche Vorstellungen obsolet, man glaubte nun zu wissen, die Hysterie sei eine neurologische Erkrankung. Erst um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde in der Psychoanalyse durch die psychogenetischen Studien Freuds die Dynamik des Leidens entdeckt. Die Termini »Hysterie« oder »hysterische Neurose« waren noch bis in die 1960er Jahre nicht nur innerhalb der Psychoanalyse, sondern auch in vielen psychiatrischen Lehrbüchern eine gelegentlich benutzte diagnostische Kategorie, obwohl der Terminus »hysterisch« oft durch »psychogen« ersetzt wurde und obwohl schon nach dem Ersten Weltkrieg die »Hysterie« bei den Psychiatern zunehmend in Misskredit geraten war (vgl. Mentzos, 1980/2004), und zwar deswegen, weil inzwischen Hysterie auch bei Männern häufiger zu beobachten war (etwa als »Zitterer-Syndrom« bei den Soldaten) – eine für die Männer unangenehme Feststellung.


Das Wort stammt ursprünglich aus dem griechischen oistros, was eigentlich »Brunst« bedeutet. Aus dem griechischen oistros ist schon vor längerer Zeit das Wort »Östrogen« abgeleitet worden. Der Versuch also, das Hysterische vom Weiblichen (hystera = Gebärmutter) abzukoppeln – dies war einer der Gründe der Umbenennung –, ist misslungen. In dem Bemühen, von der Gebärmutter wegzukommen, geriet man zu den weiblichen Hormonen! Diese terminologische Panne ist offenbar in der internationalen Literatur noch nicht bemerkt worden.
Stavros Mentzos, Lehrbuch der Psychodynamik, S. 164, Fußnote



Es geht hier nicht um Hysterie, sondern um Sprache, deren Verwendung und Funktion. Man hat den Hysterie-Begriff abzuschaffen versucht, weil er unangenehme Assoziationen weckt. An diesem Begriff läßt sich sehr gut festmachen, wie der erst einmal gutgemeinte Versuch der Begriffs-Vermeidung zum Rohrkrepierer wird.

Wer eine Depression hat, kriegt bestimmte Dinge nicht mehr auf die Reihe und ist psychisch erkrankt. Umgangssprachlich hat der psychisch Erkrankte einen an der Waffel. Das ist doppelt kränkend, da zur psychischen Erkrankung die gesellschaftliche Stigmatisierung hinzukommt. Wenn der Depressive aber vorher malocht hat wie ein Blöder oder gemobbt worden ist oder vom Arbeitgeber behandelt und dann weggeworfen wurde wie ein Putzlappen, dann ist das nicht mehr so schlimm, weil dann entweder gesellschaftlich akzeptierte Persönlichkeitsanteile (wie blöde arbeiten) oder gesellschaftlich gemeinsam als moralisch verwerflich empfundene Vorgänge (Ausbeutung) am Ausbruch einer psychischen Störung beteiligt sind. 

Das Ersetzen des Begriffs »Depression« durch »Burn-Out« impliziert einen gesellschaftlich akzeptierten Auslöser für die psychische Erkrankung der Depression. (Jede Neurose hat einen Auslöser!) Es ist also gesellschaftlich weniger stigmatisierend, unter einem Burn-Out zu leiden als unter einer Depression. Über Depressionen, Eßstörungen, Zwangsstörungen, Borderline-Störungen (jede Menge Störungen – wieder so ein stigmatisierender Begriff) berichtet die Bild-Zeitung – es sei denn es handelt sich um bekannte Fußballer oder Skispringer – nicht. (Wer sich intensiver für den Burn-out-Begriff interessiert, sollte nach »burn out gibt es nicht« googeln.)

Je häufiger aber in den Zeitungen über psychische Erkrankungen berichtet wird, desto größer ist die Gefahr, daß über die Versorgungssituation der psychisch Erkrankten berichtet wird. Und dann kommen Fakten auf den Tisch wie die Wartezeiten auf eine Behandlung, das Einkommen oder das Durchschnittsalter deutscher Psychotherapeuten. Alles Dinge, die geneigt sind, die verzweifelten Versuche der Standortsicherung Deutschland durch Deckelung der Kosten im Gesundheitswesen infrage zu stellen.

