Montag, 28. September 2009

Das schlecht informierte Walroß

„Wie läuft’s dort unten?“, bellte das Alte Walross von dem großen Felsen hinunter, auf gute Nachrichten wartend. Dort konferierten die jüngeren Walrosse. Es lief nicht gut, aber niemand wollte dem Alten Mann die schlechten Nachrichten überbringen. Er war das größte und klügste Walroß der Herde und verstand sein Geschäft, aber sie wollten nicht seine Stimmung vermiesen.

„Was sagen wir ihm?“, flüstere Basil, sein Stellvertreter. Er erinnerte sich noch, wie der alte Mann raste, als er ihm einst von dem schlechten Heringsfang berichtete, und er hatte keine Lust, dies erneut zu erleben. Der Wasserstand fiel zuletzt kontinuierlich, und es war angesichts der schwindenden Heringe notwendig geworden, weiter zu ziehen. Jemand sollte es dem Alten sagen. Aber wer? Und wie?

Schließlich wagte es Basil: „Es läuft sehr gut, Boss.“ Der Gedanke an den sinkenen Wasserpegel lastete schwer auf ihm, aber er fuhr fort: „Es scheint, als ob der Strand immer größer zu werden scheint.“ Der alte Mann grunzte: „Fein, das gibt uns ein wenig mehr Spielraum.“
Der nächste Tag brachte weitere Probleme. Eine neue Walrossherde war in die Bucht gekommen, und angesichts der Heringsknappheit konnte dies gefährlich werden. Niemand wollte es dem Boss sagen, obwohl er der einzige war, der die notwendigen Maßnahmen hätte ergreifen können. Basil ging zu ihm: „Oh, übrigens Boss, wir haben eine neue Herde auf unserem Gebiet.“ Der Alte Mann erschrak, und er füllte seine Lunge für einen gewaltigen Brüller. Basil, eilig: „Natürlich erwarten wir keine Probleme. Sie sind keine Heringsfresser wie wir. Sie sind eher an den kleineren Fischen interessiert. Und wie Du weißt, machen wir uns ja nichts aus denen.“ Der Alte Mann seufzte: „Gut, warum sollen wir uns dann darüber aufregen…“

Es lief auch fortan nicht gut. Eines Tages bemerkte der Alte Mann, daß ein Teil der Herde zu fehlen schien. Er rief seinen alten Weggefährten zu sich und raunte gereizt: „Was geht hier vor sich, Basil? Wo sind sie alle?“ Der arme Basil hatte nicht den Mut, dem Alten Mann zu sagen, daß sich viele der jüngeren Walrosse der neuen Herde angeschlossen hatten. Nervös räuspernd sagte er: „Nun, Boss, wir haben die Zügel ein wenig angezogen, ‚totes Holz’ losgeworden. Schließlich ist eine Herde nur so gut wie die Walrosse in ihr.“ „Man muß den Laden im Griff haben“, grunzte der Alte Mann. „Schön zu hören, daß alles so gut läuft.“ Nicht lange, und jeder außer Basil hatte sich der neuen Herde angeschlossen. Basil wußte, daß es Zeit war, dem Alten Mann die Wahrheit zu sagen. Angsterfüllt, aber entschlossen wagte er sich auf den großen Felsen. „Chef, ich habe schlechte Nachrichten. Der Rest der Herde hat uns verlassen.“ Das Alte Walross war so erstaunt, daß er nicht einmal einen Brüller rausbrachte. „Mich verlassen? Alle weg? Aber warum? Wie konnte das passieren?“ Basil hatte nicht den Mut, es ihm zu sagen, und so zuckte er nur hilflos mit den Schultern. „Ich kann es nicht verstehen“, sagte das Alte Walross. „Gerade jetzt, wo alles so gut lief.“

Ursprünglich in der Management Review 1974, zitiert nach M.E.G.A.Phon 42/2009