Aus diesem Grund ist Vorwärtsverteidigung angesagt. Vor wenigen Wochen gab es einen Vorschlag der Techniker Krankenkasse, die Zahl der Kurzzeitpsychotherapie-Stunden von 25 auf 15 Stunden zu verringern. Damit hätte sich auf einen Schlag die Zahl der gesamtgesellschaftlich zur Verfügung stehenden Kurzzeitpsychotherapie-Stunden um 40 Prozent erhöht. (Ich bin gespannt, wie sich der TK-Vorschlag entwickeln wird.) Ein anderer Versuch der Mängel-Verwaltung ist das durch die AOK aufgelegte »Behandlungsprogramm Depression und Burn-out«.

Die in diesem Programm ausgelobte »Stabilisierungspauschale« besagt, dass der innerhalb dieses Vertrags behandelnde Psychotherapeut dann 50 Euro zusätzlich bekommt, wenn er die Behandlung innerhalb von maximal zehn Behandlungseinheiten (incl. der Erst- und Vorgespräche) abschließt und am Ende dieser Ultrakurzzeitbehandlung der davor wegen Depressionen krankgeschriebene Patient in den folgenden sechs Monate mit dieser Diagnose nicht erneut arbeitsunfähig sowie nicht erneut psychotherapeutisch behandelt wird.

Dieses ganze AOK-Behandlungsprogramm sagt viel über die Sichtweise und die Kompetenz der AOK-Bosse aus: Eine Maschine hat eine Störung, und der Spezialist dreht an einigen Schräubchen oder Rädchen, und wenn er das gekonnt und schnell auf die Reihe kriegt, erhält er 50 Euro. (Übrigens gibt’s das Programm und das Geld nur für arbeitende AOK-Mitglieder, also zum Beispiel nicht für HARTZ-IV-Empfänger.) Das Programm beinhaltet, daß die Psychotherapeuten ein wenig mehr arbeiten (drei Stunden in der Woche zusätzlich) und dann ein signifikanter Teil der Patienten nach zehn Wochen wieder zu arbeiten imstande ist. Ich erspare sowohl mir auch dem Leser eine genauere Darlegung, wie nach Meinung der AOK-Oberen die Seele funktioniert und was wir Psychotherapeuten tun. (Ich habe zum Beispiel einen Patienten mit »Burn-out«, der drei Jahre lang von seinem Vorgesetzten gemobbt wurde, bis er in die Knie ging. Dieser Patient konnte nach 20 Stunden Therapie etwas mit dem Begriff »Gefühle« anfangen.)

Wir sind in unserem real existierenden Raubtierkapitalismus mit seinen Rettungsschirmen, der Globalisierung, der Dauerarbeitslosigkeit, der Alternativlosigkeit und der Flickschusterei im Gesundheitswesen nach der Privatisierungswelle jetzt bei der Mechanisierung der Psychotherapie angekommen. Vor wenigen Jahren hat einer meiner Standesvertreter in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Psychotherapie mit Nahrungsergänzungsmitteln wie Vitamin-Präparaten verglichen. Jetzt glaubt die Chef-Etage der größten deutschen Krankenkasse, es wäre möglich, einen an einer Depression Erkrankten binnen zehn Stunden wieder zurecht zu therapieren, damit er weiter arbeiten kann. Da frage ich mich, was die Leute denn glauben, was ich den ganzen Tag hier tue: dumm rum labern, bis bei dem, der einen an der Waffel hat, endlich der Groschen fällt? Diese weitverbreitete Ignoranz und Dummheit empfinde ich als extrem ärgerlich.


Ein Leserbrief des Kollegen Daiger aus Oldenburg im Deutschen Ärzteblatt:

Leserbrief zum Thema: „Schnelle Hilfen. Neue Wege bei der Behandlung von Depressions- und Burnout-Patienten“ – Niedersächsisches Ärzteblatt, April 2013, S. 35-37

Ich habe an der Präsenzschulung des AOK-Behandlungsprogramms „Depression und Burnout“ am 24.05.2013 in Oldenburg teilgenommen. Obwohl der Vertrag zwischen KVN und AOKN mit Unterstützung des Deutschen Hausärzteverbandes - Landesverbände Niedersachsen und Braunschweig – sowie dem Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN) angesichts der Zunahme von psychischen Erkrankungen sowie langer Wartezeiten bei Nervenärzten und Psychotherapeuten sicherlich sinnvoll ist, ist der Vertrag aus meiner Sicht unbefriedigend. Ich möchte einige Kritikpunkte äußern.

1.) Der Vertrag wird von keinem einzigen ärztlichen oder psychologischer Psychotherapeutenverband unterstützt (VPK, BVVP, BDP, DPtV).

2.) Nur AOK-Patienten, die eine Arbeit haben, werden berücksichtigt. AOK-Patienten, die Hartz IV beziehen, werden nicht berücksichtigt und werden im Sinne einer Zwei-Klassen-Medizin benachteiligt.

3.) Ärgerlich ist, dass das Honorar an Erfolge geknüpft ist. Die Stabilisierungspauschale von 50.- € wird nur ausbezahlt, wenn nach maximal 10 Sitzungen Arbeitsfähigkeit besteht, der Patient 6 Monate gesund sowie arbeitsfähig bleibt und keine Richtlinientherapie beantragt ist bzw. durchgeführt wird. (Kein Rechtsanwalt verliert seinen Honoraranspruch, wenn er einen Prozess verliert.) Bei Patienten mit z.B. einer schweren depressiven Episode ohne/mit psychotische/n Symptome/n (F32.2/F32.3) oder einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne/mit psychotische/n Symptome/n (F33.2/F33.3) sind sicherlich 10 Sitzungen nicht ausreichend, um die Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen. 

4.) Ärzten und Psychotherapeuten wird zusätzliche Büroarbeit aufgebürdet (KVN-Terminmanagementstelle mit Zusteuerung innerhalb von 14 Tagen, Patientenfragebogen PHQ-9, verschiedene Module, Eingabe- und Dokumentationsmasken im KVN-Portal, Datenerfassung innerhalb einer Woche, Unterscheidung, ob eine Sitzung vor oder nach 18 Uhr stattfindet usw.)

5.) Herr Barjenbruch äußert im Nds. Ärzteblatt (April 2013, S. 36), dass die teilnehmenden Fachärzte und Psychotherapeuten sich bereit erklären werden, Überstunden zu leisten. Ich frage mich, welche Behandler, die sowieso schon Überstunden machen, noch mehr Überstunden machen werden. Herr Barjenbruch äußert sich leider nicht dazu, was passiert, wenn die Behandler infolge der Überstunden selbst ein Burnout bekommen.

6.) Die Dokumentation im KVN-Portal (Webanwendung) ist zwar transparent und vermeidet Doppel- und Mehrfachuntersuchungen, ist aber unter Gesichtspunkten des Datenschutzes kritisch zu hinterfragen. Was ist, wenn ein AOK-Patient nicht möchte, dass seine Daten in Bezug auf sein Burnout oder seine depressive Erkrankung im Internet zu finden sind? Darf er dann an dem AOK-Behandlungsprogramm nicht teilnehmen? Es wäre sicherlich klüger gewesen, wenn die KVN mehr Nervenärzte und Psychotherapeuten zulassen würde, anstatt so einen Vertrag mit der AOKN abzuschließen. Sie trägt damit zur Zerstückelung der nervenärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung bei. Bei ähnlichen Verträgen mit z.B. BARMER, DAK, TK usw. würde die Zerstückelung weiter zunehmen.


Der Ausschuß für Berufsordnung und Berufsethik der Niedersächsischen Psychotherapeutenkammer hat den AOK-Vertrag scharf kritisiert. Die ausführliche Stellungnahme findet sich hier.

Eine Gesellschaft, die die menschliche Seele dermaßen geringschätzt, ist krank.

siehe aber auch:
- Es ist nicht alles burnout (Reinhard Lütjen, FH Kiel, 2012)